Während sein größter Rivale mühsam um sein Comeback kämpft, besticht Tadej Pogacar mit einer phänomenalen Frühform. Die will er auch beim Giro d’Italia beweisen und sich das rosafarbene Trikot sichern. Ein Wagnis mit Blick auf die Tour de France.

Der rechte Arm ist in eine Schlaufe gelegt, ein dickes Pflaster lugt aus dem schwarzen T-Shirt hervor, das Krankenhaus-Armbändchen ist noch um das Handgelenk gewickelt – aber Jonas Vingegaard lächelt und zeigt den linken Daumen nach oben. Bei seiner ersten Nachricht an die Fans seit seinem Horror-Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt Anfang April war der dänische Radstar bemüht, Optimismus zu verbreiten. Einen Hinweis für den genauen Zeitpunkt seines Comebacks gab er jedoch nicht. „Ich habe in den vergangenen Tagen so viel moralische Unterstützung erhalten. Das war herzerwärmend“, schrieb Vingegaard bei Instagram: „Jetzt ist es an der Zeit, mich wieder völlig zu erholen. Daumen hoch!“ Einer der ersten Kommentare von Fans zu dem Post lautete: „Sehe dich bei der Tour de France!“ Doch ob der Tour-Gewinner der vergangenen zwei Jahre tatsächlich beim größten und wichtigsten Radrennen der Welt wird antreten können, war die spannendste Frage der vergangenen Wochen in der Szene. Und eine, die natürlich auch Tadej Pogacar brennend interessierte.
Vingegaard bangt um Tour-Start
Vingegaards größter Rivale würde von einer Absage des Dänen am meisten profitieren, er wäre automatisch der unumstrittene Favorit für die am 29. Juni beginnende Große Schleife. Anfang Mai wollte Vingegaards Team Visma eine finale Entscheidung treffen. Doch selbst wenn diese einen Tour-Start von Vingegaard beinhalten würde, käme zweifelsohne die Frage nach der Titelform auf. Das Höhentrainingslager im Mai findet auf jeden Fall ohne den Kapitän statt, der angesichts der massiven Verletzungen (gebrochenes Schlüsselbein, gebrochene Rippen, Lungenquetschung) zunächst komplett gesund werden muss. „Er wird zuerst nur gehen, dann auf der Rolle fahren und dann auf der Straße. Das ist der Prozess, aber ich kann nicht sagen, wann das passieren wird“, sagte Visma-Sportdirektor Frans Maassen vor zwei Wochen. Bei einem Ausfall kämen Vuelta-Sieger Sepp Kuss und der frühere Tour-Dritte Steven Kruijswijk für die Visma-Kapitänsrolle bei der Tour infrage. Sehr starke Fahrer, keine Frage, aber keine Ausnahmekönner. Doch Pogacar wäre es gar nicht recht, wenn sein ärgster Rivale verletzungsbedingt fehlen würde. Er liebt das Kräftemessen mit seinem größten Konkurrenten – auch wenn er dabei zuletzt zweimal das Nachsehen gehabt hatte.
Er sei „wirklich glücklich, einen solchen Rivalen zu haben“, äußerte der 25-jährige Slowene über den zwei Jahre älteren Vingegaard: „Wir haben großen Respekt voreinander.“ Das Duell der Tour-Gewinner der vergangenen vier Jahre sei etwas, „das in die Geschichtsbücher eingehen wird“, meinte Pogacar, „wir sind gut für eine Show in den nächsten Jahren“. Bislang habe man sich zwar vor allem bei der Tour de France gemessen, „aber ich denke, dass wir uns in Zukunft auch bei anderen Rennen treffen werden“. Doch auch ohne Vingegaards schwere Verletzungen wäre ein direktes Aufeinandertreffen in dieser Saison nicht so häufig passiert, die beiden Topstars der Szene bevorzugen einen jeweils individuellen Formaufbau und scheinen sich möglichst lange aus dem Weg gehen zu wollen. So geht zum Beispiel Pogacar beim am 4. Mai beginnenden Giro d’Italia an den Start – ein Risiko, das Vingegaard mit Blick auf die Tour de France nicht eingehen würde.
