Diversität und Unterhaltung ist möglich
Während Streamingdienste politisch korrekter und diverser werden wollen, behaupten kritische Stimmen, den Zuschauerinnen und Zuschauern sei das völlig egal. Sollte es aber vielleicht nicht sein.
Pro
m Jahr 2022 erklärte das deutsche Wirtschaftsmagazin „Wirtschaftswoche“, Netflix habe ein „Wokeness-Problem“. In einer von ihr bei dem Meinungsforschungsunternehmen Civey in Auftrag gegebenen Umfrage gaben 35 Prozent aller Befragten an, sie fänden es falsch, dass Netflix sein Programm diverser und inklusiver gestalten möchte; 30 Prozent fanden das genau richtig, weitere 35 Prozent waren unentschlossen. Diese Unentschlossenheit wertet das Wirtschaftsblatt als Ausdruck für Gleichgültigkeit. Doch wie divers sind Film und Fernsehen?
Eine Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität in 2020 ausgestrahlten TV- und Kinder-TV-Produktionen vom Institut für Medienforschung der Universität Rostock zeigt, dass auf eine Frau im deutschen Fernsehen rund zwei Männer kommen. Zum Großteil erklären noch immer Männer die Welt, selbst in Berufsfeldern, in denen überwiegend Frauen arbeiten. Auch im Kinderfernsehen sind weibliche Fantasie- und Tierfiguren deutlich unterrepräsentiert. In fiktionalen TV-Produktionen können gerade mal rund zwei Prozent der Protagonisten und Protagonistinnen als homosexuell oder bisexuell gelesen werden. Menschen mit Migrationshintergrund, Schwarze oder People of Colour (PoC; internationale Selbstbezeichnung von/für Menschen mit Rassismuserfahrungen, Anm. d. Red.) sind genauso unterrepräsentiert wie Menschen mit Behinderung. Immerhin die Alterslücke hat sich im Vergleich zu 2016 ein wenig geschlossen. Auch in der Altersgruppe zwischen 50 und 59 sind jetzt mehr Frauen zu sehen.
Also ist der Großteil der Menschen, die wir im Fernsehen sehen, noch immer jung, weiß, heterosexuell und nicht behindert. Nach der Civey-Umfrage scheint das mehr als 30 Prozent der Befragten nicht zu stören. Die Frage ist jedoch: Entspricht es einem realistischen Abbild unserer Gesellschaft? Und das lässt sich eindeutig beantworten: Nein.
Nicht nur ein Teil der Gesellschaft sichtbar
Was ist falsch daran, nicht nur einen Teil der Gesellschaft sichtbar machen zu wollen, sondern so viele wie möglich? „Was man heute denn noch sagen darf und was nicht“ finden viele anstrengend. Aber: Was ist falsch daran, zu hinterfragen, ob bestimmte Stereotype und Formen von Sprache verletzen und es möglicherweise angemessenere Alternativen gibt? Denn auch Sprache hat sich schon immer verändert und wird es immer tun. Und ein möglichst respektvoller Umgang miteinander ohne Diskriminierung kann doch erst einmal nicht so verkehrt sein. Oder? Schließlich möchte man selbst auch nicht grundlos verletzt werden. Die Chancen stehen natürlich ganz gut, wenn man der sogenannten „gesellschaftlichen Norm“ entspricht. Daher schadet es nicht, sich einmal in die Situation von Menschen hineinzuversetzen, die durch dieses vorgefertigte Raster fallen. Und zwar nicht, weil sie sich das so ausgesucht haben, sondern weil es ihnen von außen zugeschrieben wird.
Dass es möglich ist, Diversität und Unterhaltung in einem anzubieten, hat Netflix jedenfalls gezeigt. Immerhin bewiesen die Ergebnisse der Analyse von Netflix-Filmen und -Serien aus den USA von 2020 bis 2021 eine deutliche Verbesserung für Frauen und Menschen aus unterrepräsentierten ethnischen Gruppen – sowohl vor als auch hinter der Kamera. Und trotzdem ruht sich der Streamingdienst nicht darauf aus und will zukünftig bei der Repräsentation bestimmter ethnischer Gruppen und auch bei Figuren mit Behinderung noch besser werden.
So schön Fiktion auch sein kann, nützt sie niemandem, wenn sie in den Köpfen von Kindern und Erwachsenen einseitige Vorstellungen von Menschen und Gesellschaft hervorruft. Dass diese mit der Realität kollidieren, ist nur eine Frage der Zeit. Denn die Realität ist nicht Schwarz oder Weiß, sie ist vielfältig und heterogen. Wer also ein Problem mit Diversität und politischer Korrektheit in Film und Fernsehen hat, der sollte sich fragen, ob er vielleicht ein Problem mit der Realität hat. Celine Koch
Spiegelbild der Gesellschaft
Political Correctness ist gut gemeint und wichtig, in absoluter Form aber ein gefährlicher Weg.
