Liberalismus ist tot, es lebe der Libertarismus: Seit Jahren breitet sich auch in Deutschland der Gedanke aus, wonach der Staat sich möglichst aus allem heraushalten sollte. Diese Abneigung gegen staatliche Regulierung teilen jedoch auch Neurechte.
Deutschland – eine liberale Demokratie, noch. Zahllose gleichzeitige Krisen aber drohen die liberalen Elemente Gemeinwohl und Solidarität zu zerstören. Gleichzeitig scheinen libertäre Gedanken an Einfluss zu gewinnen. Die FDP steht in Deutschland für politischen und wirtschaftlichen Liberalismus und hat immerhin in den 1970er Jahren in ihren „Freiburger Thesen“ den Sozialstaat entdeckt; seither steht sie für eine möglichst wirtschaftsliberale, aber soziale Marktwirtschaft. In Argentinien ist nun mit Javier Milei kein Wirtschaftsliberaler, sondern ein libertärer Präsident in Amt und Würden. Was aber ist der Unterschied zwischen liberal und libertär? Trotz ihrer scheinbaren Ähnlichkeiten offenbaren sich bei genauer Betrachtung bedeutende Unterschiede. Dazu werfen wir einen Blick in die Welt der politischen Literatur der letzten Jahrzehnte, angeführt von renommierten Denkern wie Francis Fukuyama.
Staat als Garant von Freiheit
Der US-Politologe, bekannt für seine tiefgründigen Analysen zur liberalen Demokratie, lenkt in „Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ (2018) den Blick auf die Grundprinzipien des Liberalismus: die zentrale Bedeutung individueller Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Fukuyama verdeutlicht, dass der klassische Liberalismus, geprägt durch Denker des 16. und 17. Jahrhunderts wie John Locke und Adam Smith, auf eine begrenzte Regierung und einen freien Markt setzt, um die individuellen Rechte und Freiheiten der Bürger zu sichern. Der Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte knüpft an die Grundprinzipien des Liberalismus an, hebt jedoch verstärkt die Rolle des freien Marktes und die Bedeutung wirtschaftlicher Effizienz hervor. Neoliberale wie Milton Friedman betonen die Notwendigkeit begrenzter staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft und plädieren für eine stärkere Deregulierung und Privatisierung.
In eine deutlich extremere Richtung führen Denker wie Robert Nozick. In seinem Werk „Anarchy, State, and Utopia“ (1974) plädiert Nozick für einen minimalen Staat, der sich ausschließlich auf den Schutz grundlegender Rechte beschränkt und jegliche staatliche Einmischung in wirtschaftliche Angelegenheiten ablehnt. Hier zeigt sich radikaler Libertarismus, der eine nahezu unregulierte Wirtschaftsordnung – und damit, aus seiner Perspektive, Freiheit – anstrebt. Eine Art von Anarchie. Javier Milei, Präsident von Argentinien, ist selbst ein libertärer Wirtschaftsdozent und Anhänger des libertären Anarchokapitalisten Murray Rothbard, der selbst Drogen- und Menschenhandel deregulieren und dem Markt überlassen will. Direkte Steuern, also Einkommenssteuer und Erbschaftssteuer, gelten als das Symbol staatlicher Gewalt und sollten demnach abgeschafft werden.
Beim Thema soziale Sicherheit wird der Unterschied zwischen Liberalismus und Libertarismus noch deutlicher. Fukuyama betont die Rolle staatlicher Programme zur sozialen Absicherung, um soziale Ungleichheiten zu mildern und ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit zu gewährleisten. Libertäre wie Murray Rothbard hingegen lehnen staatliche Wohlfahrtsprogramme rundweg ab und setzen auf private, freiwillige Initiativen als Mittel zur Unterstützung Bedürftiger. Ein zutiefst US-amerikanisches Modell, demzufolge Reiche freiwillig wohltätig für ärmere Menschen spenden.
Libertarismus setzt auf maximalen Individualismus
Auch persönliche Freiheiten definieren die beiden Denkschulen unterschiedlich. Fukuyama und andere liberale Denker verteidigen vehement die individuellen Freiheiten wie Meinungs- und Religionsfreiheit, betonen jedoch auch die Verantwortung des Staates, diese Rechte zu schützen und zu fördern. Sie argumentieren dafür, dass eine starke Zivilgesellschaft und eine rechtsstaatliche Ordnung notwendig sind, um individuelle Freiheiten zu garantieren. Neoliberale wie der Österreicher Friedrich Hayek setzen vor allem auf eine weitgehende wirtschaftliche Liberalisierung, um unternehmerische Freiheit und damit Wohlstand zu fördern. Dagegen plädieren Libertäre wie die US-Amerikanerin Ayn Rand für eine radikale Auslegung individueller Rechte, die jegliche staatliche Einmischung in persönliche Angelegenheiten ablehnt. Ihre Philosophie des „objektivistischen“ Libertarismus betont die absolute Vorrangstellung des Individuums über jede Form von kollektiver Autorität.
