35 Parteien und Gruppierungen sind zur Europawahl zugelassen. Dabei sind auch einige, die erst vor Kurzem gegründet wurden. So unterschiedlich wie die Parteien, so unterschiedlich sind auch die Themen, die den Menschen in der EU bei dieser Wahl auf den Nägeln brennen.
Spitzenpolitiker, die aus schwarzen Limousinen steigen, schnell noch ein Statement in die Mikrophone sagen und zum nächsten Gipfel zu eilen und Stunden später in ebendiese Mikrophone noch mal erklären, was der Gipfel denn nun gebracht hat. Bilder aus Brüssel, die zur europäischen Routine gehören. Was sie nicht zeigen, sind die Bemühungen im Hintergrund, europäische Politik auf einen Nenner zu bringen.
Mühsam, weil die Interessen der 27 Mitgliedsstaaten teilweise ziemlich auseinander gehen. Mühsam auch, weil Mitgliedsstaaten, selbst wenn sie sich in den Zielen einig sind, sehr unterschiedliche Wege dorthin für richtig halten. Beim Klimaschutz hält beispielsweise Frankreich die Atomkraft für ideal, um den CO2-Ausstoß zu verringern, Deutschland hat dagegen die letzten AKWs vor einem Jahr abgeschaltet.
Mühsam aber auch, weil die Menschen in den unterschiedlichen Regionen durchaus unterschiedliche Sorgen haben und ihnen somit auch Anliegen entsprechend unterschiedlich wichtig sind. Was dazu führt, dass die Wahlkämpfe in den Mitgliedsstaaten stark von den jeweiligen Themen vor Ort geprägt sind.
Für neue Parteien der erste echte Test
In Deutschland sind 35 Parteien zur Wahl zugelassen, weil aber die CSU nur in Bayern, die CDU in allen Ländern außer Bayern antritt, stehen jeweils 34 Parteien und Gruppierungen auf den Wahlzetteln. Ein gutes Drittel sind die aus der Bundespolitik bekannten Parteien (CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP, Linke und AfD). Dann gibt es noch eine Reihe von Parteien/Gruppierungen, die für die Bundespolitik keine Rolle spielen, sich aber trotzdem Hoffnung auf einen Sitz in Brüssel beziehungsweise Strassburg machen, weil es bei der Europawahl keine Prozent-Hürde gibt.
Nach groben Berechnungen könnte es bei einem Ergebnis von etwa 0,8 Prozent schon für ein Mandat reichen. Zuletzt waren so etwa ÖDP und Tierschutzpartei, aber auch Die Partei, Freie Wähler, Piraten und VOLT ins Europaparlament gekommen. VOLT ist im Übrigen die einzige Partei, die sich explizit als Europapartei gegründet hat. So gewählte Einzelpersonen schließen sich in der Regel einer der großen Fraktionsgruppierungen im Europaparlament an.
Für einige Parteineugründungen beziehungsweise Wählerbündnisse wird die Europawahl ein erster echter Test. Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit. Für BSW ist es die erste Wahl. Bislang läßt sich der Zuspruch nur an Umfragen ablesen, die Europawahl wird erstmals harte Zahlen liefern. Ähnliches gilt für die Letzte Generation. Die Klimaaktivisten, bekannt geworden durch Klebeaktionen, haben ihre Strategie geändert, frei nach dem Motto: Kandidieren statt kleben, wollen sie ihren Protest gegen eine zu lasche Klimaschutzpolitik nach Europa tragen. Neu dabei ist auch DAVA. Die „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ wurde ebenfalls erst Anfang des Jahres zunächst als Wählervereinigung gegründet. Deren Ziel ist Schutz des Islam, womit sie sich vor allem an muslimische Wählerinnen und Wähler wendet. Relativ neu ist auch das „Bündnis Deutschland“, das sich politisch zwischen CDU und AfD als „liberal-konservativ“ einordnet.
Wie immer bei Europawahlen finden sich auf dem Wahlzettel auch einige Exoten, wie etwa die „Menschliche Welt – für das Wohl und Glücklichsein aller“, die mit Meditation „gegen die Kriegstreiberei“ angehen will. Außerdem gibt es eine „Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung“, deren Ziel ist die Forschung, damit wir alle ein paar hundert Jahre leben können. Das „Bündnis C – Christen für Europa“ verfolgt nach eigenem Bekunden einen „biblisch fundierten Ansatz“ für ihre Europapolitik.
