Drei Fragen
„Das Bürgergeld müsste steigen“
Der andauernde Streit um die Umsetzung der Kindergrundsicherung ist für den Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, beschämend.
Herr Schneider, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 25-jährigen Dienstjubiläum als Hauptgeschäftsführer, aber zum Feiern ist Ihnen vermutlich nicht zumute?
Naja, wir als Paritätischer Gesamtverband haben in dieser Zeit schon viel erreicht, aber die Zeit geht weiter. Wenn wir eine Forderung durchsetzen konnten, denken Sie da nur an den Mindestlohn, dann hatten wir schon wieder ganz andere Anforderungen. Jetzt liegt der Mindestlohn bei 12,41 Euro, er wurde um ganze 41 Cent erhöht, was einer Verhöhnung der Arbeitnehmer gleichkommt. Wir haben in den letzten 24 Monaten eine mehr als galoppierende Inflation gehabt. Jetzt müssten es mindestens 15 Euro pro Stunde sein, wenn die betroffenen Arbeitnehmer später tatsächlich eine Rente erhalten sollen, von der sie auch leben können.
Mindestlohn ist das eine, doch auch beim Bürgergeld gibt es für Sie erheblichen Verbesserungsbedarf. Ist das korrekt?
Nicht Verbesserungsbedarf, sondern eine gerechte, menschenwürdige Unterstützung. Menschen, die Bürgergeld beziehen, müssen eine realistische Chance haben, dass sie damit auch ihre monatlich festen Ausgaben bezahlen können. Derzeit liegt das Bürgergeld bei 562 Euro im Monat. Nach den Preissteigerungen müsste der Satz aber bei mindestens 813 Euro liegen. Das heißt, der Anspruch müsste um 44 Prozent ansteigen. Die derzeit regierende Ampelregierung, vor allem die FDP unter Finanzminister Lindner, lehnt dies aber weiterhin kategorisch ab.
Dazu kommt der Streit um die Kindergrundsicherung, die eingeführt werden soll. Ist der vorgesehene Satz gerecht?
Wer die Bezieher von Bürgergeld besserstellen will, muss selbstverständlich auch die Kinder insgesamt einbeziehen. Auch hier fordern wir 44 Prozent mehr Geld. Eine Kindergrundsicherung, die nicht eine Erhöhung in diesen Rahmen bekommt, hat ihren Namen nicht verdient. Das derzeitige Gezerre um die Umsetzung der Kindergrundsicherung ist für mich beschämend für unseren Sozialstaat. Jeder Euro in die Bildung der Kinder ist eine Investition in die Zukunft. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt derzeit in Armut. Kinder in Armut haben keine Perspektive. Doch Kinder müssen genau das vermittelt bekommen: Es lohnt sich, sich für ein besseres Morgen anzustrengen. Interview: Sven Bargel
Blitz-Evakuierung von Mietern in Berlin
Im Berliner Bezirk Schöneberg wurden innerhalb von einer Viertelstunde neun Mietparteien von der Feuerwehr aus ihren Wohnungen evakuiert, obwohl es gar nicht brannte. Doch morgens um 7 Uhr rumste es in dem Altbau erheblich, Putz rieselte von den Decken, Risse in den Wänden. Die Mieter glaubten an ein Erdbeben und alarmierten Feuerwehr und Polizei. Innerhalb von 15 Minuten mussten alle Mieter den Altbau verlassen, sie konnten nur das Notwendigste mitnehmen. Doch die Havarie der Standfestigkeit des vierstöckigen Eckhauses im Berliner Edel-Kiez kam mit Ansage. Erste Risse zeigten sich in den Wohnungen bereits vor zehn Jahren, immer mehr kamen im Lauf der Jahre dazu. Höhepunkt: Im Januar wies die Hausverwaltung die Mieter darauf hin, dass sie ihre Balkone wegen Einsturzgefahr nicht mehr benutzen dürfen. Warum das Haus derart abgesackt ist, bleibt weiterhin unklar. Direkt unter dem Haus verläuft eine U-Bahnstrecke und ein Hauptabwasserkanal. Bis mindestens Ende April dürfen die Mieter in ihre Wohnungen nicht mehr zurück.