Während also der Liberalismus eine ausgewogene Position zwischen individueller Freiheit und staatlicher Verantwortung einnimmt, betonen Neoliberale vor allem die wirtschaftliche Freiheit, während der Libertarismus nach einer maximalen individuellen Freiheit mit einer minimalen oder gar keiner staatlichen Einmischung strebt.
Diese Diskussion wird zunehmend entscheidend für die Gestaltung moderner Gesellschaften – auch dessen, was derzeit in unseren Gesellschaften geschieht: Liberalismus gerät ins Wanken, der Staat wird durch multiple Krisen und ihre psychologischen Auswirkungen auf den Einzelnen mitunter gar zum Feindbild – ein Einfallstor für Libertäre vom rechten Rand des Parteienspektrums. Der Soziologe Oliver Nachtwey etwa sieht eine Hinwendung zu etwas, das er „libertärer Autoritarismus“ nennt. Er hat zusammen mit Carolin Amlinger die Anti-Impfbewegung in Deutschland untersucht. Querdenker wollen demnach ihre persönliche Freiheit gegen alle Widerstände ausleben. Schränkt der Staat sie ein, werden diese, die sich selbst politisch links wie rechts verorten, zu Feinden ebenjenes Staates. Sie fühlen sich zutiefst gekränkt und wenden sich einem anderen Staatsmodell zu, dem autoritären. Dies sei eine Nebenfolge „spätmoderner Gesellschaften“, denn deren „Versprechen der individuellen Selbstverwirklichung“ berge „ein Kränkungspotenzial, das in Frustration und Ressentiment umschlagen kann“, so Nachtwey und Amlinger in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“. Eine ihrer zentralen Thesen: Gekränkte Freiheiten resultierten „aus dem Umstand, dass das Individuum gesteigerte Bedürfnisse entwickelt hat, seine Ansprüche in spätmodernen Gesellschaften jedoch nicht (oder nur gebrochen) realisieren kann“.
Dieser sehr vereinfachte Freiheitsbegriff ist es also, der dazu führt, dass sich Menschen gegen die Vielfalt einer Demokratie wenden, die seit den ersten demokratischen Bewegungen auch in Deutschland zutiefst mit dem liberalen Gedanken verwoben ist. In den USA gilt der Begriff „liberal“ bei vielen Rechtskonservativen mittlerweile gar als Schimpfwort. Die Republikanische Partei verändert sich immer mehr von der konservativen zu einer in weiten Teilen rechtslibertären Partei: Die von Donald Trump ständig wiederholte Zerschlagung des mythischen „Deep State“ führt zur Zerschlagung des professionellen Beamtenapparates und dem Zurückdrehen zahlreicher Finanz-, Wirtschafts- oder Umweltregulierungen, kurz: zum Zurückdrängen des Staates zugunsten der Bundesstaaten, in denen mittlerweile oftmals republikanische Mehrheiten regieren.
Auch in Deutschland gewinnen Libertäre an Einfluss, jedenfalls im rechten Parteienspektrum. Der erzkonservative Milliardär August von Finck, 2022 verstorben, machte vor allem während der sogenannten „Mövenpick“-Affäre durch Großspenden an die FDP von sich reden, später als Spender für die AfD. Von Finck finanzierte unter anderem das Ludwig-von-Mises-Institut in München. Der Deutsch-Amerikaner Ludwig von Mises gilt als Vordenker des Libertarismus im beginnenden 20. Jahrhundert. An dem Institut werden heute libertäre Positionen verbreitet, politische Gastredner aus dem rechten Spektrum wie der AfD inklusive. Es existieren Verbindungen zu dem amerikanischen Mises-Institut in Auburn, das allerdings eigenständig ist. Leiter des Institutes in Texas: Murray Rothbard.
In Sachsen gründeten Bürger eine Bürgergenossenschaft – soweit nichts Ungewöhnliches. Die Hintergründe aber lassen aufhorchen. So will die Genossenschaft „Mittelsachsen“ laut eigenen Aussagen „Autarkie von bestehenden Institutionen“ erreichen. Die Mittel dazu: eigenständige Energieversorgung, eigene Schulen, eigene Schiedsgerichte. Damit wollen sie sich laut einer Recherche des NDR vom Staat entkoppeln. Finanzielle Hilfe erhalten Sie dafür von der Atlas-Initiative, einer rechtslibertären Stiftung. Geleitet wird diese von Markus Krall, der der AfD nahestehen soll. Krall war bis 2022 Geschäftsführer von Degussa Goldhandel, einer Tochterfirma des Imperiums von August von Finck, und galt für den Kreis der „Reichsbürger“ rund um Prinz Heinrich Reuß, die einen Umsturz in Deutschland konkret planten, als möglicher Finanzminister. Krall, selbst Autor und Youtuber, agiert wie ein Untergangsprophet in Sachen Finanzsystem, ist bekannt für apokalyptische Videos auf Youtube und verfolgt eine Agenda, die ein rein privatwirtschaftliches Notenbankenwesen fordert.
