Seit einem Jahr regiert eine CDU/SPD-Koalition in Berlin unter der Führung des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner (CDU). Vor allem Umwelt- und Klimaschützer ziehen eine negative Bilanz.
Kai Wegner redet gerne über die Zukunft. Denn dank ihm und seinem Senat habe die Stadt Zukunft, sagt Berlins Regierender Bürgermeister. Den Doppelhaushalt, der für dieses und kommendes Jahr jeweils rund 40 Milliarden Euro Ausgaben vorsieht, nennt er einen „Zukunftshaushalt mit klaren Schwerpunkten auf Bildung, auf Ausbau der Sicherheit, auf mehr Investitionen in Polizei und Feuerwehr, auf eine starke Wirtschaft und für mehr soziale Sicherheit“. Auch die Digitalisierung der Verwaltung werde „in den kommenden Jahren vorangetrieben und finanziell abgesichert“.
Zwei Wochen, nachdem Wegners Regierungsbündnis mit dem Finanzplan 2024/2025 „die Weichen für eine gute Zukunft“ gestellt hat, wie es der Christdemokrat selbst formuliert, ist ein Blick zurück in die Vergangenheit angesagt: Am 27. April ist der CDU/SPD-Senat nämlich ein Jahr im Amt. Die Bilanz fällt nicht ganz so blumig aus, wie es der Regierende Bürgermeister gerne hätte.
Zweifel an Haushaltsplanung
Schwarz-Rot sei bisher „vor allem eine Koalition der Ankündigungen“, stellt der Sprecher der Gewerkschaft Verdi Berlin-Brandenburg, Kalle Kunkel, fest. Positiv sei zwar, „dass die Koalition die Rekommunalisierung des Berliner Wärmenetzes tatsächlich umgesetzt hat“. Darüber hinaus sei aber trotz der Versprechen im Koalitionsvertrag zum Beispiel bei der Rückführung der ausgegliederten Tochterunternehmen des Klinikums Charité und des kommunalen Krankenhauskonzerns Vivantes „noch nichts Konkretes passiert“.
Auch das „Finanzgebaren“ der Koalition sei – insbesondere nach dem Scheitern des Sondervermögens für den Klimaschutz – zunehmend unseriös, „da es politische Prioritätensetzungen vermissen lässt“. „Der Haushalt ist von vornherein so geplant, dass er nur durch nicht genau bestimmte Einsparungen von Bezirken und Senatsverwaltungen funktionieren kann – die sogenannten pauschalen Minderausgaben. Damit ist klar, dass der Rotstift vor allem dort angesetzt wird, wo sich leicht sparen lässt, nämlich bei den freiwilligen Leistungen der sozialen Wohlfahrtspflege in den Bezirken, die einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt der Stadt leisten“, erklärt Kunkel.
Dafür, dass das Bundesverfassungsgericht das Konstrukt des sogenannten Sondervermögens für den Klimaschutz für rechtswidrig erklärt hat, könne der Senat nichts, sagt der Geschäftsführer des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), Tillmann Heuser. Das Urteil könne aber nicht als Entschuldigung dafür dienen, dass Klimaschutz nicht den Vorrang bekomme, den der Senat versprochen hat.
Auch was die Mobilitätspolitik angeht, ist der Senat dem BUND zu zögerlich. „Obwohl alle sagen, dass wir mehr ÖPNV und Radverkehr brauchen, wird daran nicht konsequent gearbeitet. Denn das bedeutet immer auch, dass das Auto etwas weiter zurückgedrängt wird“, stellt Heuser fest. Im Gegenteil: „Man merkt, dass es darum geht, Erfolge in diesem Bereich rückgängig zu machen.“
Von „Rückwärtspolitik“ spricht auch Josephine Hübner von Fridays for Future. „Wir alle wollen ein angenehmes Leben in Berlin führen. Doch die bisherige Arbeit des Senats unter Führung von Kai Wegner verhindert das“, sagt sie. Nach einem Jahr sei deutlich: Die Politik des Senats sei „ernüchternd“. „Neue Hitzerekorde, vertrocknete Wiesen in den Parks und extreme Regenfälle: Wir sehen schon jetzt, dass sich das Klima in Berlin deutlich verändert. Doch obwohl unsere Stadt dringend fortschrittliche Maßnahmen benötigt, um den Herausforderungen der Klimakrise zu begegnen, ist die Politik des Senats erschreckend rückläufig“, sagt Hübner.
Das zeige sich unter anderem am „Stopp des Ausbaus von Radwegen“. Dem widerspricht der Senat. Rund 59 Millionen Euro stünden in den kommenden beiden Jahren zur Verfügung, um „mehr sichere Radwege zu bauen als die Vorgängerregierung“. Das ist Umwelt- und Klimaschützern zu allgemein formuliert. Denn es kommt ja darauf an, ob diese Radwege dort gebaut werden, wo sie dazu führen, dass mehr Menschen vom Auto aufs Rad umsteigen. Das deutlichste Beispiel für die „Rückwärtspolitik“ sei, dass das Berliner Energie- und Klimaschutzgesetz wegen der fehlenden Zustimmung der CDU auf Eis liegt.