Schwangerschaftsabbruch entkriminalisieren
Die Grünen wollen zukünftig einen Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche nach der Empfängnis straffrei machen. Bislang ist eine Abtreibung bis zur zwölften Woche ohne Strafverfolgung möglich, allerdings müssen Schwangere sich einer Beratung unterziehen und eine Bedenkzeit einhalten. Für die Grünen ist das eine Diskriminierung von Frauen, die sich ohnehin nach einer ungewollten Schwangerschaft in einer persönlichen Ausnahmesituation befinden. Die FDP in der Bundesregierung hat noch keine klare Position bezogen, auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) sieht innerhalb seiner Partei noch Beratungsbedarf. Die Union im Bundestag will das bisherige Verfahren für einen Schwangerschaftsabbruch beibehalten. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission hat in ihrem Bericht die Empfehlung abgegeben, einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen straffrei zu stellen.
Geschlechtseintrag einfacher ändern
Der Bundestag hat das Gesetz zur Selbstbestimmung angenommen. Damit soll es trans-, intergeschlechtlichen oder nichtbinären Menschen vereinfacht werden, ihren Geschlechtseintrag zum Beispiel im Personalausweis zu ändern. Grund für die Änderungen war, dass das Bundesverfassungsgericht das ursprüngliche Transsexuellengesetz teilweise für verfassungswidrig erklärt hatte. Zuvor waren Gerichtsbeschlüsse und zwei psychiatrische Gutachten für eine Änderung notwendig, die mit teils unangenehmen intimen Befragungen verbunden waren. Nun reicht in einem Alter ab 14 Jahren eine persönliche Erklärung mit Zustimmung der Sorgeberechtigten. Unter 14 Jahren müssen die Sorgeberechtigten diese Erklärung einreichen. Ab 18 Jahren reicht eine eigene Erklärung aus. Die Union kritisierte, dass ohne Beratung der Kinder- und Jugendschutz gefährdet sei. Die AfD bezeichnete das Gesetz als „ideologischen Unfug“.
Gesetzliche Grundlage für Wasserstoffnetz
Der Bundestag hat den Weg für ein Wasserstoff-Kernnetz freigemacht. Mit den Stimmen der Koalition soll die Finanzierung des Netzes mithilfe langfristiger Kredite für private Investoren angeschoben werden. Von den bereits existierenden 10.000 Kilometer Gasnetz seien 6.000 für den Wasserstofftransport geeignet, hieß es während der Debatte im Bundestag. Ein Großteil müsse also lediglich umgewidmet werden, sagte Michael Kruse, Energiepolitiker der FDP. Das Kernnetz, von dem aus Zuliefernetze in die Regionen und Unternehmen ausgehen sollen, soll bis zu 9.700 Kilometer lang werden und bis 2032, einzelne Teile bis spätestens 2037, fertig sein. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag kritisierte das Gesetz als „Operation am offenen Herzen”. Die AfD bezeichnete die Pläne als Humbug. Man habe schließlich Gas und verwies auf die hohen Energiepreise. Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck entgegnete, der Grund für die Preissteigerungen der vergangenen Jahre liege „östlich von uns und heißt Wladimir Putin”. Das Wasserstoffnetz mache Deutschland zukunftsfähig. Nun muss das Gesetz durch den Bundesrat.
Klima
„Unbegründete Sorge“
Bundesverkehrsminister Volker Wissing schreckte Deutschlands Autofahrer mit einer Ankündigung auf, die man von einem liberalen Politiker nicht erwartet hätte: Sonntagsfahrverbote für private Pkw. Halte der grüne Koalitionspartner weiter an den gesetzten Klimazielen für den Verkehr fest, könne er diese Vorgaben nur mit Fahrverboten an den Wochenenden erreichen. Die Aufregung bei den Grünen ist groß, „ein Minister sollte nicht unbegründet Sorgen bei den Menschen schüren“, sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Julia Verlinden. Es geht bei den angepeilten Klimazielen um das Sektorziel zu den Einsparungen im Verkehr, das deutlich verfehlt wird. Die Einhaltung wäre „nur durch restriktive und der Bevölkerung kaum vermittelbare Maßnahmen wie flächendeckende und unbefristete Fahrverbote an Samstagen und Sonntagen möglich“, schrieb Bundesverkehrsminister Wissing in einem Brief an die Ampel-Fraktionschefs im Bundestag.