Anschlussfähig an neurechtes Gedankengut
Die Idee hinter der Abkoppelung vom bestehenden System stammt aus der „Privatstadt-Bewegung“, hinter der unter anderem der Deutsche Titus Gebel steht. Er will staatliche Bereiche privatisieren – Politik und Gesetze werden ersetzt durch ein unternehmerisches Regelwerk, dem sich alle, die daran teilhaben wollen, unterwerfen müssten. Alle staatlichen Leistungen sollen von Unternehmen übernommen werden, der Staat soll die Bürger weitestgehend in Ruhe lassen. Wirtschaft als alleiniger Freiheitsgeber? In die Bewegung hat unter anderem der US-Milliardär Peter Thiel investiert.
Rechtslibertäre finden an dieser Idee Gefallen. Für sie scheint die Idee, dass Freiheit und Staat einander garantieren und bedingen, überholt. Linksliberale und Rechtsliberale entfremden sich über diese vermeintliche Dichotomie zwischen Staat und Individuum, Freiheit und Gesetz zum Gemeinwohl immer weiter. Linke hatten den Liberalismus unter anderem wegen seiner einseitig unternehmerischen Freiheitsliebe kritisiert. Von der andern Seite wird der Liberalismus von Rechten attackiert, die das Individuum, seine Rechte und vor allem anderen den Schutz des Eigentums als oberstes Gebot feiern – und nicht das Gemeinwohl. Kein Erbrecht, kein Steuerrecht, keine umverteilten Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld oder Rente, keine Wahlen, denn es gibt keinen Staat: Nur so könne eine Gesellschaft prosperieren, glauben Libertäre.
Fukuyama diagnostiziert einen zweifachen Angriff auf den Liberalismus, bei dem auch der Libertarismus als Gegenentwurf zum jetzigen liberalen Demokratiesystem eine Rolle spielt. In „Der Liberalismus und seine Feinde“ (2022) sieht er die klassischen liberalen Demokratien unter Beschuss, in Brasilien und Polen, in Ungarn und der Türkei, in den USA. Dabei sei die Kritik von links wie rechts sich darin einig, dass die liberalen Demokratien ihrem Anspruch, alle gleich zu behandeln und die Freiheit für das Gemeinwohl zu verteidigen, nicht gerecht würden. Universelle Gleichheit vor dem Gesetz, wissenschaftlicher Rationalismus, freie Meinungsäußerung und Debattenkultur, liberale Marktwirtschaft: All diese Prinzipien heutiger liberaler Demokratien würden zunehmend von beiden Seiten, von links wie von rechts, nicht mehr akzeptiert. Liberalismus gelte ihnen als unreformierbar und beide glaubten, das einzige Rezept zur Ablösung dieses Systems zu besitzen. Dieses orthodoxe Denken führe, so Fukuyama, zum Beispiel in den USA dazu, dass die sich von links bedroht fühlenden Konservativen versuchten, durch Manipulation des Systems an der politischen Macht zu bleiben; die linken Progressiven dagegen forderten vehement Umverteilungen des Reichtums mithilfe von Gerichtsurteilen und ihres sozialen und kulturellen Einflusses.
Libertarismus als eine der radikalen Strömungen gegen den herrschenden Liberalismus heftet sich dabei zunehmend an die Fersen der rechten Szenegrößen, beobachtet der Soziologe Andreas Kemper. Er gilt als einer der renommiertesten deutschen Forscher zum Rechtslibertarismus. Rechten wie Libertären ist das derzeitige System ein Dorn im Auge, beiden ist auch der Gedanke an einen gewaltsamen Umsturz nicht fremd. Hier werden, wie AfD-Chats belegen, Neurechte und Libertäre wie Markus Krall anschlussfähig. Und dies hat mit liberaler Meinungsfreiheit eben auch nichts mehr zu tun. Dabei müsse der Liberalismus gar nicht abgeschafft werden, sagt jedenfalls Francis Fukuyama. Er müsse sich nur mäßigen. Oder, anders ausgedrückt: Er müsste realistisch anerkennen, dass eine Rückbesinnung auf seine Grundwerte wie Gleichheit und das Primat des Gemeinwohls zielführender sind als die maximale, unbedingte Freiheit.