Der Visionär Emmanuel Macron, der Realist Jean Asselborn und der Bischof Stephan Ackermann. Drei Sichtweisen auf den Zustand der EU, die Herausforderungen, die Risiken und die Zukunftschancen.

Emmanuel Macron hat es wieder einmal getan. An der altehrwürdigen Sorbonne hat er einmal mehr Europa ins Gewissen geredet, und einmal mehr mit drastischen Worten, die hängenbleiben. So wie der „Hirntod“, den er einst der Nato bescheinigte, warnt er diesmal: „Europa kann sterben“. Mit seiner zweiten „Sorbonne-Rede“ stellt sich der französische Präsident in gewisser Weise in seine eigene Tradition als scharfer Analytiker mit visionärem Anspruch.
Macron wirbt für ein „Europa der Stärke, des Wohlstands und des Humanismus“, das sich deutlich stärker im globalen Ringen behaupten muss, gegenüber China (wirtschaftliche Abhängigkeit), gegenüber Russland (militärisch-imperialistische Bedrohung). Aber auch gegenüber den USA, Partner und Konkurrent zugleich. Für all das brauche es einen Paradigmenwechsel mit dem Ziel, sich aus einer „strategischen Unmündigkeit“ zu befreien und eine „strategische Glaubwürdigkeit“ zu entwickeln.
Starke Worte für einen, der Europa vorantreiben will. Kritiker halten ihm aber nach „Sorbonne II“ dasselbe Dilemma entgegen, das sich schon in „Sorbonne I“, seiner ersten großen Europarede vor sieben Jahren, gezeigt hat: das Dilemma zwischen großer Vision eines idealen Europa und den Niederungen der Umsetzung im praktischen Politikalltag, in dem Interessen von 27 Mitgliedsstaaten unter einen Hut zu bringen sind. Und das nicht „per Ordre du Mufti“, sondern im mühsamen Ausgleich und in zentralen Fragen unter der Bedingung des Einstimmigkeitsprinzips.
Europa kann sterben – darf aber nicht
Ein Dilemma, das jemand wie Jean Asselborn aus jahrzehntelanger Erfahrung kennt. Der frühere luxemburgische Außenminister war bis zu seinem Ausscheiden im vergangenen Jahr der bis dahin dienstälteste Außenminister aller EU-Mitgliedsstaaten. Einer, der nie um ein klares Wort verlegen war und es bis heute nicht ist.
Dies unterstrich er eindrucksvoll am selben Abend, an dem Macron seine Europarede hielt – der Präsident an der ehrwürdigen Sorbonne in Paris, der erfahrene Ex-Außenminister in Saarbrücken, im Herzen der Großregion mit den größten Pendlerströmen in der EU. Täglich gelebte und erfahrene grenzeuropäische Realität. Mit den großen Visionen einer Region, die es irgendwann auch einmal leid war, ständig nur Aufmarschgebiet zu sein, mit jeweils anschließend neuen Grenzziehungen. Eine Region, die wie kaum eine andere unmittelbar um den Wert der europäischen Einigung weiß, aber eben auch täglich erlebt, was alles noch an Hürden zu bewältigen wäre.
Eine Region, die auch schmerzhaft erfahren hat, wie fragil das alles ist. Die geschlossenen Grenzen, kontrolliert und bewacht, während der Corona-Pandemie stecken immer noch tief in den Knochen und waren nicht nur für Asselborn ein einschneidendes Erlebnis. So etwas dürfe sich nie mehr wiederholen, sagt nicht nur der luxemburgische Außenpolitiker. Das sagen auch die Vertreter von Pulse of Europe, auf deren Einladung Asselborn zu einer Diskussion über die Zukunft Europas nach Saarbrücken gekommen war. Pulse of Europe ist eine „Bürgerbewegung“, die „parteiunabhängig“ ist, wie Erik Pazzi und Knut Engler betonen, und die sich „für ein freiheitliches, offenes Europa“ engagiert. „Demokratie ist kein Perpetuum mobile“, das wie von Geisterhand ständig in Bewegung ist, unterstreicht Engler. Demokratie muss schon durch eigenes Zutun in Bewegung gehalten werden. Aus seiner Sicht kommt es bei der bevorstehenden Wahl vor allem auf junge Menschen an. In Deutschland darf erstmals ab 16 gewählt werden, das heißt, dass diesmal gleich sieben Jahrgänge zum ersten Mal an einer Europawahl teilnehmen dürfen.
Dass aber gerade junge Menschen eine besondere Begeisterung für Europa hätten, wie es frühere junge Generationen an den Tag gelegt haben, ist heute keineswegs mehr eine Selbstverständlichkeit. Junge Menschen in Deutschland sind nach der aktuellen Jugendstudie nicht nur deutlich pessimistischer geworden, bei ihnen zeichnet sich auch ein starker Trend zu rechtspopulistischen Einstellungen ab. Über ein Fünftel der befragten jungen Menschen zwischen 14 und 29 Jahren gab an, die AfD wählen zu wollen.