„Mobilitätsnetzwerk Saarland“ gegründet
Gemeinsam mit den Verwaltungsspitzen von 17 saarländischen Kommunen, Landkreisen und dem Regionalverband Saarbrücken hat Mobilitätsministerin Petra Berg (SPD) das „Mobilitätsnetzwerk Saarland“ gegründet. Laut Pressemitteilung des saarländischen Umweltministeriums bündelt das Netzwerk Verwaltungsaufwand und Wissen und ermöglicht lokale Analysen und Bedarfsabfragen. So soll der Weg für lokale Mobilitätskonzepte geebnet werden, die nachhaltig und sozialverträglich sind. „Nur mit Engagement und Kreativität wird dort, wo Verkehr tatsächlich stattfindet, nämlich in den Gemeinden und Kreisen, die Mobilitätswende gelingen“, sagte Berg. Jede der 17 Pilotkommunen wird einen Mobilitätsmanager oder eine -managerin ernennen, die sich mit den Mobilitätsfragen der jeweiligen Region auseinandersetzt. Das Ministerium stellt bis 2030 rund 1,3 Millionen Euro für das neue Netzwerk zur Verfügung.
EU-Projekt: durch Praktikum in die Ausbildung
Wirtschaftsminister Jürgen Barke (SPD) ruft in einer Presseinfo zur Teilnahme an dem EU-Projekt „Einstieg durch Praktikum in Ausbildung“ (EduPA) auf. Ziel des Projektes ist es, jungen Menschen eine Ausbildungsperspektive zu eröffnen. „Gerade Ausbildungsberufe lassen sich am besten durch direktes Ausprobieren, Nachfragen und Erleben im Betrieb entdecken. Für die Unternehmen ist es eine große Chance, künftige Fachkräfte kennenzulernen und für sich zu gewinnen“, sagte Barke. EduPA-Coaches unterstützen Schülerinnen und Schüler im berufsvorbereitenden Schulsystem beim Bewerbungsverfahren für Praktikumsplätze und begleiten sie während ihres betrieblichen Praktikums. Das Projekt wird aus dem Programm des Saarlandes für den Europäischen Sozialfonds (ESF plus) gefördert. Bis zum 31. Mai können sich saarländische Maßnahmenträger für die Umsetzung an drei weiteren Berufsfachschulen bewerben.
Sanktionsdebatte nach Iran-Angriff auf Israel
Vertreter aller Parteien verurteilten die militärische Attacke des Mullah-Regimes in Teheran auf Israel scharf. Bundeskanzler Scholz (SPD), Bundesaußenministerin Baerbock (Grüne), Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) und Finanzminister Lindner (FDP) debattieren nun eine erneute Verschärfung von Wirtschaftssanktionen gegen den Iran. In der Unions-Opposition im Bundestag wird über eine intensivere militärische Unterstützung mit Waffen nachgedacht. Der Bundeswehrverband befürchtet eine weitere Eskalation der Situation im Nahen Osten, verweist aber darauf, dass weitere Waffenlieferungen an Israel die Bundeswehr überfordern könnten.
Elektrifizierung der Bahn zu langsam
Bis 2030 sollen 75 Prozent aller Bahnstrecken im Fern- und Regionalverkehr vollständig elektrisch betrieben werden können. Doch auf den Strecken, die der Regionalverkehr für die Personenbeförderung nutzt, sei man davon weit entfernt, sagt der Vorsitzende des Interessenverbandes Allianz Pro Schiene, Dirk Flege. Vor allem die Planungsverfahren, die mit den Kommunen abgestimmt werden müssen, seien weiterhin kompliziert. Die Bahn AG könne nicht über Länderinteressen hinweg entscheiden, die Länder müssten sich mit den Kreisen abstimmen. Dazu sei oftmals unklar, wer welche Kosten übernimmt.
