Bundestrainer Julian Nagelsmann hat bei der Nationalmannschaft alles auf links gedreht. Und so sein Team für die EM gefunden. Und neue Euphorie entfacht.
So schnell kann es gehen. Im November herrschte in Fußball-Deutschland gefühlte Untergangsstimmung. Zwei Niederlagen und vor allem zwei ganz schlechte Leistungen gegen Österreich und die Türkei ließen nahezu jeden Fußball-Fan im Lande zweifeln, wie das auch nur halbwegs klappen soll bei der EM im eigenen Land. Und so manch einer fragte sich – analog zu Jürgen Klinsmann vor der Heim-WM 2006, ob man Bundestrainer Julian Nagelsmann die Verantwortung für dieses Turnier überhaupt übertragen dürfe. DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig musste sich sogar öffentlich dazu äußern und sagte: „Ich kann mir kein Szenario vorstellen, bei dem Julian Nagelsmann nicht am 14. Juni gegen Schottland auf der Bank sitzt.“ Also im EM-Eröffnungsspiel.
Nagelsmann hat fast alles richtig gemacht
Als Nagelsmann dann seinen Kader für die beiden Länderspiele im März berief, waren die Zweifler schnell wieder auf den Plan gerufen. Mats Hummels, Leon Goretzka, Niklas Süle, Kevin Trapp, Serge Gnabry, Nico Schlotterbeck, Julian Brandt, Robin Gosens, Emre Can oder Jonas Hofmann – das waren schon einige bekannte Namen, die da so kurz vor der EM plötzlich fehlten. Dafür berief Nagelsmann wie angekündigt erstmals seit fast drei Jahren Toni Kroos, in der Abwehr erstmals seit drei Jahren den Frankfurter Robin Koch und dazu gleich sechs mögliche Debütanten: die Stuttgarter Waldemar Anton, Maximilian Mittelstädt und Deniz Undav, Bayern-Mittelfeldspieler Aleksandar Pavlovic, den Hoffenheimer Maximilian Beier und den Heidenheimer Jan-Niklas Beste.
So einen Umbruch hatte es lange nicht gegeben. Und dann auch noch drei Monate vor EM-Beginn. Vielleicht hat Nagelsmann wirklich diesen Mut gehabt, weil er erst einmal nur bis zur EM denkt, vielleicht ist er deshalb ein wenig freier in seinen Entscheidungen. Doch spätestens nach den guten Leistungen beim 2:0 in Frankreich und dem 2:1 gegen die Niederlande lässt sich feststellen, was sich bei der Nominierung schon erahnen ließ: Nagelsmann hat fast alles richtig gemacht! Er hat aus den desaströsen Leistungen im November genau die richtigen Schlüsse gezogen. Alle Entscheidungen waren zumindest nachvollziehbar.
Kroos als Anker dazuzunehmen, war eine hervorragende Entscheidung. In beiden Spielen war er der Fixpunkt des DFB-Teams. Man merkte dem Star von Real Madrid an, dass er nach seinem wohlüberlegten Rücktritt 2021 große Freude daran hatte, mit neuer Aufgabe zurückzukommen, dass er von Anfang an das Tempo und den Rhythmus bestimmte und dass junge Spieler wie Florian Wirtz an seiner Seite wuchsen. Schon vor den beiden Spielen hatte Nagelsmann zum Spitznamen „Querpass-Toni“ gesagt: „Jeder, der das heute noch schreibt, der hat leider gar keine Ahnung vom Fußball. Er ist, was die Impact-Werte angeht, mit Abstand der beste Mittelfeldspieler in Europa.“ Der Impact-Wert stellt die Zahl der durch Steilpässe überspielten Gegner dar. Und im DFB-Trikot sammelte Kroos davon direkt nach dem ersten Anstoß welche, als er in Frankreich Wirtz bediente und der nach acht Sekunden das schnellste Tor der DFB-Geschichte erzielte.
Hochbegabte, Künstler und Worker
Ganz wichtig neben der Berufung von Kroos: Nagelsmann nominierte strikt nach Leistung. Er nominierte nach Form, nach dem Momentum, was eben viele Leverkusener und Stuttgarter in den Kader spülte. Frei nach dem schönen Satz von Hrubesch, nach dem „nicht die elf Besten spielen, sondern die beste Elf“, berief er Spieler, die zusammenpassen. Er hat sich selbst die Vorgabe gesetzt, die Hochbegabten wie Wirtz, Jamal Musiala oder Kai Havertz ins Team einzubinden. Er hat neben den Künstlern aber eben auch die angekündigten „Worker“ eingeladen. Er hat Hummels und Goretzka deshalb nicht berufen, weil sie für ihn keine Stammkräfte sind und auch keine idealen Ergänzungsspieler. Man denke dabei an das erste WM-Spiel 2022, als der damalige Bundestrainer Hansi Flick beim Stande von 1:0 gegen Japan Goretzka für den bis dahin starken Ilkay Gündoğan einwechselte, wohl um diesen bei Laune zu halten. Am Ende verlor Deutschland, wenn auch bei Weitem nicht alleine wegen Goretzka, mit 1:2 und schied in der Vorrunde aus.
