In der jahrhundertealten Spielkartenfabrik in Stralsund lernen Jugendliche an historischen Maschinen die Herstellung von Spielen. Und finden dabei auch einen wichtigen Raum für sich selbst.

In der ruhigen Seitenstraße am Katharinenberg hängt das Zunftzeichen einer Spielkarte an einem alten Backsteingebäude. Ursprünglich als Dampfmühle erbaut, liegt es im Stadtmauerring der Stralsunder Altstadt. Die dunkelblauen Fensterläden sind geöffnet. Innen brennt Licht. Ein großes Tor, eine hölzerne Tür. Hier, wohin sich die Touristenströme kaum verirren, findet man, was von der legendären Stralsunder Spielkartenfabrik übrig geblieben ist. Eine Museumswerkstatt, die Geschichte, Handwerk und Kunst der hier bis 1930 existierenden Altenburger und Stralsunder Spielkartenfabrik vermittelt. Auf Tischen und Regalen liegen alte Setzkästen und Bleibuchstaben. An den Ziegelwänden hängen Abbildungen von Druckplakaten und Archivmaterialien.
Im Erdgeschoss des einstigen Speichers sitzt Jasmin an einem großen Arbeitstisch und schneidet akribisch genau die einzelnen Spielkartenmotive aus einem großen Druckbogen aus. Jasmin geht in die zehnte Klasse und lernte die Werkstatt beim „Produktiven Lernen“ kennen. Bereits vor einem Jahr absolvierte sie hier ein Schülerpraktikum. Seitdem kommt sie weiterhin nach der Schule in die Werkstatt. „Vor allem wegen der Leute. Es ist eine lockere, entspannte Atmosphäre. Ich verstehe mich mit allen gut. Wir halten zusammen. Bei der Arbeit gibt es keinen Zwang, keinen Druck.“ Sie ist begeistert. „Mir gefällt die flache Hierarchie. Wir verstehen uns alle. Es geht fast familiär zu.“
„Niemand muss sich etwas beweisen“
Jasmin bindet jetzt Heftchen, sortiert und komplettiert Spielkartensets, damit ein fertiges Spiel daraus wird. Dann geht sie forsch auf die historischen Maschinen aus dem Druckgewerbe zu.
Ihr leichtes, buntes Kleid wippt im Takt ihrer Schritte. Die alten Anlagen allein zu bedienen, traue sie sich schon zu, sagt sie nicht ohne Stolz.
Kristina Bertram steht den Jugendlichen zur Seite und leitet sie bei der Arbeit an. Sie beugt sich über die original Heidelberger Cylinder-Maschine, säubert sie gründlich mit Reinigungsbenzin. Einst war diese die druckstärkste Maschine der Welt und sie druckt noch heute die Spielkarten. „Ich müsste eigentlich jedes Rädchen, Schräubchen, jede kleine Scheibe, jeden Draht, jede Taste, jeden Hebel putzen. Doch dafür fehlt die Zeit“, bedauert sie.

Noch immer wird an den historischen Maschinen gedruckt, geschnitten, laminiert. Diese würden nicht nur genutzt, um Texte, sondern auch, um Bilder zu drucken, erzählt Kristina Bertram. Jasmin schwärmt: „Mir gefällt dieser Raum mit den alten Druckpressen und Druckmaschinen. Ich mag auch den Duft von Öl und Schmiere.“ Jasmin wollte nach der Schule nicht einfach nur rumhängen, sondern etwas Kreatives machen. „Hier habe ich genau das Richtige gefunden. Niemand muss sich etwas beweisen. Und das Beste: Wir können sogar noch unser Taschengeld aufbessern.“
Stralsund gilt als die Wiege der Spielkartenproduktion. Vor mehr als 250 Jahren begann in der Hansestadt ihre Geschichte. Schon 1765, so steht es in den Chroniken, gründete Johann Kasper Kern seine Fabrik in Stralsund, aus der später die Vereinigten Stralsunder Spielkartenfabriken hervorgingen. Auf der ganzen Welt waren die Kartenbilder gefragt, die 150 Jahre lang am Strelasund produziert wurden: Skat, Doppelkopf, Rommé, Orakel- und Wahrsagekarten. Später übersiedelte der Betrieb nach Altenburg.
„Einfach mal abschalten“
Heute ist die Spielkartenfabrik Werkstatt, Labor und Museum. Mit der Gründung der Spielkartenfabrik als Museumswerkstatt im Jahr 2009 greift der Jugendkunst-Verein die traditionelle Produktion auf und entwickelt sie weiter. Ein Ausstellungs-, Lern- und Erlebnisort, der an die Jahrhunderte alte Tradition der Stralsunder Kartenmacher anknüpft. Hier werden historische und völlig neue Kartenblätter erdacht, gestaltet, gedruckt und vertrieben. Besucherinnen und Besucher können den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bei der Arbeit zuschauen, dürfen selbst mitmachen und erhalten so einen Einblick in die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der historischen Spielkartenproduktion.
Jugendsozialarbeiter Pierre Hecht ist seit anderthalb Jahren dabei und betreut die freiwilligen jungen Helfer. Manche Jugendliche nehmen die Tätigkeit auch als berufliche Eingliederungshilfe in Anspruch, andere leisten ihre auferlegten Sozialstunden ab. „Ich biete mich an, dass sie alles, was auf ihrer Seele lastet, hier ausschütten können. Auf den meisten jungen Leuten, die aus schwierigen Verhältnissen kommen, lastet ein hoher Druck seitens der Schule oder des Elternhauses. Hier erleben sie eine entspannte Atmosphäre im gemeinsamen Tätigsein. Dabei entdecken sie mit uns, dass sie alle ein ganz eigenes Talent mitbringen, sei es beispielsweise die Feinarbeit an den Druckmaschinen oder die Detailbesessenheit bei der Kontrolle der Spielkarten. Während sie sich ausprobieren, werden sie sich ihres eigenen Wertes bewusst. Da knüpfen wir an, doch drängen sie nicht. Denn manchmal haben sie auch Lust, einfach nur mal abzuschalten und sich beim Quatschen zu entspannen.“

