2023 feierte Kelvin Kiptum beim London-Marathon seinen Durchbruch. Ein Jahr später ist er nicht mehr am Leben. Die diesjährige Ausgabe steht auch im Zeichen des bei einem Autounfall verstorbenen Weltrekordlers.
London zeigte sich wettertechnisch mal wieder von seiner berüchtigten Seite. Der leichte Fisselregen, der an jenem 23. April vor einem Jahr auf die Straßen der englischen Metropole niedersank, mag für manche Touristen der englischen Hauptstadt einen gewissen Charme haben. Doch für Marathonläufer ist er in der Regel Gift. Einen störte das nasskalte Wetter aber ganz offensichtlich nicht: Kelvin Kiptum. Der junge Kenianer lief wie entfesselt und mit einer schier unmenschlichen Leichtigkeit durch die Straßen Londons. Erst im Schlusssprint auf den letzten Metern sah man ihm die Strapazen an. Er biss auf die Zähne und quälte sich. Die Schritte noch immer kraftvoll, aber nicht mehr ganz so elegant. Nach einem kurzen Jubel beim Zieleinlauf ließ er sich völlig entkräftet auf den Asphalt fallen. Kiptum atmete minutenlang schwer. Nur mit viel Mühe kam er wieder auf seine wackeligen Beine, bereitwillig ließ er sich von einem Helfer in eine wärmende Wolldecke hüllen. Und dann huschte ein Lächeln über sein von Anstrengungen gezeichnetes Gesicht. 2:01,25 Stunden! Eine Siegerzeit, die alle Experten verblüffte. In seinem erst zweiten Marathonlauf fehlten Kiptum lediglich 16 Sekunden zum Weltrekord des großen Eliud Kipchoge, dem er aber immerhin den Streckenrekord für London abnahm. Fast allen war damals klar: Dieser Kelvin Kiptum wird schon sehr bald die schnellste Zeit über die traditionellen 42,195 Kilometer laufen. Und das tat er ein halbes Jahr später auch.
Mehr als 50.000 Starter werden erwartet
„Meine Vorbereitung war gut, alles lief sehr gut“, sagte der Kenianer hinterher bescheiden: „Das Geheimnis ist Training. Ich trainiere sehr viel.“ Und ganz offenbar ließ er sich auch von den Emotionen leiten. „Ich war sehr glücklich, nach London eingeladen worden zu sein. Ich liebe es, wie die Leute einen anfeuern“, sagte er damals: „Das hat mir viel Motivation gegeben. So konnte ich noch mehr Gas geben.“ Ohne Zweifel hätte er auch für die diesjährige Ausgabe des London-Marathons am 21. April eine Einladung von den Veranstaltern erhalten, schließlich war er durch seinen späteren Weltrekord beim Chicago Marathon endgültig zum neuen Superstar der Szene aufgestiegen. Doch vor zweieinhalb Monaten kam der Ausnahme-Leichtathlet bei einem Autounfall in seiner kenianischen Heimat ums Leben. Die diesjährige Ausgabe des City-Marathons in Englands Hauptstadt wird daher auch im Zeichen der Anteilnahme und der Würdigung des verstorbenen Kiptum stehen.
Mehr als 50.000 Starter werden erwartet, davon 43 Läufer und 20 Läuferinnen aus dem Elitebereich. Bei den Frauen sind alle Augen auf Weltrekordlerin Tigist Assefa aus Äthiopien gerichtet. Doch sie muss sich starker Konkurrenz erwehren: Das kenianische Trio Brigid Kosgei, Ruth Chepngetich und Tokio-Olympiasiegerin Peres Jepchirchir ist ebenso am Start wie die ebenfalls hoch eingeschätzte Äthiopierin Yalemzerf Yehualaw. Der Streckenrekord für Frauen von Großbritanniens Laufstar Paula Radcliffe (2:15:25) aus dem Jahr 2003 könnte fallen.
