Die Abstiegssorgen sind bei Union Berlin wieder groß – aber haben das auch alle verstanden? Der Trainer scheint da so seine Zweifel zu haben. Mit einem emotionalen Appell schwört er seine Spieler auf den Saisonendspurt ein.
Die Bayern kommen – eigentlich ist das immer ein Festtag im Stadion Alte Försterei. Für gewöhnlich freuen sich die Fans schon Wochen vorher auf das Duell David gegen Goliath, die Stimmung auf den Rängen ist dann noch prickelnder als sonst. Doch diesmal ist alles ein bisschen anders als in den vier Heimspielen zuvor seit Unions Bundesliga-Aufstieg 2019. Denn der Druck des Abstiegskampfs dämpft die Vorfreude enorm, die Aussicht auf dringend benötigte Punkte ist auch sehr gering. Angesichts der eigenen Schwächephase und der famosen Aufholjagd des FSV Mainz 05 ist fünf Spieltage vor Saisonende bei den Eisernen plötzlich wieder großes Zittern angesagt. Und wer beim Blick auf die Tabelle den Ernst der Lage nicht erkannt hat, dürfte es beim nicht zu überhörenden Weckruf von Nenad Bjelica getan haben. Zumindest ist das die Hoffnung des Trainers und der Club-Verantwortlichen.
„Wir sind dick im Abstiegskampf“, sagte der Kroate mit Nachdruck im Anschluss an das enttäuschende 0:2 beim FC Augsburg: „Wer das nicht versteht, hat bei Union nichts verloren.“ Nicht nur der Verbleib in der Bundesliga stehe auf dem Spiel, betonte Bjelica in drastischen Worten: „Es geht um alles, es geht um die Existenz. Dieser Verein muss in der Bundesliga bleiben, das müssen alle kapieren.“ Die Aussagen des Coaches lassen den Schluss zu, dass sich einige Profis angesichts des zwischenzeitlich gut gefüllten Punkte-Polsters zu den Abstiegsrängen zu sicher gefühlt haben. Doch damit soll spätestens jetzt Schluss sein. Bjelicas konkrete Forderung an das Team lautet: „Fünf Runden vor Schluss genug Punkte holen, um in der Liga zu bleiben. Aber das muss in die Köpfe.“ Und zwar nicht nur in die der Spieler, wie Bjelica betonte. Ihm ist das ruhige Umfeld des Bundesligisten aus Berlin-Köpenick in diesen Zeiten fast zu ruhig. „Das richtet sich nicht nur an die Mannschaft. Auch vielen Medien ist nicht bewusst, dass wir dick im Abstiegskampf sind“, sagte der Ex-Profi: „Da lese ich nur: Komfortzone. Das ist das Problem. Denn so spielen wir, wie eine Mannschaft, die in der Komfortzone ist.“
Komfortzone – dieses Wort fiel oft in der Analyse des Trainers zum Ist-Zustand der Mannschaft. Nur ein Team, das ohne den notwendigen Druck spielt, verhalte sich offensiv so wie aktuell sein Team. „So stehen wir vor dem gegnerischen Sechzehner. Wir haben die Möglichkeit aufs Tor zu schießen, aber wir versuchen, wie Barcelona zu spielen“, verglich Bjelica. Der Lächerlichkeit wollte er seine Spieler sicher nicht preisgeben, sondern den Finger in die Wunde legen. Denn 25 Tore nach 29 Spielen ist ohne Zweifel die Bilanz eines Absteigers. 16-mal ist Union in dieser Saison schon ohne eigenen Treffer geblieben, so häufig wie kein anderes Team der Liga.