Pierre Hecht ist begeistert, wie die Jugendlichen selbständig Ideen entwickeln, gemeinsam auf Märkte fahren, Kontakte zu den Besuchern und Käufern knüpfen, von der Spielkartenfabrik berichten und ihre Arbeiten vorstellen. So üben sich die etwa 13- bis 18-Jährigen auch im freien Sprechen und im Verkauf ihrer Produkte.
„Und die können sich sehen lassen“, meint Christian Klette. Der 45-jährige Mediengestalter bedauert, dass es heute wenig Spielraum für Kinder und Jugendliche gebe. Die Zusammenarbeit mit ihnen erlebt der Mitarbeiter der Spielkartenfabrik als sehr bereichernd. „Sie treffen auf Gleichgesinnte, haben ein Mitspracherecht und sind für uns wie Kolleginnen und Kollegen. Tatsächlich sind viele von ihnen echte Ideenschmiede bei der Spielkarten-Entwicklung.“ Christian Klette führt die jungen Leute an das alte Handwerk heran. Die Stralsunder Spielkarten fanden auf der ganzen Welt Absatz. „Mit dieser Tradition im Rücken ermutigen wir junge Menschen, eigene Ideen, Motive und Spiele mit traditionellen und digitalen Werkzeugen umzusetzen.“
Sich künstlerisch ausdrücken
An der Spielkarte wird anschaulich die mediengeschichtliche Entwicklung verschiedenster Drucktechniken vom Holzschnitt über Steindruck, Bleisatz oder Siebdruck bis hin zum Computersatz praktisch nachvollzogen. Besonderen Spaß hat Christian Klette daran, mit den Schützlingen witzige neue Kartenideen zu entwickeln. So entstand in der Jugendwerkstatt ein kleines Sortiment eigener Kartenspiele, selbst erdacht, gestaltet, gedruckt und auch vertrieben. Das „Kleine Pandämonium“ beispielsweise vermittelt die faszinierende Fülle der Dämonen in einem Quartettspiel. So werden auf den Karten Frau Holle, der Butzemann, Müller Krabat, Rübezahl oder die Mittagsfrau gestaltet sowie auch die legendären Rauhnächte oder die Wilde Jagd. Dabei werden die Figuren nicht einseitig verteufelt. „Shehkuh“ dagegen ist ein Anlegespiel für pfiffige Kombinierer. Es basiert auf sieben grafischen Formen im Sechseckformat. In drei Spielvarianten können damit Bilder, Strecken und Mosaike gelegt werden.

Das Strategiespiel „Rum & Rollmops“ kommt ganz ohne Würfel und Spielbrett aus. Es werden wertvolle Güter in zwölf Hansestädten gelagert und müssen mit Schiffen in den Heimathafen transportiert werden. Doch auf der Fahrt über die Ostsee lauern Gefahren! Bei „Devil’s Strait“ schließlich vermischt sich die französische und deutsche Tradition eines Vollbild-Pokerblatts und fügt den Bildkarten neue Interpretationen hinzu. Oder die digitale „Flaschenpost“: Sie beginnt mit einem Bild, einem kurzen Video- oder Tonschnipsel. Eine gemeinsame Story entsteht in der Gruppe. Künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten verbunden mit den modernen digitalen Medien führen gleichzeitig zu einem Austausch von sozialen und kulturellen Werten und Vorstellungen.
Natürlich dürfen die „Fischköppe“ an der See nicht fehlen. Das sind Kartenspiele passend als Skatblatt, für Doppelkopf oder für Rommé.
Und schließlich ist da noch ein Kartenspiel für Stralsund-Fans, das Stralsunder Sehenswürdigkeiten auf dem Skatblatt zeigt. Abgebildet sind Nikolaikirche, Hafenspeicher, Kütertor, Johanniskloster, Ozeaneum, Wulflamhaus, Marienkirche, Lotsenhaus, Kniepertor, Jakobikirche, Rathaus und die Alte Spielkartenfabrik. Die Grafiken wurden in Linol geschnitten und das Blatt im Hochdruck am Original Heidelberg-Cylinder gedruckt. Die Herstellung der Spielkarten wird durch Künstlerworkshops und Museumsführungen ergänzt. „Supercoole Projekte!“, schwört Lena.