Gefährlich war es schon immer, doch zuletzt haben die Stürze mit schwerwiegenden Folgen im Rennradsport zugenommen. Die Gründe dafür sind vielschichtig, mögliche Maßnahmen auch. Aber was hilft wirklich? Und wer ist schuld?

Gibt es demnächst bei der Tour de France auch das Schwarze Trikot? In diesem könnten die Schiedsrichter fahren und aus nächster Nähe Regelverstöße von Radprofis erkennen, die sie dann verwarnen oder gar aus dem Wettbewerb nehmen. Die Einführung von Gelben und Roten Karten wird aktuell heiß diskutiert in der Radsport-Szene, nachdem eine Sturz-Serie ein schlechtes Bild auf den Sport geworfen und die eigentlich immerwährende Debatte um die Sicherheit weiter verschärft hat. Die Radsportwelt sei für ein solches System, das aus dem Fußball bekannt ist, bereit, meinte Christian Prudhomme. Der französische Chef der Tour de France begründete, dass vor allem Jungprofis mit Gelben und Roten Karten diszipliniert werden könnten: „Neue Talente, die gerade erst in den Radsport einsteigen, werden immer jünger, aber ihnen fehlt die jahrelange Erfahrung im Peloton und die Gewohnheit, die Regeln zu respektieren.“ Auch der Radsport-Weltverband UCI sieht in dieser Regeleinführung einen Ansatz, das akute Problem zu lösen. Etwa die Hälfte der Stürze sei auf das Verhalten der Fahrer zurückzuführen, meinte UCI-Präsident David Lappartient: „Es kann auch nur ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit sein. Deshalb wollen wir wie im Fußball ein Prinzip von Gelben und Roten Karten einführen, damit gefährliches Verhalten besser bestraft wird.“
Sorgt ein Schiri für Ordnung?

Dies würde natürlich nicht durch Schiedsrichter im Schwarzen Trikot auf dem Rad mitten im Peloton geschehen, das wäre viel zu gefährlich und auch unübersichtlich. Die Kameraüberwachung würde dabei eine große Rolle spielen, doch alles wird man auch mit technischen Hilfsmitteln nicht sehen können. Und es gilt auch die schwierige Schiedsgerichtbarkeit bis hin zu Einsprüchen und Revisionen zu bedenken. Ein Allheilmittel wäre die Einführung von Gelben und Roten Karten also nicht. Neu ist der Vorschlag übrigens nicht, schon 2014 brachte der belgische Verbandspräsident Tom van Damme die Adaption aus dem Fußball ins Spiel. Damals ging es um Verbote wie über Gehsteige zu fahren oder Ohrhörer zur Kommunikation mit dem Teamchef zu benutzen. Nun kommen wieder alle Vorschläge, die die Sicherheit der Fahrer, aber auch die der Zuschauer am Streckenrand stärken könnten, auf den Tisch. Denn in den vergangenen Wochen zeichnete sich im Rennradsport ein Horrorbild ab. Zahlreiche Stars lagen im Krankenbett statt auf dem Rad zu sitzen.