Der Winter-Wechsel von Kevin Behrens könnte sich noch als kapitaler Fehler erweisen. Allerdings hatte der Angreifer nach seinem starken Saisonstart und der Nominierung für die Nationalmannschaft später bei Union auch keine Bäume mehr ausgerissen und schwebt aktuell mit seinem neuen Club VfL Wolfsburg ebenfalls in Abstiegsgefahr. Doch immerhin zeigte Behrens immer vollen Einsatz – und den scheint Bjelica bei dem ein oder anderen Profi zu vermissen. „Wir dürfen jetzt nicht lauwarm reden“, rechtfertigte Bjelica seine Klartext-Ansagen und fasste zusammen: „Das Hauptproblem ist die Komfortzone. Das war auch schon vor vier Monaten so und ist es jetzt wieder. Man glaubt, dass wir in einer gemütlichen Situation sind, aber das sind wir nicht.“
„Super ärgerliches“ Tor gegen Augsburg
Zumindest nach außen machten die Spieler den Anschein, als ob sie verstanden hätten, was die Stunde geschlagen hat. „Wir gucken natürlich, wie viel Abstand ist das noch“, äußerte Kapitän Christopher Trimmel. Der Vorsprung auf den Abstiegs-Relegationsrang 16 ist von neun auf drei Zähler geschmolzen, weil der FSV Mainz 05 unter dem neuen Trainer Bo Henriksen eine Aufholjagd gestartet hat und genau das präsentiert, was Union derzeit abgeht: Gier, Selbstvertrauen, Leidenschaft. „Wir müssen jagen, das ist unsere DNA“, sagte Henriksen, der dem zur Halbserie fast schon abgeschriebenen Team ein Sieger-Gen eingepflanzt zu haben scheint: „Wir haben das Gefühl, das wir gegen alle gewinnen können.“
Dieses Gefühl ist den Unionern irgendwie abhandengekommen. Das sollte sich schleunigst ändern, um im Saisonendspurt nicht das böse Erwachen zu erleben. Nur auf einen Einbruch der Mainzer oder Patzer der anderen Mitkonkurrenten wie Mönchengladbach, Bochum und Wolfsburg zu hoffen, wäre gefährlich. „Wir wollen das nicht in die Hände von anderen Mannschaften legen“, versicherte Rechtsverteidiger Trimmel, „sondern wir wollen da selber rauskommen“. Aber wie? Mit deutlich mehr Offensiv-Power – ohne die Defensive zu vernachlässigen. Denn die stand in Augsburg lange Zeit sehr sicher. „In der ersten Halbzeit hatten wir keine großen Chancen, aber alles unter Kontrolle“, meinte Bjelica.
Doch dann kam die 47. Minute, als dem sonst zuverlässigen Innenverteidiger Diego Leite ein kapitaler Fehlpass unterlief. Der Portugiese spielte unbedrängt den Ball in die Füße von Phillip Tietz, der keine Mühe hatte, mit seinem Schuss Torhüter Frederik Rönnow zu überwinden. „Dass wir so ein Tor fressen, ist super ärgerlich. Dass wir nicht mehr zurückkommen, ist auch ärgerlich“, sagte Benedict Hollerbach. Auch für Trimmel war der Aussetzer spielentscheidend: „In so einem Spiel ist es der Dosenöffner für den Gegner.“ Trainer Bjelica wollte nicht zu hart mit dem Stammspieler ins Gericht gehen. „Fehler passieren immer wieder“, sagte er: „Wir müssen die Fehler verhindern, das kannst du nicht trainieren, ist Konzentrationssache.“ Schon am nächsten Wochenende müsse man es „besser machen“. Denn die Bayern dürften solche Fehler noch rigoroser bestrafen.
Beim letzten Heimspiel gegen das Starensemble aus München am 3. September 2022 hatte Union immerhin ein 1:1 geholt. Es war ein wahres Topspiel, Zweiter gegen Erster. Und Union war durch ein Tor von Sheraldo Becker sogar mit 1:0 in Führung gegangen. Doch der flinke Offensivspieler ist seit Winter nicht mehr im Kader, ohnehin hat sich seitdem vieles verändert. Das Selbstvertrauen und die Leichtigkeit von damals sind dahin. „Wenn man unten drinsteht“, erklärte Trimmel, „ist es so, dass man nicht das größte Selbstvertrauen hat“. Das spiegelt sich dann auch in den harmlosen Offensiv-Bemühungen wider. „Wir tun uns schwer damit, wenn wir mehr den Ball haben“, konstatierte der Kapitän: „Wir sind speziell im letzten Drittel zu ungenau, da müssen wir ansetzen. Es ist der letzte Ball, wenn der genau ist, machen wir auch Tore.“
Ein Positives hatte die Niederlage in Augsburg aber: Mittelfeldspieler Janik Haberer feierte nach rund einem Monat Pause wegen einer Kopfverletzung sein Comeback. Der Ex-Freiburger wurde in der 66. Minute eingewechselt, der 30-Jährige trug auf dem Rasen einen Kopfschutz. Während Haberer wieder da ist, kehrt Keita Endo nicht mehr zurück. Den 26 Jahre alten Japaner lässt der Club laut Pressemitteilung endgültig nach Japan ziehen. Endo war im Januar auf Leihbasis zum FC Tokyo gewechselt. Die sportliche Führung bei Union sah für ihn keine Verwendung mehr, in seinen nur 21 Spielen zwischen 2020 und 2023 hatte sich der japanische Nationalspieler nicht durchsetzen können.