Bayer Leverkusen ist Deutscher Meister 2024. Nach jahrelanger Schmach als „Vizekusen“ wurde aus der Mannschaft, die nie Titel holte, eine Maschine, deren Weg noch lange nicht zu Ende ist.

Jahrelang mussten sich die Fans von Bayer Leverkusen die immer gleichen Schmähgesänge anhören: „Ihr werdet nie Deutscher Meister“, hallte es durch die Stadien immer dann, wenn Leverkusen mal wieder mit leeren Händen dastand. Das war in der Vergangenheit sogar zu einem Markenzeichen geworden; der Name „Vizekusen“ wurde sogar rechtlich geschützt. Das Image des Verlierers wurde monetarisiert, zu einem Markenzeichen gemacht und gelebt. „Ich konnte diesen Namen nie leiden“, trotzte Rudi Völler oftmals in der Vergangenheit in das Mikrofon eines Fragenstellers, so auch nach dem Gewinn des Meistertitels in diesem Jahr. Es ist das Ende einer Geschichte, mit der viele Namen verbunden sind. Eine Geschichte, die auch Xabi Alonso, dem Heilsbringer und Meistermacher von Bayer 04 Leverkusen, bewusst ist und der im großen Moment des Triumphs klarmachte, alle Beteiligten mit ins Boot zu nehmen. Christoph Daum, Rudi Völler, Klaus Toppmöller und Reiner Calmund sind dabei stellvertretend zu nennen – und Alonso dankte im größten Moment des seit 120 Jahren bestehenden Vereins auch ihnen – denen, die scheiterten.
Auf einmal nicht mehr langweilig

Bayer Leverkusen war bis vor ein paar Wochen für viele Außenstehende das langweilige Anhängsel eines Pharmakonzerns, die Werkself, der ewige Zweite. Der Verein gewann vor über 30 Jahren zwar mal den DFB-Pokal und den Uefa-Cup, eine Meisterschaft fehlte jedoch. Auch deshalb gehörte die Niederlage, das Scheitern zur Identität der Fans und des Vereins. „Niemals Meister, tut zwar weh, scheißegal, oh SVB“ wurde in der Fankurve zum Klassiker, sozusagen zum Evergreen.
Rolfes setzte Akzente

Die Fan-Seele und alle Verantwortlichen mussten große Enttäuschungen verarbeiten. An einem Frühsommerabend im Mai, im Jahr 2000 fing diese Achterbahn der Gefühle an. In Unterhaching sanken die Spieler von Bayer enttäuscht zu Boden, der junge Michael Ballack vergoss Tränen, da er mit einem Eigentor die entscheidende Niederlage eingeleitet hatte. Sogar Calmund, der durchaus wortgewandt durch die Medien spazierte, schloss sich in der Kabine ein – er wollte einfach nur alleine sein. Die Geschichte ist allseits bekannt: In Unterhaching hätte Leverkusen ein Punkt gereicht, am Ende standen eine Niederlage und ein knapp verpasster Meistertitel. Emerson, damals Brasilianer bei Bayer, wechselte nach dieser Saison nach Rom und verkündete großspurig: „Bayer Leverkusen wird nie etwas gewinnen, nie, nie, nie.“ Damit sollte er erst mal leider recht behalten – denn zwei Jahre später setzte die Werkself noch einen drauf. Nach einer furiosen Saison mit herrlichem Offensivfußball unter Klaus Toppmöller verspielte Bayer die Meisterschaft, verlor das Pokalfinale gegen Schalke und das Finale der Champions League gegen Real Madrid. Dreimal Vize in einer Saison – einzigartig und äußerst schmerzhaft. Der Journalist und Bayer-Anhänger Jannis Carmesin brachte das Fan-Dasein bei Bayer Leverkusen in den vergangenen Jahren auf den Punkt: „Jahr für Jahr starteten meine Freunde und ich mit ein paar Krümeln naiver Hoffnung in die neue Spielzeit, dass es dieses Mal vielleicht wirklich mal klappen könnte. Ein Teil des Reizes, Bayer-Fan zu sein, war immer auch die Chance, zu einer Generation Null zu gehören, die jene Saison miterlebt hat, über die noch in Jahrzehnten gesprochen werden würde. Zu der Generation, die endlich eine Meisterfeier miterlebt.“ Doch wie ungerecht der Fußball in solchen Fällen sein kann, stellte er auch klar: „Die Realität war eine andere. Wir sahen jedes Jahr ein paar tolle Spiele, die sich aber unterm Strich mit Grottenkicks gegen Augsburg oder Hoffenheim aufwogen, reisten unter der Woche zu Europapokalspielen nach Trondheim oder Bergamo und am Ende stand verlässlich Tabellenplatz drei bis acht“, so schreibt es Carmesin in einem Beitrag der „Zeit“.