Vor allem Kosgei geht extrem motiviert an den Start, schließlich hatte Assefa im vergangenen September in Berlin ihren Weltrekord nicht nur gebrochen, sondern förmlich pulverisiert. Mit einer Siegerzeit von 2:11:53 Stunden war Assefa mehr als zwei Minuten schneller als die bisherige Rekordhalterin und sogar dreieinhalb Minuten schneller als Radcliffe bei ihrem besten Marathon. „Ich wollte den Marathon-Weltrekord brechen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine Zeit unter 2:12 Stunden werden würde“, sagte die Siegerin hinterher. Und die Experten fragten sich ähnlich wie bei Kiptum: Wie ist das möglich? Denn auch Assefa hat sich im Marathonsport nicht erst langsam an Spitzenzeiten herangetastet, sondern fast auf Anhieb in der Weltspitze Fuß gefasst. Schon bei ihrem zweiten Lauf über 42,195 Kilometer ein Jahr vor ihrem Weltrekord-Triumph war sie in Berlin in 2:15:37 Stunden sehr flott unterwegs gewesen.
Die Steigerung im Vergleich zu ihrer Marathon-Premiere im März 2022 von 19 Minuten macht manche Experten skeptisch. Ihr italienischer Manager Gianni Demadonna, der auch andere Topläufer vom afrikanischen Kontinent betreut, erklärte die Leistungssteigerung aber unter anderem mit einer deutlich besseren Fitness seines Schützlings. Im Jahr 2022 habe Assefa durch die coronabedingte Zwangspause noch ein paar Kilo zu viel mit sich rumgeschleppt. Überliefert wird – ähnlich wie bei Kiptum – ein enormer Trainingsfleiß der 27-Jährigen, die vor allem in der kenianischen Hochebene auf über 2.000 Metern Höhe ihr Pensum abspult. Betreut wird sie dabei von Startrainer Gemedu Dedefo aus Äthiopien, unter dem zuvor schon Ausnahmekönner wie Haile Gebrselassie und Kenenisa Bekele trainiert haben.
Diskussionen um Hightech-Schuhe
Ein großes Talent zum Laufen hatte Assefa immer. Schon als Teenagerin stieß sie auf der Bahn über 800 Meter in die erweiterte Weltspitze vor, doch die Straße war ihr schon früh lieber. Der Grund: Das Laufen in Spikes verursachte Probleme mit der Achillessehne. Diesbezüglich kommt Assefa die aktuelle Entwicklung von Hightech-Schuhen sehr gelegen. Nicht umsonst hat sie nach ihrem Weltrekordrennen ihrem Schuh einen Kuss gegeben. Assefa läuft mit einem ex-trem leichten Adidas-Schuh, dessen dicke Schaumsohle einerseits dämpfend, anderseits aber auch energieabgebend wirkt. Integriert ist zudem eine Carbon-Platte. Auch die Adidas-Konkurrenten haben längst sogenannte „Wunderschuhe“ aus Carbon und Schaumstoff auf den Markt gebracht, Kiptum lief zum Beispiel in Nike-Tretern zum Fabelweltrekord in Chicago. Unter den Sportartikelherstellen ist seit ein paar Jahren eine Materialschlacht ausgebrochen, der Kampf um die Kundschaft wird erbittert geführt. Denn natürlich wollen auch Hobby- und Freizeitläufer mit den Schuhen ihre Runden drehen, mit denen die großen Stars ihre Erfolge scheinbar so mühelos und elegant erreichen. Auch beim London-Marathon werden wieder etliche der 50.000 Starter in Hightech-Schuhen laufen.