Bereit für neue Herausforderung

„Bevor ich das je selbst ausprobieren möchte, möchte ich zunächst wissen, ob es möglich ist, nach der Tour das gleiche Niveau bei einer Vuelta zu erreichen“, sagte Vingegaard. Im Vorjahr hatte er nach seinem Sieg in Frankreich bei der anschließenden Vuelta in Spanien nicht die Kraft gehabt, Teamkollege Kuss sportlich den Triumph streitig zu machen. „Ich war in Frankreich in Bestform. Das war in Spanien nicht der Fall“, äußerte Vingegaard. Sollte er die Tour-Vuelta-Kombination nicht erfolgreich abschließen können, glaube er auch „nicht, dass ich jemals die Kombination aus Giro und Tour machen werde“. Es sei „schwierig zu sagen, ob man bei zwei Grand Tours auf dem gleichen Niveau fahren kann.“ Pogacar glaubt fest daran und ist entschlossen, es dieses Jahr zu beweisen. Bei seinem Debüt auf der italienischen Grand Tours (4. bis 26. Mai) will er sich nicht nur irgendwie für den Saisonhöhepunkt in Frankreich einrollen, sondern den Kampf um das Rosa Trikot auch für sich entscheiden. Das Kunststück, beide Grand Tours in einem Jahr zu gewinnen, war zuletzt 1998 dem Italiener Marco Pantani gelungen. 2004 verstarb Pantani auf tragische Weise. In der Nachkriegsgeschichte haben erst sieben Radprofis bei beiden großen Rundfahrten triumphiert, auch deshalb lassen die besten Klassementfahrer den Giro oft aus. Doch Pogacar will es sich und den Skeptikern beweisen.
„Ich bin für diese neue Herausforderung bereit“, sagte der Slowene vor dem Startschuss der 107. Ausgabe des Traditions-Events: „Ich bin jetzt älter, und ich denke, dass ich zwei große Touren bewältigen kann.“ Aber warum unbedingt in Italien, nur zwei Monate vor der Tour de France? „Es war immer mein Ziel, den Giro zu fahren“, antwortete Pogacar: „Ich denke, dass der perfekte Zeitpunkt jetzt gekommen ist.“ Selbst einen Start im Herbst bei der Vuelta schloss der Radstar nicht aus. „Mal sehen, was nach der Tour noch im Tank ist.“ Schließlich steht zuvor noch das olympische Straßenrennen in Paris an. „Olympia ist Olympia, das ist toll“, sagte er. Und mit den Weltmeisterschaften Ende September in Zürich gibt es ein weiteres Highlight. Umso erstaunlicher mutet Pogacars Wagnis mit dem Doppelstart in Italien und Frankreich an. Doch seine aktuelle Form spricht dafür, dass er und sein Team sich das gut überlegt und sich einen guten Saisonplan überlegt haben.

Pogacar gilt als vielseitigerer Fahrer im Vergleich zu Vingegaard, das bewies er auch wieder in dieser Saison. Sein herausragender Sieg beim Schotter-Rennen Strade Bianche mit einem Vorsprung von 2:44 Minuten war geschichtsträchtig. Einen so großen Vorsprung hatte in 15 Jahren zuvor kein Profi bei einem World-Tour-Rennen herausgefahren. Pogacar liebt die harten Eintagesrennen, hier holt er sich die Kraft für die Grand Tours. Und auch das Selbstvertrauen. Bei seiner Triumphfahrt vor zwei Woche bei Lüttich-Bastogne-Lüttich bewies Pogacar einmal mehr, was für ein Ausnahmekönner er auf dem Rad ist. Der Slowene setzte sich mit einer Attacke beim Anstieg zum Côte de la Redoute – mit einer durchschnittlichen Steigung von 9,4 Prozent die schwierigste Stelle des Rennens – von seinen Konkurrenten um den diesmal chancenlosen Weltmeister Mathieu van der Poel ab und feierte seinen insgesamt zweiten Sieg beim schweren Frühjahrsklassiker. Seine 35 Kilometer lange Solo-Fahrt war beeindruckend, keiner konnte ihm folgen. Er schien unbezwingbar auf dem Rad.