Ein Alarmsignal, das für einige Irritation gesorgt hat, profitieren doch gerade junge Menschen besonders von der Freizügigkeit, den offenen Grenzen und Bildungschancen, etwa durch das „Erasmus“-Programm, über das weit über eine Million Stipendien gefördert wurden und das durch „Erasmus+“ erweitert wurde. Jean Asselborn rät deshalb, Jugendlichen mit einer ebenso klaren wie einfachen Antwort zu begegnen: „Wenn ihr die wählt, die Europa kaputtschlagen wollen, schadet ihr euch nur selbst.“
Der Einladung von Pulse of Europe war auch der Trierer Bischof Stephan Ackermann gefolgt, der von sich selber sagt: „Ich bin ein Kind Europas, bin in Europa groß geworden, habe von Europa profitiert, auch was das Studium (in Rom) angeht und die vielen Reisen und Begegnungen.“ Neben seiner „Leidenschaft für Europa“ stehe aber auch eine gewisse Ratlosigkeit, gerade deshalb, weil offenbar insbesondere junge Menschen, die in Frieden, Sicherheit und Wohlstand aufwachsen, nicht sehen, dass das keineswegs Selbstverständlichkeiten sind, sondern „ein Projekt ist, an dem man immer arbeiten muss“.
Einen Beitrag dazu soll auch ein gemeinsamer „Hirtenbrief“ der Bistümer in der Großregion (Trier, Metz, Luxemburg, Lüttich, Verdun, Nancy, Touls und Troyes) sein. Schon der Titel „Frischer Wind für Europa“ macht klar, dass auch aus Sicht der Euregio-Bischöfe die europäische Idee, aber auch die konkrete Politik neue Impulse und neue Begeisterung braucht. Vor allem wollten auch die Bischöfe selbst bei allen Unterschieden in ihren Bistümern eines zusammen zeigen: „Wir sind überzeugte Europäer.“
„Wer Christ ist, kann kein Nationalist sein“
Dabei treibt auch die Bischöfe der Rechtsruck um. Ackermann verweist auf die klare Haltung der Deutschen Bischofskonferenz: „Wir haben uns klar gegen völkischen Nationalismus positioniert“ und, für solche Positionierungen eher ungewöhnlich, nicht nur allgemeine Formulierungen gewählt, sondern eine Partei, die AfD, benannt. Bischöfe und Kirche seien auch vorher schon nicht unpolitisch gewesen, „aber es gibt besondere Herausforderungen, wo man Dinge klarerer benennen muss“. Deshalb gelte: „Wenn ich Christ bin, kann ich kein Nationalist sein.“ Bischof Ackermann wirbt auch deshalb dafür, sich an der Wahl zu beteiligen. „Das Schlimmste wäre, wenn es Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit geben würde. Dann überlassen ich denen das Feld, die Leute mobilisieren, auch mit Angstkampagnen.“
Oder mit falschen Versprechungen und Lügen, ergänzt Asselborn, und verweist dabei auf den Brexit. „Der ist zustande gekommen durch Lügen.“ Aus dem Versprechen, dass es danach allen Leuten besser gehen würde, sei erkennbar auch nichts geworden.

Asselborn wird ziemlich häufig danach gefragt, was nach seiner Einschätzung passieren würde, wenn die Parteien am rechten Rand in Europa das Sagen hätten, und seine Antwort fällt aus Erfahrung mit Ländern, in denen es diese Entwicklung gab, immer gleich aus: „Das Erste, was passiert, ist, dass der Europäische Gerichtshof abgeschafft wird. Das Zweite, was passiert: Wir haben wieder an jeder Grenze Polizisten, Gendarmen und Zöllner. Warum? Weil man den Menschen sagen will: Jetzt haben wir mehr Sicherheit.“ Erwartungsgemäß hält Asselborn derartige Vorstellungen für die „total falsche Richtung“.
Im Übrigen hat aus Sicht Asselborns der Brexit gezeigt, was wirklich passiert. „Dieser Brexit ist ja zustande gekommen durch Lügen. Johnson und Farage haben gesagt: Wenn wir aus Europa rausgehen, dann geht es uns besser, wir werden reicher. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Ich glaube, dass in zehn Jahren die Briten wieder an unsere Tür klopfen und fragen, dass sie wieder zurückkommen wollen. Denn es geht ihnen nicht gut.“
Das drängendste Problem aus seiner Sicht sind aber die beiden Kriege. „Den Krieg im Süden können wir nicht so beeinflussen, dass er aufhört. Was den Krieg im Osten betrifft, können wir alles dafür tun, dass die Ukraine nicht niedergewalzt wird. Wenn Putin gewinnt in der Ukraine, dann steht er vor Polen, vor Europa. Wenn er durchkommt, ist Europa in Gefahr. Deshalb müssen wir den Ukrainern helfen, nicht andere anzugreifen, sondern sich selber zu verteidigen.ö“ Die Amerikaner hätten keine einzige Munition seit dem 1. Januar geliefert. Jetzt ist der Umschwung gekommen, aber damit allein werde der Krieg nicht gewonnen. „Wir sind mit jemandem konfrontiert, der kriegerisch vorgehen will. Wir müssen den Ukrainern helfen, dass wir wieder eine gewisse Stabilität bekommen. Alles andere ist wichtig, aber das hier ist sehr wichtig und eine Herausforderung für uns alle, der wir uns stellen müssen.“