Unter anderem erwischte es den zweimaligen Tour-Gewinner Jonas Vingegaard und Zeitfahr-Weltmeister Remco Evenepoel bei der denkwürdigen Baskenland-Rundfahrt Anfang April. Topfahrer Primoz Roglic vom deutschen Team Bora-Hansgrohe hatte Glück im Unglück und zog sich „nur“ Prellungen und Schürfwunden zu. Weniger glimpflich davon kam Radstar Wout van Aert beim Halbklassiker quer durch Flandern in seiner belgischen Heimat Ende März. Bei seinem Sturz bei hoher Geschwindigkeit brach er sich das Schlüsselbein, das Brustbein und mehrere Rippen. Auch deutsche Fahrer kamen in diesem Jahr nicht schadlos davon: Lennard Kämna musste mit mehreren Brüchen nach einem Trainingsunfall auf Teneriffa, als er mit einem Auto kollidiert war, im Krankenhaus behandelt werden. Spätestens seit dem Massensturz bei der Baskenland-Rundfahrt läuft die Debatte über mögliche Verstärkungen der Sicherheitsmaßnahmen heiß. Breitere Reife, die das Rennen künstlich verlangsamen würden. Kleine Airbags in den Helmen, die sich beim Sturz öffnen. Kleinere Teams, um das Feld übersichtlicher zu gestalten. Alles wird diskutiert – aber natürlich auch die Schuldfrage. Wer trägt am meisten dazu bei? Die Veranstalter, die möglichst spektakuläre Rennen und eine prickelnde Fan-Atmosphäre mit Zuschauern dicht am Straßenrand haben wollen? Oder die Fahrer, die zu viel ins Risiko gehen?
Rennen werden hektischer
„Es gibt nicht einen Grund für die Unfälle, sondern viele“, sagte Bora-Hansgrohe-Teamchef Ralph Denk. Sportlich stehe bei fast jedem Rennen viel auf dem Spiel, weil es Punkte für den Auf- und gegen den Abstieg aus der World Tour gebe. „Diese Lizenz ist für alle Teams unfassbar wichtig“, erklärte Denk. Dazu seien die Etappen im Vergleich zu früher kürzer gestaltet, daher sei der Rennverlauf meist „intensiver und hektischer“. Und natürlich spielt auch die Entwicklung beim Material eine große Rolle, die Tüftler holen in Sachen Aerodynamik immer mehr raus. „Das ist Fluch und Segen zugleich“, meinte Denk, „denn wir wollen ja Material, das uns schneller macht“. Aber das erhöht eben auch die Gefahr von Stürzen. „Man müsste für größtmögliche Sicherheit auf Auto-Rennstrecken fahren“, sagte Denk, „aber das würde dem Radsport die Identität rauben“. Was ist also die Lösung?

Der Renndirektor des Frühjahrsklassikers Paris-Roubaix, Thierry Gouvenou, brachte öffentlich eine Geschwindigkeitsdrosselung ins Spiel: „Lassen sie uns das Massaker beenden. Fangen wir an, über die Geschwindigkeitsprobleme nachzudenken.“ Das sei in der Praxis aber nicht umsetzbar, meinte Denk: „Tempolimit und Radsport sind nicht kombinierbar.“ Auch Ex-Profi Marcel Kittel hält den Vorschlag für nur schwer realisierbar, aber man könne es „über die Strecke lösen“. Schikanen wie jüngst bei Paris-Roubaix oder die Entzerrung des Feldes durch ein, zwei Kurven könnten geeignete Mittel sein. Doch wie so oft kommen solche Maßnahmen nicht überall gut an.
Entschärfung sorgt für Proteste
Nachdem sich die Macher von Paris-Roubaix dazu entschieden hatten, vor dem Wald von Arenberg die gefürchtete Kopfsteinpflaster-Passage mittels einer Schikane zu entschärfen und die Fahrer zum Abbremsen zu zwingen, waren damit auch manche Profis nicht einverstanden. „Ist das ein Witz?“, schrieb Topfavorit Mathieu van der Poel beim Kurznachrichtendienst X. Der Niederländer siegte schließlich in Abwesenheit seines größten Rivalen Wout van Aert souverän. Zu den befürchteten Stürzen kam es kaum, auch, weil es an jenem 7. April in Nordfrankreich nicht stark regnete. Wäre es aber dazu gekommen, wären Stürze programmiert gewesen. Deswegen empfand Paris-Roubaix-Renndirektor Gouvenou die umstrittene Schikane als „völlig logisch“ – vor allem mit Blick auf die Ereignisse in den Wochen zuvor. „Als Profi bin ich zwölfmal Paris-Roubaix gefahren und jedes Mal, wenn ich dort ankam, habe ich mich gefragt, wie es mir ergehen wird“, sagte er und ergänzte: „Wenn wir hier ankommen, spielen wir ein bisschen russisches Roulette.“

