Ob das wohl gut geht? Mit einer Deutschen als Spitzenkandidatin kämpfen die europäischen Liberalen um möglichst viele Sitze im Europäischen Parlament. Ihr Aushängeschild kommt ausgerechnet aus dem Land, das derzeit in Brüssel als Spielverderber gebrandmarkt wird – wegen mehrerer Last-Minute-Einsprüche gegen wichtige EU-Vorhaben wie das Verbrenner-Aus. Interessierte Kreise in Brüssel machen dafür die FDP verantwortlich.
Marie-Agnes Strack Zimmermann ficht das nicht an. Die streitbare Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses ist Gegenwind gewohnt. Nun fliegt sie als „Eurofighterin“ im Pilotensitz des europäischen Liberalismus zwischen Portugal und Polen hin und her, um Lust auf freiheitliche Gedanken zu machen.
Ihre Nominierung zu einer von drei Spitzenkandidaten der europäischen Parteienallianz ALDE Party war kein Selbstläufer. Neben der FDP sind darin 43 Gruppierungen aus den 27 EU-Mitgliedsländern zusammengeschlossen. In etlichen Nationen, etwa in den Niederlanden, Dänemark und Schweden, konkurrieren zwei Parteien um Wählergunst – die eine eher sozialliberal, die andere eher wirtschaftsliberal. In Italien sind es gar vier. Was Liberalismus heißt, klingt manchmal ziemlich unterschiedlich.
Schwierige Suche nach Kandidaten
Es war schwierig, in diesem Sack Flöhe geeignete Kräfte für die Kandidatur gegen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) zu finden. Die gegenüber Weltkonzernen wie Google raufbereite EU-Wettbewerbskommissarin Margrete Vestager von der linksliberalen dänischen Partei Radikale Venstre hört mit der Politik auf. Die bodenständige Ministerpräsidentin Estlands, Kaja Kallas, scheint ins Amt der EU-Außenpolitikchefin zu streben. Charles Michel, Ex-Premier von Belgien und Präsident des Rates der EU-Regierungen, hat sich durch Tapsigkeiten selbst aus dem Rennen genommen. So kam es, dass die FDP als einflussreichste ALDE-Partei mit Strack-Zimmermann den Zuschlag im Rahmen eines Dreigestirns bekam. Mit an der Front sind die Macron-Vertraute Valérie Hayer und der Europapolitiker Sandro Gozi von der Partei Italia Viva.
Der Einfluss der Liberalen in Europa ist nicht unbedeutend. Sie stellen aktuell drei Regierungschefs: Alexander de Croo (Belgien), Kallas (Estland) und Mark Rutte (Niederlande). Man kann Emmanuel Macron mit hinzurechnen; seine Partei Renaissance (RE) gehört nicht zu ALDE, ist aber Teil der liberalen EU-Fraktion. In zehn weiteren Ländern regieren Liberale als Koalitionspartner mit, so in Finnland, Schweden und Polen. Und sie stellen sechs der 27 EU-Kommissare.
Im Europäischen Parlament bilden die Liberalen mit „Renew Europe“ und 102 Abgeordneten (auf die FDP entfallen dabei fünf) die drittgrößte Fraktion. In der ablaufenden Legislaturperiode verhinderten sie eine große Koalition zwischen den dominierenden Christdemokraten/Konservativen und den Sozialdemokraten als zweitstärkste Fraktion. Mangels klassischer Koalitionsbündnisse holten sie ähnlich denkende Parteien ins Boot, so die in Bayern mit der CSU regierenden Freien Wähler. Vorsitzende des bunten Grüppchens ist die junge französische Politikerin Valérie Hayer.
Viele in Brüssel und Strasbourg verabschiedete Richtlinien (so heißen EU-Gesetze) tragen eine liberale Handschrift. Eine davon führte zum Stopp russischer Fossilbrennstoffe nach dem Ukraine-Einmarsch. Dank der Renew-Fraktion wird bei EU-Geldausgaben auf Rechtsstaatlichkeit geachtet. Die Liberalen initiierten zudem die Einführung einer EU-Steuer auf Plastikmüll und schufen Neuland bei der weltweit ersten Regulierung von Kryptowährung und Künstlicher Intelligenz.
