Bei der ersten Austragung Mitte Mai 1909 konnte niemand ahnen, dass sich der Giro d’Italia einmal zur zweitwichtigsten Landesrundfahrt im internationalen Fahrrad-Rennsport-Kalender entwickeln würde – nach der sechs Jahre älteren und als Vorbild dienenden Tour de France.
Eine riesige Menschenmenge hatte sich zu nachtschlafender Zeit und erhellt von Fackelschein an der Piazzale Loreto, einem zentralen Platz im Herzen von Mailand, am 13. Mai 1909 versammelt. Um genau 2.53 Uhr kam plötzlich Bewegung in die Besuchermenge und es setzte Jubel und Gebrüll aus Tausenden von Kehlen ein.
Ein Tross von 127 Radrennfahrern hatte gerade ganz locker in die Pedale getreten. Darunter frühe, von Teams gesponserte Profis ebenso wie ambitionierte Amateure, die fast ausschließlich aus Italien stammten.
Nur fünf Teilnehmer, darunter zwei vormalige Tour-de-France-Gewinner, kamen nicht aus Bella Italia. Alle waren sie gekommen, um die ersten Meter des ersten Giro d’Italia der Geschichte den Corso Buenos Aires entlang, eine der Hauptstraßen der lombardischen Stadt, in Angriff zu nehmen.
Nach dem langsamen Einfahren gab der Präsident des italienischen Radsportverbandes um exakt 3 Uhr den offiziellen Startschuss für die mit 397 Kilometern extrem lange erste von acht Etappen der neuen Rundfahrt durch Italien. Insgesamt führte der erste Giro d’Italia über rund 2.448 Kilometer – auf teils katastrophalen Straßen. Im Schnitt waren die Etappen jeweils stolze 306 Kilometer lang und wurden mit einer für die damalige Fahrrad-technik beeindruckenden Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 26 Kilometern pro Stunde bewältigt. Insgesamt sollte es aber der bis heute kürzeste Giro werden, der sich neben der Start- und Zielmetropole Mailand bei seinen Etappen-Ankünften lediglich auf Städte in Nord- und Mittelitalien beschränkt hatte – nämlich Bologna, Chieti, Neapel, Rom, Genua und Turin, während der Mezzogiorno, also Süditalien, gänzlich außen vor blieb.
Einer der Top-Favoriten schon ganz früh raus
Bereits nach gut zwei Kilometern kam es zum ersten Massensturz. Nach mehr als 14 Stunden Fahrzeit passierten die schnellsten Fahrer der ersten Etappe mit einem erstaunlichen Durchschnittstempo von mehr als 28 Kilometern pro Stunde bei strömendem Regen gegen 17 Uhr die Ziellinie in Bologna. Für einen der beiden italienischen Top-Favoriten, Giovanni Gerbi, genannt „Der rote Teufel“, war der Giro schon gleich nach dem Auftakt zu Ende. Der als „König des Schlamms“ titulierte 25-jährige Liugi Ganna hingegen schaffte es zumindest, sich auf dem vierten Platz in Lauerstellung zur Spitze zu bringen. Ganna war bereits seit 1904 Profi. Zuvor hatte er als Maurer gearbeitet. Sein kleiner zeitlicher Rückstand auf den jungen römischen Sensationssieger Dario Beni war allerdings belanglos, da für die Gesamtwertung des ersten Giro d’Italia nicht die reine Fahrzeit entscheidend war, sondern ein Punktesystem. Die Organisatoren orientierten sich dabei am großen Vorbild Tour de France. Zudem war das Ganze so deutlich billiger und viel einfacher zu überwachen als mit einer Zeitmessung.
Der Sieger jeder Etappe wurde mit einem Punkt bedacht, der Zweitplatzierte mit zwei Punkten und so weiter. Wer am Ende der Rundfahrt die niedrigste Gesamtpunktzahl aufwies, durfte sich nach Ende der achten Etappe, die am 30. Mai 1909 von Turin nach Mailand führte und nicht, wie heute üblich, als Schaulaufen ablief, über den Giro-Triumph freuen. Zudem war der Sieg mit der stolzen Summe von 5.325 Lira dotiert. Insgesamt wurden 25.000 Lira ausgeschüttet. Zum Vergleich: Ein Buchhalter kam damals auf ein Jahresgehalt von rund 1.700 Lira, ein italienischer Beamter auf etwa 2.000 Lira.