Bei den Männern ist der Äthiopier Tamirat Tola der große Favorit, der 32-Jährige gewann im Vorjahr den New-York-City-Marathon und war beim oben beschriebenen Kiptum-Durchbruch als Dritter hautnah dabei. Seine ärgsten Rivalen sind auf dem Papier Mosinet Geremew (32), immerhin sechstschnellster Marathon-Mann der Geschichte (2:02:55) und der 27 Jahre alte Kenianer Alexander Mutiso Munyao, der im Vorjahr in Valencia mit einer Zeit von 2:03:11 Stunden auf sich aufmerksam gemacht hat. Aber wer weiß, vielleicht schießt auch einer der „jungen Wilden“ durch die Decke, die sich zuvor nicht auf der Bahn ihre Meriten verdient haben, sondern sich voll und ganz auf ihre Karriere auf der Straße konzentrierten. So wie Kelvin Kiptum. Der junge Kenianer, dem Experten zutrauten, als erster Mensch einen Marathon unter zwei Stunden zu laufen, kann durch seinen Unfalltod im Alter von nur 24 Jahren keine sportlichen Großtaten mehr leisten.
Kiptum war am späten Abend in Kaptagat gegen einen Baum geknallt und mit dem Wagen anschließend in einem Graben gelandet. Im Auto saß auch sein Trainer Gervais Hakizimana, der ebenfalls starb, sowie eine schwer verletzte Begleiterin. Kiptum erlag gemäß genaueren Untersuchungen seinen Kopfverletzungen. Doch bis zu einem konkreten Ermittlungsergebnis sollten noch die Proben mittels toxikologischer Gutachten ausgewertet werden. Denn der Fall warf zwischendurch Rätsel auf. „Es gab einige Leute, die vor ein paar Tagen kamen, um nach Kiptum zu suchen, aber sie weigerten sich, sich auszuweisen“, sagte Kiptums Vater Samson Cheruiyot kenianischen Medien unmittelbar nach dem Tod seines Sohns: „Ich bat sie, mir einen Ausweis vorzulegen, aber sie entschieden sich zu gehen.“ Bislang erhärtete sich der Verdacht eines Fremdeinwirkens – egal, welcher Art – jedoch nicht.
Trauer um Kiptum ist allgegenwärtig
Die Trauer um den frühen Tod eines so begnadeten Lauftalents erfasste auch dessen größten Rivalen. „Zutiefst traurig über den tragischen Tod“ sei er, äußerte Eliud Kipchoge über seine Social-Media-Kanäle. Kiptum sei jemand gewesen, „der ein ganzes Leben vor sich hatte, um eine unglaubliche Größe zu erreichen“. Kiptum hatte im Oktober in Chicago in 2:00:35 Stunden Kipchoges Bestmarke um satte 34 Sekunden unterboten und endgültig für eine neue Zeitrechnung in dem Sport gesorgt. „Ich war nicht überrascht, dass Kiptum den Weltrekord gebrochen hat“, sagte der 39-jährige Kipchoge und er betonte sogar: „Ich freue mich darauf, dass Rekorde gebrochen werden, weil ich ihnen den Weg gezeigt habe.“ Es sei ja „das Schöne am Sport“, wenn Rekorde gebrochen werden, meinte er: „Es zeigt, dass Menschen irgendwo arbeiten, sich Ziele setzen und auf diese Ziele hinarbeiten.“
Doch Kiptum kann die Grenzen des Marathons nicht weiter verschieben, er fällt als Konkurrent für Kipchoge und die junge Generation an selbstbewussten Läufern weg. Bei den großen City-Läufen, aber auch beim olympischen Marathon in Paris. „Es wird jetzt ein wenig anders“, meinte Kipchoge: „Die Erwartungen an das Rennen waren hoch.“ Er will nach 2016 und 2021 als erster Mensch zum dritten Mal in Folge Marathon-Gold gewinnen. Sein um 15 Jahre jüngerer Rivale wollte in Paris die Machtablösung auch in einem direkten Duell manifestieren. „Wir hatten uns darauf gefreut, ihn bei den Olympischen Spielen Paris 2024 in der olympischen Gemeinschaft willkommen zu heißen und zu sehen, was der schnellste Marathonläufer der Welt erreichen könnte“, sagte IOC-Präsident Thomas Bach, der sich genau wie Leichtathletik-Weltverbandspräsident Sebastian Coe erschüttert zeigte: „Ein unglaublicher Athlet hinterlässt ein unglaubliches Vermächtnis, wir werden ihn sehr vermissen.“