Gelder an Ungarn sorgen für Ärger
Reiben tun sich Europas Liberale an zwei europäischen Figuren: Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen. Der Mann aus Budapest steht unter Dauerbeschuss, weil sein nationalkonservativer Kurs immer wieder Grundfesten des Staatenverbundes erschüttert. Und dass von der Leyen kürzlich zehn Milliarden Euro festgefrorener Gelder nach Ungarn überweisen ließ, hat den nordrhein-westfälischen FDP-Gruppenchef Moritz Körner so erbost, dass er alle anderen demokratischen Fraktionen – außer den Christdemokraten – zu einer Klage gegen die Ex-Verteidigungsministerin vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anstiftete. Ein beispielloser Vorgang.
„Von der Leyen wandelt nun auf Donald Trumps Spuren, der seinen Präsidentschaftswahlkampf von der Anklagebank aus führen muss“, spottet Körner über die CDU-Politikerin. Auch Strack-Zimmermann wettert gegen von der Leyen, die 2019 nur knapp von der EU-Volksvertretung ins Amt gehievt worden war. Ihre Kritik an der Landsfrau richtet sich gegen das Übermaß an Bürokratie, das die selbstbewusste Niedersächsin in Brüssel angerichtet habe: „Von der Leyen hat die Wirtschaft geknebelt mit Details und Kleinigkeiten – gleichzeitig hat sie sich nicht um die Sicherheit gekümmert.“
Damit bringt Strack-Zimmermann ihre Kernkompetenz ein: Verteidigung. Ein Thema, das bislang keine EU-Kompetenz ist, es aber werden dürfte. Zu bedrohlich sind die Lage im Osten Europas und die Rückzugsgedanken westlich des Atlantiks.
EU-Sonderbeauftragter für Ukrainehilfe
In ihrem Wahlprogramm „Ihr Europa, Ihre Freiheit: Den Wandel für Sie gestalten“ formulieren die EU-Liberalen zehn Prioritäten. Sie entstanden unter Leitung der FDP-Abgeordneten Svenja Hahn (Hamburg). Dazu gehören Ideen zur Verbesserung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungskapazitäten. Die Liberalen wollen, dass Europa mehr ins Militär investiert und die Zusammenarbeit seiner Armeen stärkt. Dafür soll der neue Posten eines EU-Kommissars für Verteidigung her. Ein EU-Sonderbeauftragter soll Militärhilfe und Wiederaufbau der Ukraine organisieren.
Das eng bedruckte 24-Seiten-Wahlmanifest der ALDE Party ist unkonventionell entstanden. Es gab eine Online-Konsultation und acht Rathausveranstaltungen in EU-Mitgliedstaaten. Dabei wurden die Wünsche von mehr als 100 Organisationen eingeholt. Heraus kamen Positionen zur Umwelt- und Klimapolitik, die Liberale entspannter sehen als die Grünen, Bekenntnisse zu soliderer Ausgabenpolitik und EU-Reformen wie die deutliche Verringerung der Kommissarsposten. Bei der Asylpolitik sollen die EU-Außengrenzen effizient kontrolliert und zugleich die Menschenrechte gewahrt werden.
Keine eineinhalb Monate vor den Europawahlen, die in Deutschland am 9. Juni stattfinden, ist die heiße Wahlkampfphase voll entfacht. Angesichts fehlender Sperrklausel und Chancen für Kleinparteien ist das gesamteuropäische Ergebnis schwer vorherzusagen. Die pro-europäischen Liberalen stemmen sich jedenfalls mit aller Kraft gegen den prognostizierten Aufschwung rechtsextremer Parteien. Es ist diese Aussicht, die die buntscheckigen Freiheitsfreunde zwischen Stockholm und Sizilien zusammenführen.
„Gemeinsam haben wir die Macht, den Lauf der Geschichte zu gestalten und eine Zukunft aufzubauen, in der jeder Europäer gedeihen kann“, sagt ALDE-Kopräsident İlhan Küçük von der bulgarischen Partei „Bewegung für Rechte und Freiheiten“. Sein irischer Mitvorsitzender Timmy Dooley, Senator der irischen Partei „Soldaten des Schicksals“ (Fianna Fáil) fügt hinzu: „Liberale Werte verbinden uns miteinander – wir werden Europa wieder zum Blühen bringen.“