Ein durchgängiges Radverkehrsnetz ist in den meisten Städten eine Ausnahme. Karl Grünberg vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) Berlin spricht über den Kulturkampf auf der Straße und was es braucht, damit Radfahren Spaß macht.
Herr Grünberg, das Leitbild des Berliner Radverkehrsplans lautet: „Es sollen mehr Menschen mit dem Rad fahren und sie sollen sicherer unterwegs sein und sich dabei auch sicherer fühlen.“ Bringt es das auf den Punkt?
Definitiv. Es braucht mehr Radwege. Und es müssen solche sein, bei denen die Menschen sich sicher fühlen. Wir sind sehr für geschützte Radwege, was bedeutet dass diese baulich vom Auto- und vom Fußverkehr getrennt sind. Zum Beispiel durch Poller, die in Abständen stehen, damit die drei Verkehrsarten sich nicht in die Quere kommen.
Insgesamt wollen wir einen Radverkehr, der für alle Sicherheit verspricht. Sowohl für sportliche Radfahrer, die häufig sicherer im Verkehr unterwegs sind, also auch für Rentner und Kinder. Kinder ab zehn Jahren dürfen nicht mehr auf dem Bürgersteig, sondern müssen auf der Straße fahren, wenn es keinen Radweg gibt. Das ist unvorstellbar, wenn da die Autos und Lkw mit 50 vorbeirasen.
Wie bewerten Sie den Ist-Zustand der Radwege in Berlin?
Das ist eine schwierige Frage, weil es an vielen Ecken unterschiedlich ist. Es gibt Orte, an denen es sich gut fahren lässt, wie zum Beispiel auf Fahrradstraßen, wo man durchaus bis zu vier Kilometer sicher fahren kann. Und dann gibt es wiederum Orte, wo es gar keinen Radweg gibt. Mancherorts gibt es Radwege, die in Baustellen enden. Durchgehend sicheres Fahren ist leider immer noch eine Ausnahme. Es ist ein Flickenteppich mit vielen Löchern.
Was wäre eine Antwort in Zahlen?
Der Radverkehrsplan sagt, dass wir bis 2030 2.700 Kilometer Radnetz brauchen. Dazu zählen der Fahrradweg, der Fahrradstreifen, die Fahrradschnellstraße, die Fahrradstraße. Und davon sind in fünf Jahren bisher 135 Kilometer gebaut worden. Der Plan war, dass das pro Jahr sukzessive mehr wird. Wir hängen aber in den letzten Jahren schon extrem hinterher. 2023 sollten 60 Kilometer im Radnetz gebaut werden, wir sind bei 23. Dieses Jahr sollen es 100 Kilometer sein. Die Senatorin hat aber bereits angekündigt, dass sie froh ist, wenn es 60 oder 70 werden. Aktuell werden aber nur die 30 Kilometer realisiert, die aus dem letzten Jahr übrig geblieben sind. Dazu kommt ein aktueller Finanzstopp für neue Radwege. Da sieht man, was für einen Stellenwert das Ganze hat.
Zurück zum Flickenteppich. Worauf ist der zurückzuführen?
Das liegt an der historischen Entwicklung und dass die Innenstadt autozentriert gebaut wurde. Das heißt, die Bauweise ist den Belangen des Autoverkehrs unterworfen. Es gibt seit ein paar Jahren ein Umdenken, bei dem das Auto nicht mehr im Fokus steht. Aber das wird von der Einstellung blockiert, dass man mit dem Auto überall ankommen können muss. Das Fahrrad wird als Sportgerät wahrgenommen, das man im Wald benutzt. Es muss aber als Verkehrsmittel der Wahl angesehen werden, womit die Menschen zur Arbeit, zur Uni und zur Schule fahren.
Also gibt es nur entweder Rad oder Auto?
Das Problem ist, dass die Politik für die Autofahrenden gemacht wird. Viele betrachten das Recht Auto zu fahren als ein von Gott gegebenes Recht. Sie denken, dass der Platz selbstverständlich den Autos gehört. Wenn Fahrradfahrende einen kleinen Teil von der Straße haben wollen, wird das gleich als ein Angriff auf die Kultur des Autofahrens verstanden. Es ist total schade, dass daraus so ein Kulturkampf gemacht wird. Es muss sich dahingehend etwas verändern, dass Politik für das Fahrrad und den Fußgänger gemacht wird. Verkehr sollte vom schwächsten Verkehrsteilnehmer aus gedacht werden. Der Perspektivwechsel ist total wichtig, damit die Leute aus dem Auto auf das Fahrrad kommen und sehen wie sich Verkehr auf dieser Seite anfühlt. Und es ist total wichtig, dass sie Spaß am Fahrradfahren gewinnen.
