Die liberalen Parteien haben ganz schön Federn gelassen – und das europaweit. Das führt zu Verzweiflungstaten, die nicht jedem Wähler gut gefallen. Ein Selbstfindungsprozess in Wahlkampfzeiten ist in vollem Gange – aber auch erfolgreich?
Der Liberalismus ist tot. Oder nicht? Wenn am 9. Juni die Wahlen zum EU-Parlament stattfinden, sind es besonders auch die liberalen Parteien der Mitgliedsstaaten, die auf Stimmen hoffen. „Europa stand noch nie so sehr unter Druck“, betonte vor diesem Hintergrund auch FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann in ihrer Auftaktrede. Nicht nur die FDP, auch die „Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa“ – kurz ALDE − soll sie in diesem Wahlkampf (mit-)anführen. „Deswegen ist es das Gebot der Stunde, nicht zu zaudern. Keine Ausreden zu suchen, warum etwas nicht geht. Das Gebot der Stunde heißt unübersehbare Entschlossenheit.“ Und das auch, wenn es Gegenwind bedeute. „Mitglied der Freien Demokraten zu sein ist nichts für Weicheier“, sagt sie selbst. Und tatsächlich haben die FDP und ihre europäischen Pendants in Zeiten von zunehmendem Nationalismus nur wenig zu lachen.
„Wenn wir diesbezüglich nicht Stellung beziehen, dann passiert das, was in den Niederlanden passiert ist“, so Strack-Zimmermann. Dort hatte der Rechtspopulist Geert Wilders versucht, eine Regierung zu bilden – und damit fast durch Hilfe der FDP-Schwesterpartei VDD Erfolg gehabt. „Der hat sein Programm abgespult und dann hat die bürgerliche Mitte ein kleines bisschen die Türe aufgemacht.“ VDD-Chefin Dilan Yeşilgöz-Zegerius hatte erklärt, sie sei auch zum Dialog mit Wilders bereit. Zwar hatte die VDD später eingelenkt, dennoch mahnt die 65-jährige Strack-Zimmermann: „Wer diese Brandmauer auch nur eine Rille öffnet, der wird sie kaputt machen. Wehret den Anfängen!“
Auch der als liberal geltende Franzöische Premierminister Emmanuel Macron betonte schon 2017: „Wir dürfen nicht in die Falle der Populisten oder der Extremisten tappen!“ Dennoch wird auch ihm mittlerweile eine gewisse Nähe zur rechtspopulistischen „Rassemblement National“ nachgesagt. Ein im Juli 2022 entstandenes Foto, auf dem Macron der RN-Chefin Marine Le Pen die Hand schüttelt, schlug hohe Wellen. Übertroffen wurde dies schließlich durch die Wahl zweier RN-Politiker zu Vizepräsidenten der Nationalversammlung, für die sie auf Stimmen des Macron-Lagers angewiesen waren.
Kritik in den Niederlanden und in Frankreich
Immer mehr liberale Parteien scheinen am rechten Rand zu fischen, sei es durch subtile Unterstützung, schweigendes Nicht-Verhindern oder aktives Bedienen an Standpunkten in Sachen Migration, Klimaschutz und Co. So bezeichnete Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin Marine Le Pen beispielsweise als „zu soft“ gegenüber dem Islam. Schlimmer noch, Le Pen nannte das neue Einwanderungsgesetz Frankreichs sogar ihren eigenen „ideologischen Sieg“.
All das ging nicht spurlos an den Liberalen vorbei. Wie eine Prognose des „European Council on Foreign Relations“ für die Europawahlen 2024 zeigte, könnte die Renew-Fraktion – also der Zusammenschluss der liberalen Parteien in der EU – nur noch 86 ihrer 101 Sitze halten. In Frankreich würde Macrons Renaissance-Koalition nur 18 ihrer 23 Sitze bekommen, die Rassemblement National dafür aber 25 (statt zuvor 23) Sitze erhalten.
Liberale Parteien, das sind Sammelbecken für Individualisten. Es wäre naiv zu glauben, dass es hierbei nicht immer schon Ausschläge rechts oder auch links gegeben hätte. All diese Ansichten in einer Partei zu einen, ist schon eine Herausforderung an sich. Kommen dann noch verschiedene Länder und ihre Kulturen dazu, wie es auf Europäischer Bühne der Fall ist, ist es nahezu unmöglich. Herausforderungen, vor denen die ALDE täglich steht. Dennoch, so betont es auch FDP-Politiker und Vizepräsident des Europäischen Parlaments Jan Chrisoph Oetjen, sei man sich im Kern einig und geschlossen.
Ob das trotz der immer weiter aufkochenden Spannungen auch so bleibt? Am Ende wird wohl die kommende Legislatur zeigen, ob und wie es gelingt – und ob der Liberalismus in Europa noch atmet oder kurz vor der Implosion steht.