Doch dann änderte sich etwas. Im Herbst 2022, als Bayer Leverkusen am absoluten Bundesliga-Tiefpunkt und auf den Abstiegsplätzen stand: Xabi Alonso wurde Trainer in Leverkusen, führte die Mannschaft schnell nach oben und am Ende der Saison auf Tabellenplatz sechs und ins Halbfinale der Europa League. Vor allem Alonso ist das Gesicht des Triumphs, jedoch nicht das einzige Puzzlestück. Auch Simon Rolfes hat einen großen Anteil. Rolfes ist mittlerweile 42 Jahre alt, spielte zehn Jahre für die Werkself. Nach seinem Karriereende wurde er Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, dann Sportdirektor, mittlerweile ist er Geschäftsführer Sport. Er wirkt genauso wie damals auf dem Platz: nicht im Rampenlicht, aber enorm wichtig.
DFB-Pokal wohl nur noch Formsache
Unter seiner Regie verpflichtete der Verein im vergangenen Sommer unter anderem Jonas Hofmann, Victor Boniface, Alejandro Grimaldo und Granit Xhaka. Sie alle wurden Stammspieler und hatten einen großen Einfluss innerhalb dieser Saison. Vor allem Xhaka ist der Unterschiedsspieler, der Kopf dieser Mannschaft, der Anführer und Taktgeber. Auch seinetwegen konnte Florian Wirtz in dieser Saison die Entwicklung nehmen, die er nahm. Wirtz bereitet vor, schießt Tore, dribbelt mit Leichtigkeit und ist vor allem – eher untypisch für diesen Spielertypen – gegen den Ball eine absolute Waffe. Xhaka brachte es dann vor Kurzem auch auf den Punkt, warum die Mannschaft so erfolgreich sei: „Man gewinnt Spiele mit ein paar Spielern, aber als Mannschaft gewinnt man Titel.“ Weitere Titel sind in dieser Saison auch möglich; vor allem ins DFB-Pokalfinale geht Bayer Leverkusen als absoluter Favorit gegen den 1. FC Kaiserslautern. Offen gesagt wäre Leverkusen gegen jeden Gegner der Favorit – in dieser Saison wohl auch gegen die Bayern. Für Jonas Hofmann beispielsweise war das Spiel gegen den Rekordmeister in der Rückrunde, die Mannschaft, die in den vergangenen elf Jahren durchgehend Meister wurde, das Signalspiel, das den Spielern zeigte: In diesem Jahr ist etwas möglich. So wurden es dann sechs Punkte Vorsprung, dann acht, irgendwann waren es 16 und plötzlich war Leverkusen nicht mehr Neverkusen sondern Meisterkusen.

Das soll zudem nicht das Ende der Fahnenstange gewesen sein. Vor dem Abflug zum Europa-League-Viertelfinale nach London machte Sport-Geschäftsführer Simon Rolfes die Leverkusener Zielsetzung klar: „Wir wollen das Maximale. Wir sind gut drauf, haben Selbstvertrauen. Es gibt keinen Grund, zurückhaltend zu sein.“ Die Hürde West Ham überstand Bayer. Nun wartet das Halbfinale. Große Ziele ausrufen, aber dann doch mit absoluter Demut an die Aufgabe herangehen. Für Rolfes war das in dieser Saison ein Erfolgsrezept. „In der Bundesliga hatten wir Respekt vor jedem Gegner. Das ist ein Grund, warum wir so viele Spiele gewonnen haben“, so der Geschäftsführer Sport. Am Tag der Meisterschaft wurde Rolfes mit Tränen in den Augen im Kabinengang gesichtet, feiernd mit seiner ebenfalls vom Glück überrumpelten Familie. Doch, so merkte der Manager an, „der Alltag holt einen schnell wieder ein“. Auf einer Liga-Tagung am Montag in Frankfurt habe er viele Glückwünsche und viel Anerkennung bekommen – von der er sich aber nicht ablenken lassen möchte. Dass es in der Mannschaft nach der frühzeitigen Meisterfeier zu einem Spannungsabfall kommen könnte, befürchtet Rolfes nicht. Man habe ja schon gegen Bremen gesehen, „dass wir immer weitergemacht haben“, sagte er. Florian Wirtz „wollte ja gar nicht damit aufhören, Tore zu schießen“. Dem Supertalent war ein lupenreiner Hattrick gelungen. Doch alle Spieler seien Teil des Erfolgs, betonte Rolfes, der Teamgeist sei hervorragend. „Wir hatten immer alle drei Ziele im Blick. Eins haben wir erreicht, zwei bisher nicht. Deswegen machen wir weiter.“
Alle Fans der Bundesliga werden sich noch daran gewöhnen müssen, dass Bayer Leverkusen sich vom Fluch des ewigen Verlierers befreit hat. Dabei kann Leverkusen für viele als Vorbild gelten. Der Weg ist selbst in dieser Saison noch nicht zu Ende. Vorbei sind nur die Zeiten von „Vizekusen“.