„Besonders geringen Fortschritt“ beim Thema „Mobilitätswende vorantreiben“ sehen selbst Mitglieder des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI). Der Verein hat seine 2.300 Mitglieder in einer anonymen Online-Erhebung gefragt, welche Noten sie dem Senat nach einem Jahr im Amt geben. Das Ergebnis: VBKI-Mitglieder interessieren sich wenig für Online-Umfragen. Es haben sich nur rund 100 Personen beteiligt. Die gaben dem Senat auf der Schulnoten-Skala von 1 („sehr gut“) bis 6 („ungenügend“) eine 3,3. Wobei neben der Mobilitätswende vor allem die angekündigte Beschleunigung der Digitalisierung als nicht sehr erfolgreich eingeordnet wurde.
Die Industrie- und Handelskammer (IHK) ist dagegen weitestgehend zufrieden mit Wegner und seinem Senat. „Die Probleme der Wirtschaft werden im Senat gehört, die Wirtschaftspolitik ist konstruktiv, innovationsorientiert und auf Wachstum ausgelegt“, teilt IHK-Präsident Sebastian Stietzel auf Anfrage mit. Der Senat traue sich auch an „die großen Themen“ ran. Stietzel nennt den Vorstoß für ein Schneller-Bauen-Gesetz. „Bei schnelleren Verfahren, einfachen Prozessen und vor allem deutlichen Impulsen für mehr Wohnraum“ habe Berlin Nachholbedarf.
Klima-Politik „rückläufig“
Gerade bei diesem Gesetz zeige sich aber, wie unsensibel der Senat für Umweltschutz sei, findet der BUND. „Da wird immer der Natur- und Artenschutz als Hemmnis genannt“, sagt Tillmann Heuser. Das Problem sei aber, dass der Natur- und Artenschutz in den Planungen oft nicht von Anfang an berücksichtigt werde. Dadurch komme es dann zu Verzögerungen.
Zufrieden zeigt sich auch der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Stephan Weh. „Es hat sich spürbar etwas in Sachen Rückendeckung und Ton geändert. Der Regierende, die Innensenatorin und andere Protagonisten der Koalition nutzen öffentliche Auftritte und Statements, um dankende Worte an Polizei und Feuerwehr zu richten. Sie machen deutlich, dass die Innere Sicherheit die zentralste Aufgabe eines Staates ist und deshalb Priorität genießen muss“, teilt er auf Anfrage mit.
Durch Gesetzesänderungen, die der Polizei die Arbeit erleichtern, „haben CDU und SPD geliefert“, sagt Weh. Nun müsse der Senat aber unter anderem noch die versprochene „Besoldung auf Bundesgrundniveau“ für die Berliner Beamten, ein neues Rettungsdienstgesetz und weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Handlungsfähigkeit der Behörden auf die Reihe kriegen.
Die Arbeit der Verwaltung ist auch aus Sicht des Sozialverbands (SoVD) verbesserungswürdig. „Erhebliche Bedenken habe ich nach wie vor bei der dringend erforderlichen Verbesserung der Verwaltungen – zum Beispiel in den Bezirksämtern, Wohngeldämtern, Sozialämtern, Jobcentern und auch in den Senatsverwaltungen“, sagt Ursula Engelen-Kefer, die Vorsitzende des SoVD-Landesverbandes Berlin-Brandenburg.
Aus Sicht des SoVD fällt die Ein-Jahres-Bilanz des Senats „insgesamt gemischt“ aus. Für Engelen-Kefer überwiegen allerdings „die positiven Ansätze für Sozialprojekte vor allem für Frauen und Kinder ohne und mit Behinderungen“. Der Senat tue etwas für die Bekämpfung von Einsamkeit, soziale Infrastruktur, Förderung des sozialen Zusammenhaltes und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
Engelen-Kefer spricht sogar von der „Unterstützung mutiger Initiativen durch den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner“. Dazu gehört für sie, dass mehr Menschen berechtigt sein sollen, Wohngeld zu bekommen. Aber es gebe eben auch noch viel Arbeit für diesen Senat. Der SoVD bemängelt eine „unzureichende Barrierefreiheit und Inklusion“. „Die Anforderungen an eine behindertengerechte Politik erschöpfen sich weitgehend in zwar richtigen, aber wenig konkreten Absichtserklärungen“, sagt Engelen-Kefer. Da liegt also wie in vielen anderen Bereichen einiges noch viel zu weit weg – nämlich dort, worüber Kai Wegner so gerne redet: in der Zukunft.