Contra
Haben Sie in den vergangenen Monaten mal bewusst TV-Werbung geschaut? Ob Baumarktwerbung von Obi, die Suche nach einem Gebrauchten bei Autoscout24, Tiefkühlbrötchen von Coppenrath & Wiese, Burger von McDonalds, Jobs und Dienstleistungen bei der Deutschen Bahn oder Nassrasierer von Gillette: Überall ist man peinlich darauf bedacht, dass die Protagonisten so divers wie nur möglich sind. Die Liste entsprechender Spots ließe sich übrigens problemlos verlängern.
Jung und Alt, Dick und Dünn, möglichst viele verschiedene Ethnien, von der klassischen Partnerschaft bis zur multikulturellen Patchworkfamilie und alle erdenklichen anderen Modelle des Zusammenlebens, mit körperlichen Einschränkungen und ohne. Alles am besten in einen Spot gepackt.
Stört mich das? Überhaupt nicht. Fällt es auf? Eindeutig. Bildet es die Lebenswirklichkeit des Durchschnittsdeutschen ab? Ganz sicher nicht. Die Angst davor, irgendjemanden vergessen zu können und so den nächsten Shitstorm zu provozieren, ist allerdings bei vielen mittlerweile so groß, dass krampfhaft versucht wird, es möglichst jeder Gruppe recht machen zu wollen. Und vor allem bloß niemanden dabei zu vergessen. Paradoxerweise führt dies – zumindest im Fall der Werbung – dazu, dass Minderheiten innerhalb der Gesellschaft hier sogar deutlich überrepräsentiert sind. Der Versuch, es jedem recht machen zu wollen, ist in der Werbung nicht schlimm. Das tut niemandem weh.
Stetige Bevormundung, wie was zu bewerten ist
In anderen Lebensbereichen treibt das Streben nach ständiger und absoluter Political Correctness, wie es auf Neudeutsch heißt, allerdings bedenkliche Blüten. Bleiben wir beim vermeintlich banalen Thema Fernsehen oder Streaming. Fand ich bei Streamingdiensten Hinweise wie etwa „enthält Rauchen, Alkohol, Schimpfwörter“ anfangs irritierend oder amüsant, empfinde ich vieles andere inzwischen als mindestens fragwürdig. Wenn etwa der Westdeutsche Rundfunk in seiner Mediathek Beiträge des Blödelbarden Otto Waalkes aus den Jahren 1973 und 1974 mit Warnhinweisen versieht wie „enthält Passagen mit diskriminierender Sprache und Haltung“ oder „enthält Passagen, die heute als diskriminierend betrachtet werden“, stelle ich mir schon die Frage, ob mir als Zuschauer nicht mehr zugetraut wird, das, was ich zu sehen bekomme, selbst einzuordnen. Was bringen solch vage Hinweise, die noch nicht einmal die entsprechenden Passagen konkret benennen? Warum wird ständig versucht, mir zu erklären, wie ich das, was ich mir ansehe, zu bewerten habe? Warum muss ich ständig vor allem gewarnt werden, was nicht dem aktuellen Zeitgeist entspricht? Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich zwar weiß, dass etwa ein uralter Gag so heute nicht mehr funktionieren würde, ich aber trotzdem darüber lache?
Regelrecht gefährlich wird es allerdings, wenn ganze Werke – egal ob literarische oder filmische – verändert werden, nur weil sie gerade nicht mehr zeitgemäß sind. Wenn einzelne Passagen rausgenommen, umgeschrieben oder neu vertont werden. Oder ganze Filme nicht mehr gezeigt werden. 2022 entbrannte etwa einer Dikussion, Winnetou-Filme nicht mehr zu zeigen. Literarische und filmische Werke sind aber immer Spiegelbilder ihrer Zeit und sollten als solche auch so erhalten bleiben. Alles andere ist schlicht Geschichtsverfälschung – und Zensur. Mittel, die man bislang eigentlich nur aus totalitären Systemen kannte.
Das vermeintlich banale Thema Fernsehen oder Streaming lässt sich eins zu eins auf alle anderen Gesellschaftsbereiche übertragen. Unsere aktuelle Gesellschaft hat in weiten Teilen verlernt, andere Meinungen als die eigene auszuhalten. Hat verlernt, konstruktiv zu streiten. Doch das ist Kern einer Demokratie. Eine Gleichschaltung des Denkens war bislang noch immer das Ende einer jeden Demokratie. Jörg Heinze