Wäre beim ersten Giro die Fahrzeit gemessen worden, hätte sich der mit 25 Punkten und bei drei Etappen siegreiche Luigi Ganna, dessen Mannschaft Atala auch die Teamwertung für sich entscheiden konnte, mit dem dritten Platz begnügen müssen. Sein Landsmann Giovanni Rossignoli hatte den Giro 1909 in der Bestzeit von 89 Stunden, 48 Minuten und 14 Sekunden absolviert. Er war damit mehr als 23 Minuten schneller als sein Teamkollege Carlo Caletti, der ebenfalls beim Fahrrad-Hersteller Legnano unter Vertrag stand und mehr als 30 Minuten schneller als der Gesamtsieger Ganna. Beim Sieger-Interview hatte Ganna die Frage nach seiner Gefühlswelt mit einer angesichts der überstandenen Strapazen eigentlich nicht sonderlich überraschenden Aussage beantwortet: „Mir brennt der Hintern.“
Angesichts der unvorstellbaren Schinderei, die die Teilnehmer besonders auf der ersten Bergetappe des Giro d’Italia auf dem dritten, über den Apennin führenden Streckenabschnitt bewältigen mussten, dürfte es kaum verwundern, dass lediglich 49 Fahrer das Ziel in der Arena Civica in Mailand erreichten. Auch nicht, dass es ähnlich wie bei der 1903 gegründeten Tour de France zu Schummeleien kam. Einige erschöpfte Sportler hatten sich in Zügen versteckt, um so einzelne Etappenabschnitte zu bewältigen. Das ging natürlich schief, da alle Fahrer vorab zur Vermeidung von Täuschungsmanövern fotografiert wurden. Die Bilder wurden an offiziellen und spontan eingerichteten Checkpoints, an denen sich jeder Fahrer registrieren lassen musste, verglichen. Flog die Schummelei auf, wurde der betreffende Fahrer disqualifiziert.
Fahrer mussten bei Pannen selbst ran
Die Rennräder damals bestanden größtenteils aus Stahl mit Holzfelgen und waren mit einem Gewicht von rund 15 Kilogramm ziemlich schwer. Sie unterschieden sich kaum von ganz normalen Velos und verfügten auch noch nicht über eine Gangschaltung, sondern nur über einen festen Gang. Steile Abfahrten konnten angesichts unzureichender Bremsen kaum ins Streckenprofil eingebaut werden. Da bei Reifenpannen oder kleineren Schäden während des Rennens fremde Hilfe laut dem Reglement nicht oder nur sehr bedingt erlaubt war, mussten die Fahrer zusätzlich Werkzeug, Ersatzreifen oder Pumpen mit sich führen und neben Getränken wie Wasser oder Wein sowie Brotrationen transportieren. Statt der heute üblichen Karawane von Begleitfahrzeugen folgten 1909 nur acht Autos dem Teilnehmerfeld, wobei sich die Teams vier Wagen teilten und jeweils zwei der Rennleitung sowie Journalisten vorbehalten waren.
Natürlich gab es beim Gründungs-Giro noch kein Trikot für den Führenden: Das berühmte Rosa Trikot wurde erst 1931 eingeführt, die Bergwertung zwei Jahre später. Jeder Fahrer trug sein individuelles Oberteil aus klassischer Wolle. Viele Stürze und auch geschlossene Bahnschranken beeinflussten entscheidend den Rennausgang. Dennoch machte sich entlang der Strecke eine an Hysterie grenzende Massenbegeisterung breit.
Dabei wurden selbst die kühnsten Erwartungen der Organisatoren übertroffen. Bei den letzten beiden Etappen wussten sie sich angesichts von Zehntausenden auf die Ankunft der Fahrer harrenden Tifosi in Turin und Mailand nur zu helfen, indem sie die Ziellinie um einige Kilometer vorverlegten, ohne dies öffentlich anzukündigen.
„Gazzetta dello Sport“ hatte Idee zum Giro
Dass das Rennen nicht an acht aufeinander folgenden Tagen, sondern über einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen über die
Bühne ging, war den Initiatoren des Giro d’Italia zu verdanken. Denn dahinter stand das Mailänder Journal „Gazzetta dello Sport“, das jeweils montags, mittwochs und freitags erschien und zur erhofften Auflagensteigerung mit entsprechenden Vorberichten die Etappenstarts auf sonntags, dienstags und donnerstags terminiert hatte. Eigentlich war das Unterfangen für die Chefs der seit 1898 auf rosa Papier gedruckten „Gazzetta“, die immerhin 1905 mit der Lombardei-Rundfahrt und 1907 mit Mailand-San Remo zwei später mit Klassiker-Ehren bedachte Rennen ins Leben gerufen hatte, mehr als eine Nummer zu groß. Denn das Blatt stand kurz vor der Pleite und konnte daher keinesfalls die finanziellen Mittel für die angedachten Preisgelder aufbringen.
Die Idee selbst war fraglos gut und wurde von zwei Redakteuren und dem Herausgeber Eugenio Camillo Costamagna abgesegnet – eine Landesrundfahrt durch Italien auf die Beine stellen zu wollen mit der Hoffnung, die „Gazzetta“ durch ansehnliche Verkaufserfolge, wie sie die französische Sportzeitung „L’Auto“ mit der Organisation der Tour de France erzielt hatte, zu stabilisieren und in die Gewinnzone bringen zu können. Da Gerüchte über ähnliche Pläne des großen Mailänder Konkurrenten „Corriere della Sera“ kursierten, hatte man bei der „Gazzetta“ Nägel mit Köpfen gemacht und am 7. August 1908 eine nationale Radsportveranstaltung mit einer Sondermeldung für den Mai 1909 angekündigt. Mit Hilfe eines Bankers sollte es schließlich gelingen, durch Anklopfen an vielen Türen die nötigen Spendengelder zu erhalten, darunter sogar einen Zuschuss des „Corriere della Sera“ in Höhe von 3.000 Lira oder eine finanzielle Unterstützung durch das Casino von San Remo.