Nagelsmann gewinnt Freude an diesem Bundestrainer-Job, weil er die Möglichkeit sieht, sich ohne Rücksicht auf Ablösesummen oder Vertragslängen aus einem gewissen Fundus eine Mannschaft nach seinen Vorstellungen zusammenzustellen. Und das bedeutet eben nicht, einfach zehn Spieler vom FC Bayern zu nominieren und acht von Borussia Dortmund einzuladen, in der Hoffnung, dass die beiden deutschen Groß-Clubs schon die besten deutschen Spieler geholt haben werden.
Und er hat mit dieser klaren Idee, die er zwischen November und März entwickelt hat, dann auch gleich sein Gerüst gefunden. Was sich alleine schon darin zeigte, dass er in beiden März-Spielen exakt dieselbe Startelf aufbot. Im November hatte er teilweise noch wild experimentiert, Havertz zum Beispiel als Außenverteidiger ausprobiert, doch nun hat er sein Team ganz klar gefunden. Rund zwei Monate vor dem Eröffnungsspiel sind – Verletzungen oder krasse Formtiefs vorbehalten – schon acht der elf Startelf-Plätze sicher vergeben.
Im Tor wird Manuel Neuer stehen, da hat sich Nagelsmann frühzeitig festgelegt. Sollte Neuer nicht fit sein, müsste mit Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona niemand Bauchschmerzen haben, doch Nagelsmann hat sich für Neuer entschieden. Gesetzt sind auch Joshua Kimmich als Rechtsverteidiger, Antonio Rüdiger als Abwehrchef, Jonathan Tah als sein Nebenmann, Kroos im defensiven Mittelfeld sowie die offensive Dreierreihe mit Gündoğan in der Mitte und Wirtz und Musiala auf den Flügeln. Offen sind damit nur noch drei Positionen. Als Linksverteidiger hat Mittelstädt nach seinen guten Leistungen einen kleinen Vorsprung vor dem Leipziger David Raum. Als Nebenmann von Kroos in der Mittelfeld-Zentrale liegt der Leverkusener Robert Andrich aktuell knapp vor Pascal Groß aus Brighton. Und im Sturmzentrum hat Havertz aktuell Vorteile vor dem Dortmunder Niclas Füllkrug, der gegen die Niederlande aber reinkam und das Siegtor machte. Denkbar ist demnach, dass je nach Gegner auch mal Füllkrug beginnt. Ein Sonderfall scheint Leroy Sané zu sein, der in Topform gesetzt wäre, in der Rückrunde beim FC Bayern aber nicht überzeugte und der Nationalelf durch seine Rote Karte in Österreich derzeit fehlt. Doch er dürfte dazugehört haben, als Nagelsmann irgendwann in diesen Tagen von seiner „Top 15“ sprach.
Tür ist noch einen kleinen Spalt offen
Zwar hat Nagelsmann Gefrusteten wie Schlotterbeck, Süle, Goretzka oder Hummels oder auch weiter aufs Debüt Hoffenden wie Stuttgarts Angelo Stiller signalisiert, dass die Tür bis zur EM weiter offen ist. Doch dieser Kader hat sich erst einmal bewährt. Nicht nur wegen der Leistungen, sondern weil er in sich stimmig ist und die interne Stimmung markant besser war. „Uns hat gutgetan, dass nicht ganz so viele diesen Rucksack hierhin mitgebracht haben durch den relativ radikalen Austausch“, sagte Kroos: „Das hat man gemerkt.“ Und Nagelsmann deutete schon an, zur EM jetzt nicht noch mal radikal alles ändern zu wollen. „Außer Frage steht: Falls alle gesund bleiben und so weiter performen, werden wir auf jeden Fall nicht zehn Spieler tauschen im Sommer“, stellte er klar: „Eigentlich auch nicht fünf, vielleicht ein, zwei – plus Verletzte.“ Damit ist die Tür für all die Hoffenden also doch nur einen ganz kleinen Spalt offen.
Klar ist: Dieses Team hat sich selbst Flügel verliehen und die Euphorie im Land ist plötzlich wieder da. „Da ist auf jeden Fall etwas entstanden, was vorher nicht da war“, sagte Kroos nach den zehn Tagen in Frankfurt. Statt über ein Aus in der Vorrunde diskutieren die Fans und Experten in Deutschland nun wieder darüber, ob Deutschland doch zu den großen Favoriten zählt. Statt darüber, ob Nagelsmann der Richtige für die EM ist, wird nun darüber gesprochen, ob und wie lange er darüber hinaus bleiben kann.
Und so kurios das klingt: Das größte Problem aktuell sind die Euphorie und die neue Erwartungshaltung. Das alles ist leichter zu handeln als die Untergangsstimmung, aber gerade nach den Jahren davor sollte sich das Team nicht zum Übermut verleiten lassen. „Im November war sehr vieles sehr schlecht“, sagte Kimmich: „Jetzt ist die Begeisterung wieder da und man hatte das Gefühl, man stünde kurz vor einem Titel. So weit ist es aber noch lange nicht.“ Wohl wahr. Dass dies aber überhaupt ein Thema sein könnte, hätte im November, ja noch Anfang März kaum jemand für möglich gehalten.