Was hindert sie daran?
Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Lust am Fahrradfahren gewinnt man, wenn die Infrastruktur dafür da ist. Ich kann keinen Spaß empfinden, wenn ich mich ständig in Lebensgefahr begebe. Also brauche ich einen guten Radweg. Damit gute Radwege gebaut werden, müssen aber genügend Gefahrensituationen mit Radfahrern vorliegen. Nur so lässt sich der Bau eines Radweges begründen. Das heißt, die Leute steigen nicht aufs Rad, weil es ihnen zu gefährlich ist. Es wird aber auch kein Radweg gebaut, weil zu wenig Radfahrer da sind, um das an dieser Stelle zu rechtfertigen.
Warum herrscht im deutschen Straßenverkehr so ein Konkurrenzdruck?
Das ist eine große gesellschaftliche Frage. Zum einen leben wir in einer Gesellschaft, die gerade mehr in Richtung gegeneinander geht. Leute haben weniger Verständnis füreinander und nehmen weniger Rücksicht. Diese Grundstimmung wird natürlich im Straßenverkehr ausgelebt. Und dann ist da natürlich die historisch gewachsene Tatsache, dass der Autoverkehr bevorzugt wird. Und auf einmal gibt es mehr Fahrradfahrer und Fußgänger in der Stadt, die auch in Sicherheit sein wollen. Da kommt es zu Reibereien. Wir werden es nicht vermeiden können, Platz von Autos für Fußgänger und Radverkehr umzuwidmen. Die Stadt wächst, weil immer mehr Menschen zuziehen. Es gibt einfach nicht genug Platz in der Stadt.
Welchen Nutzen hatte das Mobilitätsgesetz, das 2018 verabschiedet wurde?
Mit dem Gesetz wollte die Politik im Grunde die Weichen dafür stellen, dass Radwege auf die Straße kommen, damit mehr Leute Rad fahren. Ein Problem von vielen: Ein Radweg wird nur gebaut, wenn in den Bezirksämtern genügend Verkehrsplaner da sind. Noch dazu ist der Bau eines Radweges anscheinend furchtbar kompliziert, wenn alle Seiten beteiligt werden sollen. Die Bürokratie dauert unendlich lange. Für jeden Parkplatz, der wegfällt, muss ein Gutachten erstellt werden. Da muss schon ein Wille da sein.
Und dieser Wille ist trotz Gesetz noch nicht groß genug?
Letztes Jahr hat die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) den Radwegestopp verhängt. Es sollten viele Radwege gebaut werden, die bereits in Planung waren. Da fehlte quasi nur noch das Startsignal. Sie hat das alles gestoppt mit der Begründung, es müsse überprüft werden, ob die Pläne allen Belangen entsprechen, auch die der Autofahrenden. Das waren Radwege, die teilweise seit 2017 in Planung sind. Und deswegen waren die Leute auch so wütend. Sie kämpfen in ihren Kiezen für diese Radwege und haben sich darauf gefreut. Und dann kommt die Senatorin und stoppt alles. Das war wie ein Schlag ins Gesicht für die Menschen.
Haben Sie ein Vorreiterbeispiel im Kopf, das Sie als Modell empfehlen würden?
Mir persönlich hat es in Malmö in Schweden sehr gut gefallen. Da werden Rad- und Autoverkehr klar voneinander getrennt. Ich kann weite Strecken durch die Stadt fahren und auf meinem Radweg bleiben, ohne Autos in die Quere zu kommen. Es gibt viel weniger Aggression und es macht Spaß, Rad zu fahren. Man wird unter Kreuzungen hindurch geführt, das ist einfach paradiesisch.
Möchten Sie noch ein Plädoyer für das Radfahren abgeben?
Radfahren macht Spaß und ist gut für die Gesundheit. Darüber hinaus ist es eine Möglichkeit für Kinder, um selbstständig in die Schule zu kommen. Die Gesellschaft beschwert sich häufig über Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule fahren. Dabei ist es total wichtig für Kinder, alleine zur Schule zu kommen, mit dem Rad oder zu Fuß. Aber dafür braucht es auch die Sicherheit, den Zebrastreifen, die Ampel. Denn wir haben immer wieder schwierige Situationen, wo Kinder im Straßenverkehr sterben. Es gibt temporäre Schulstraßen, wo die Straße eine halbe Stunde vor Schulbeginn gesperrt wird, damit Kinder selbstständig sicher ankommen. Das halte ich für eine gute Sache.