Wiegands Wahl Watch
Auf dem Weg zur EU-Wahl
Harte Bandagen gehören zum Wahlkampf wie Ketchup zum Burger. Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind jedoch einer besonderen Herausforderung ausgesetzt: Social Media. Via Facebook, Instagram, Tiktok & Co. kann jedermann Stammtischparolen, Gerüchteköchelei und Hassbotschaften um die Welt schicken.
Um die schlimmsten Auswüchse einzudämmen, haben alle europäischen politischen Parteien – bis auf die Rechtspopulisten – einen freiwilligen Verhaltenskodex unterzeichnet. Damit verpflichten sie sich, „ethische und faire“ Wahlkampfpraktiken einzuhalten, keine irreführenden Inhalte zu produzieren, zu verwenden oder zu verbreiten. Dazu zählen auch Bilder und Videos aus Künstlicher Intelligenz.
Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourová, die in Brüssel das Ressort Werte und Transparenz leitet, beglückwünscht die Parteien für den Kodex. Er sei ein gutes Mittel, das Vertrauen der Europäer in den Wahlprozess zu stärken. Wahlen sollten die Bühne für den Wettbewerb der Ideen sein und „nicht für schmutzige Manipulationsmethoden wie KI-Deepfakes.“ Ob sich die Parteien und Kandidaten alle daran halten werden, bleibt abzuwarten.
Eines haben Europas Politiker indessen nicht geschafft: Die Einführung transnationaler Wahllisten. Darunter versteht man die Möglichkeit, nicht nur nationale Kandidaten ankreuzen zu können, sondern auch Bewerber aus jedem anderen der 27 EU-Mitgliedsländer. Die EU-Regierungen hatten dieser im EU-Parlament gewünschten Umsetzung des europäischen Miteinander-Gedankens einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Doch die Liberalen mit der FDP und die EU-Grünen wollen nicht lockerlassen. Sie haben das Ziel, grenzüberschreitende Wahllisten zur europäischen Wahl im Jahr 2029 durchzusetzen. Die Kleinpartei Volt hat schon gehandelt: Als erste und einzige Gruppe hat sie Kandidaten aus 20 verschiedenen Ländern unter demselben Programm und Namen auf nationaler und europäischer Ebene aufgestellt. Spitzenkandidaten sind der deutsche Europaabgeordnete Damian Boeselager (36) und seine niederländische Kollegin Sophie in’t Veld (61).
Zurück zu den Gefahren virtueller Wahlkampf-Kampagnen. Die Sicherheitsbehörden warnen davor, dass Parteien und Politiker so stark wie nie im Fokus von Hackern stehen. „Wir erwarten ein erhöhtes Angriffsaufkommen“ sagt ein Experte. Dazu gehören Phishingangriffe, also Versuche, Netznutzern vertrauliche Informationen wie Bankdaten zu entlocken. Mit dieser Beute können Desinformationskampagnen gestartet werden, um die öffentliche Meinung zu manipulieren.
Es ist kein Geheimnis, dass Russland versucht, die Europawahl mit einer Flut von Propaganda zu beeinflussen. Besonders gern verbreiten Trolle falsche Behauptungen über den Krieg in der Ukraine. So werden Flüchtlinge aus dem überfallenen Land als gewalttätige Kriminelle dargestellt oder das Team um Präsident Wolodymyr Selenskyj als korrupt beschrieben.
Solche Behauptungen sind unwahr, verfangen aber bei Gutgläubigen und stärken den Zuspruch für kremltreue nationalistische und populistische Parteien. Experten raten: Nicht alles glauben, was im Netz auftaucht, und genau hinsehen, wer der Absender ist.
Nächste Woche mehr.
Wolf Achim Wiegand ist freier Journalist mit EU-Spezialisierung.