Pogacar lobt die Helfer im Team
Dabei sei es wegen des Wetters zunächst „ein miserabler Tag“ gewesen, äußerte der Sieger hinterher, „aber wir haben mit dem Team ein hohes Tempo angeschlagen und uns warm gefahren“. In der Stunde des Triumphes vergaß er auch nicht, seine Mitstreiter des UAE-Teams zu loben. Allen voran sein slowenischer Landsmann Domen Novak leistete ihm fast bis zum Schluss wichtige Helfersarbeit. „Ohne mein Team“, meinte Pogacar, „hätte ich dieses Rennen nicht gewinnen können, deshalb möchte ich mich bei ihm bedanken. Das Team ist in den Anstiegen hart und in den Abfahrten vorsichtig gefahren und an der Redoute haben wir das umgesetzt, was wir uns vorgenommen hatten.“ Auch das ist eine wichtige Erkenntnis, denn in den Vorjahren hatte Vingegaard bei der Tour meist auch deshalb triumphiert, weil sein Team insgesamt stärker war als das von Pogacar. Mit hohem Tempo zermürbte UAE nun Van der Poel als stärksten Widersacher. Schon bei Paris-Nizza hatte die Mannschaft mit der Lizenz der Vereinigten Arabischen Emirate, zu der auch der deutsche Radprofi Nils Politt gehört, sich hervorragend präsentiert und die Teamwertung gewonnen.

Unmittelbar nach der Zielankunft in Lüttich war der Dominator in Gedanken bei der verstorbenen Mutter seiner Verlobten. Die Nachricht von ihrem Tod hatte ihn vor zwei Jahren ereilt, deswegen war er damals eiligst aus Lüttich abgereist. Wegen dieser Erinnerungen sei es „ein emotionaler Tag“ für ihn gewesen, berichtete Pogacar: „Ich habe an Urskas Mutter gedacht, als wir vor zwei Jahren nach Hause mussten. Und an letztes Jahr, als ich mir die Hand gebrochen habe. Die letzten zwei Jahre waren sehr schwierig für mich. Ich bin für Urskas Mutter gefahren und bin sehr glücklich, dass ich dieses wunderschöne Rennen gewinnen konnte.“ Bei der Ausgabe im Jahr 2023 hatte er sich bei einem heftigen Sturz das linke Handgelenk und einen Knochen in der Hand gebrochen. Pogacar war zwar rechtzeitig zur Tour de France zurückgekehrt, doch in den ganz anspruchsvollen Rennsituationen fehlten dem am Ende Zweitplatzierten die Kraft, um seinen Dauer-Rivalen Vingegaard vom Thron zu stoßen. Diesmal könnten die Vorzeichen genau anders herum stehen – sofern der Däne es überhaupt bis nach Frankreich schafft.
So oder so dürfte Pogacar als Favorit an den Start gehen, sofern nicht auch ihn beim Giro ein Sturz ereilt – was in diesen Tagen nun wirklich nicht ausgeschlossen werden kann. „Ich bin jedes Jahr ziemlich zuversichtlich, aber es gibt so viele Dinge, die schiefgehen können, aber auch solche, die richtig laufen können“, sagte Pogacar. Sechs Triumphe bei den fünf Monumenten (bedeutendste Klassiker des Radsports), zwei Tour-de-France-Siege – doch „Pogistar“ hat längst noch nicht genug. Der Mann, der 2020 wie Phoenix aus der Asche stieg und die Radsportwelt aus ihren Angeln hob, will mehr. Und in diesem Jahr hat er reichlich Chancen dazu. Dafür geht er auch gern das Risiko eines Doppelstarts ein.