Es gibt auch Parteien, aus deren Namen nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, wofür sie stehen. Etwa BIG (Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit), die ein Ableger der türkischen AKP sein soll, aber selbst ihre Unabhängigkeit betont. Die „Aktion Bürger für Gerechtigkeit“ (ABG) ist eine Partei, die eigentlich den Austritt Deutschlands aus der EU will, „Klimagelassenheit“ fordert und den öffentlichen-rechtlichen Rundfunk als parteibeeinflusst ansieht. Die „Partei der Vernunft“ ist eine libertäre Kleinpartei, die im Kern eine Beschränkung des Staates auf wenige Kernaufgaben (Schutz des Lebens, der Freiheit und des Eigentums) fordert. Die „Partei des Fortschritts“ ist ebenfalls eine Kleinstpartei mit dem Motto „Ideen statt Ideologie“. Außerdem finden sich auf dem Stimmzettel Parteien vom rechten bis äußerst rechten Rand und einige kommunistische Splitterparteien.
Kein großes gemeinsames Thema
Wie immer vor Europawahlen versucht das „Eurobarometer“ herauszufinden, was die Menschen in der EU besonders umtreibt. Befragt worden sind 26.000 Personen. Und herausgekommen sind einige Überraschungen. Zum Beispiel die, dass das bei uns intensiv diskutierte und von manchen Parteien und Politikern auch instrumentalisierte Thema Migration keineswegs ganz oben auf der Liste der Themen steht, die sich aus repräsentativen Umfragen ergeben. Ähnlich geht es im Übrigen dem Thema Klimaschutz, das nur in Schweden als wichtigstes Thema genannt wird.
Beides heißt natürlich nicht, dass den Menschen in Europa Klima und Migration unwichtig oder gar egal wären, aber es gibt nun mal andere Themen, die mehr auf den Nägeln brennen und deshalb als Thema Nummer eins genannt werden. Und das sind vorrangig soziale Fragen.
Armut bekämpfen steht bei der europaweiten Umfrage an erster Stelle, dicht gefolgt von den Themen Wirtschaft und Arbeitsplätze sowie Gesundheit.
Dass Sicherheit und Verteidigung quer durch Europa unter den Top Five der wichtigen Fragen rangieren, ist ebenso wenig überraschend wie die Tatsache, dass es dabei ein Ost-West-Gefälle gibt.
Einigermaßen verblüffend ist aber die Entwicklung in Sachen Klimaschutz. Das war für die Deutschen bei der letzten Wahl vor fünf Jahren noch klar Thema Nummer eins und taucht heute nicht einmal unter den fünf Wichtigsten auf.
Was auffällt ist auch, welche Themen – europaweit – keinen besonders wichtigen Stellenwert haben. Es sind Themen, die ausgerechnet aber überzeugten Europäern seit einiger Zeit ziemlich am Herzen liegen. An erster Stelle eine Reform der Institutionen und Reformen in den Entscheidungsprozessen. Legt man die Umfragen zugrunde, lässt sich mit diesen Themen im Wahlkampf wohl kaum ein Blumentopf gewinnen, obwohl das Themen sind, die für die Entwicklung durchaus ganz entscheidende Bedeutung haben.
Europa ist schlicht zu langsam, sowohl, wenn es um Reaktionen auf Krisen geht als auch im globalen Wettbewerb. Dafür wird einerseits das Einstimmigkeitsprinzip angeführt, das immer noch in wichtigen Bereichen gilt. Vorschläge, wie das zu reformieren wäre, gibt es etliche. Das Kunststück besteht darin, Blockaden, wie sie oft genug der Fall waren, zu verhindern, wofür es aber wiederum wegen der geltenden Einstimmigkeit die Zustimmung derer bräuchte, die sich gerne mal stur stellen und andere Interessen haben. Und die sind, wie gesehen, nicht nur bei Bürgerinnen- und Bürgern, sondern eben auch in den jeweiligen nationalen Politiken unterschiedlich bis gegensätzlich. Vor diesem Hintergrund ist es fast schon erstaunlich, dass und wie die EU überhaupt funktioniert, bei aller berechtigter Kritik.
Für die EU ist es die erste Wahl zu einer Zeit, in der wieder ein großer Krieg auf europäischem Boden herrscht und sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse neu sortieren. Vor diesem Hintergrund ist auch entscheidend, wie stark die Basis ist, wofür die Wahlbeteiligung als Indiz dienen kann.
Die war bei der letzten Wahl (2019) wieder deutlich gestiegen und lag knapp über 50 Prozent. Eine Beteiligung wie bei der ersten Europawahl (1979) von knapp 62 Prozent ist seither unerreicht geblieben. Ein Ergebnis klar über der 50 Prozent wäre aber sicher ein starkes Signal.