Die Radprofis spielen dabei oft fleißig mit. „Es war hundertprozentig die Schuld der Fahrer. Die waren einfach zu schnell“, sagte der deutsche Fahrer Simon Geschke über den folgenschweren Massensturz bei der Baskenland-Rundfahrt. Die Fahrervereinigung habe vorher noch versucht, die Profis für das Thema Sicherheit zu sensibilisieren, verriet der 38-Jährige vom französischen Cofidis-Team. Doch offenbar stieß sie auf taube Ohren. Es habe aus seiner Sicht an der „Nervosität der Fahrer“ gelegen, meinte Geschke, „jeder wollte in die ersten Zehn in dieser Abfahrt rein. Und wenn dann keiner bremst, dann passiert so etwas.“ Generell mache er eine „Wer-bremst-verliert-Mentalität“ im Fahrerlager aus, „da brauchen sich Fahrer auch nicht über Streckenführung und schlechten Straßenbelag beschweren. Viele Stürze sind die Schuld der Fahrer.“
Fahrer machen sich Gedanken

Auch Nils Politt vom UAE-Team sieht die Hauptverantwortung weniger bei den Veranstaltern, „vieles hat sich geändert in den letzten Jahren“, sagte er mit Blick auf den Sicherheitsaspekt. Trotzdem sei der „Stresslevel deutlich höher“, meinte der 30-Jährige: „Die Rennen werden immer schneller und immer früher eröffnet.“ Die Materialentwicklung sei in den vergangenen Jahren enorm vorangeschritten, „das ist wie in der Formel 1“, so Politt: „Alles wird schneller, alles wird besser.“ Nur nicht die Sicherheit. „Wenn sechs oder sieben bei einem Rennen im Spital landen, frage ich mich schon, wie lange ich mir das noch antun will“, sagte der Schweizer Radprofi Stefan Küng. Bei den Stürzen der Baskenland-Rundfahrt seien bei ihm „schlimme Erinnerungen wieder hochgekommen“, verriet Geschke. Der Tod des Schweizers Gino Mäder bei der Tour de Suisse 2023 ist bei den meisten Fahrern noch immer präsent. „Es geht sehr schnell, dass auch jemand sterben kann“, gab Geschke zu bedenken. Doch Angst wäre ein schlechter Begleiter auf dem Rad. „Man sollte schon Respekt haben. Aber Angst darf man nicht haben. Wenn Angst mitfährt, fährt man vorsichtig“, erklärte Politt: „Dann hat man mehr oder weniger schon verloren.“
Niederlagen kennt Jonas Vingegaard fast schon gar nicht mehr. Der Triumphator der Tour de France 2022 und 2023 war fest entschlossen, seinen Titel-Hattrick bei der Großen Schleife im kommenden Juli perfekt zu machen. Doch hinter seinem Start steht ein großes Fragezeichen. Der 27 Jahre alte Däne musste wegen eines Schlüsselbeinbruchs operiert werden, noch mehr Sorgen bereitet aber die Lungenverletzung, die er sich auf der fatalen vierten Etappe der Baskenland-Rundfahrt zugezogen hatte. Bei ihm wurde ein Pneumothorax diagnostiziert, dabei kann die Luft in den Spalt zwischen Lunge und Brustwand eindringen. Das kann zu weitreichenden Folgen bis hin zu einem lebensgefährlichen Herzstillstand führen. Fast zwei Wochen wurde Vingegaard im Alava Universitätsklinikum in Vitoria behandelt. Kein Wunder, dass die Verantwortlichen des Rad-Rennstalls Visma-Lease a Bike aktuell keine Prognose über einen möglichen Tour-Start abgeben wollen. „Wir hoffen immer noch, dass er dabei sein wird“, sagte ein Sprecher. Vingegaards Zustand sei stabil, „aber wir müssen seine Genesung abwarten, um zu sehen, was realistisch ist“.