Geopolitik, Handelskonflikte und der Klimawandel setzen den exportorientierten deutschen Industrieunternehmen zu. Mit einem schwachen Wirtschaftswachstum tritt die deutsche Volkswirtschaft auf der Stelle. Aber es gibt auch jede Menge hausgemachte Probleme, so der Ökonom Prof. Michael Grömling.
Herr Prof. Grömling, die deutsche Wirtschaft tut sich schwer in diesen instabilen Zeiten und Deutschland wird vielfach wieder als der „kranke Mann Europas“ bezeichnet. Woran liegt es?
Zunächst eine Gegenfrage: Ist die deutsche Wirtschaft tatsächlich so viel schlechter als die anderen Staaten in Europa? Als offene Volkswirtschaft mit einer hohen Export- und Importquote von weit über 40 Prozent leiden deutsche Unternehmen besonders stark unter den geopolitischen Verwerfungen und ihren Folgen für die Weltwirtschaft. Die Welt von heute ist leider zunehmend stärker geprägt von Nationalismus, Populismus, Protektionismus, Kriegen und Handelskonflikten als die frühere Welt von mehr Freiheit und Kooperation. Erschwerend hinzu kommen der Klimawandel und die damit einhergehende Transformation, eine wachsende Weltbevölkerung von bis zu 10 Milliarden Menschen zur Jahrhundertmitte und die damit verbundene Konkurrenz um knapper werdende Rohstoffe. In dieser neuen Realität befinden sich Politik, Gesellschaft und Unternehmen gleichermaßen. Ein weiterer Grund ist der im Vergleich zu anderen Wirtschaftsnationen hohe Industrieanteil in Deutschland. Ist die Nachfrage nach Investitionsgütern weltweit hoch, kommt das den exportorientierten Industrieunternehmen hierzulande zu Gute. Umgekehrt ist das Gegenteil der Fall und das erleben wir gerade. Die geoökonomischen Belastungen dämpfen den Welthandel und die globale Investitionstätigkeit mit all den negativen Folgen für unsere industrie- und handelsorientierte Volkswirtschaft. Diese momentan schlechte Weltlage führt auch zu einer geringeren Investitionstätigkeit der Unternehmen in Deutschland. Da müssen wir gegensteuern.
Welche Handlungsspielräume hat die Bundesregierung überhaupt in einer globalisierten Welt, das Blatt für die deutsche Industrie zum Besseren zu wenden?
Die geopolitischen Möglichkeiten sind zugegebenermaßen begrenzt. Bestimmte Schocks wie etwa der Krieg in der Ukraine oder die Konflikte im Nahen Osten kann Deutschland nicht bewältigen. Wir können hierauf nur im Rahmen der Völkergemeinschaft politisch und diplomatisch Einfluss nehmen. Zudem wird ein Teil der Rahmenbedingungen aus guten Gründen nicht in Berlin und in den Landeshauptstädten, sondern für die Europäische Gemeinschaft insgesamt in Brüssel entschieden. Wir sind aber auch in einer Welt angekommen, in der Staaten zunehmend strategische Industriepolitik zu ihrem Vorteil betreiben. Märkte funktionieren dann nicht mehr so, wie wir es in Deutschland über viele Dekaden gewohnt waren. Mit diesen Gegebenheiten tut sich eine weltoffene Volkswirtschaft schwerer. Gleichwohl haben wir auch in Deutschland den Handlungsspielraum, um über eine Vielzahl von angebotspolitischen Maßnahmen zu entscheiden. Unsere fünf wichtigen Assets können wir selbst gestalten und wir müssen sie weiterentwickeln und pflegen. Dazu gehören die Arbeitskräfte und ihre Fähigkeiten (Humankapital), das Produktionskapital einschließlich der vielfältigen Infrastrukturen, das Naturkapital, sprich unsere Ausstattung und der Zugang zu natürlichen Rohstoffen, und nicht zuletzt der Bestand an technologischem Wissen, quasi unser innovatives Potenzial. Das Bewusstsein für die „Pflege“ unserer Produktionsfaktoren, also der fünf gerade genannten Assets, muss sich grundlegend ändern. Der demografische Wandel, die klimabedingte Transformation und nicht zuletzt der internationale Technologiewettlauf bedingen dies. Ich bin mir nicht sicher, ob das in der Bundesregierung in der notwendigen Ernsthaftigkeit angekommen ist.
Welche Möglichkeiten haben nun deutsche Industrieunternehmen, wenn der Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit droht?
Sie können entweder an der Kostenschraube drehen, sprich ihre Produktionskosten direkt gestalten und den internationalen Gegebenheiten anpassen. Das ist bei den Arbeitskosten und Energiekosten nur eingeschränkt möglich. Oder sie müssen die Produktivität erhöhen. Das geschieht in der Regel durch Prozess- und Produktinnovationen. Unternehmen können und müssen permanent ihre Produktionsweisen verbessern und überleben oftmals auch nur mit modernen Waren und Dienstleistungen auf den hart umkämpften Weltmärkten. Über geraume Zeit konnte den Kostenschocks auch durch eine internationale Verlängerung der Wertschöpfungsketten, also die Verlagerung bestimmter Tätigkeiten ins Ausland wie Osteuropa oder Asien, entgegengewirkt werden. Für die im Inland erforderlichen Innovationen müssen die Handlungsspielräume für Investitionen in Forschung und Entwicklung verbessert werden. Hier ist Deutschland ja gar nicht schlecht, andere Länder geben in Teilen aber das Tempo vor.
Investitionen sind ein Schlüssel für Wirtschaftswachstum. Das kostet Geld. Dem steht die Schuldenbremse entgegen. Wie kommt Deutschland aus dieser Falle heraus?
Die Erfahrung und Realität sprechen leider eine deutliche Sprache: Wenn das Geld knapp ist, geht das zu Lasten von öffentlichen Investitionen. Jedoch werden wir in Zukunft hohe staatliche Ausgaben haben: Wir müssen verstärkt in die äußere und innere Sicherheit investieren. Gleiches gilt für die in die Jahre gekommene Infrastruktur. Dazu kommen die Kosten durch den Klimawandel und die Transformation. Zugleich werden durch den demografischen Wandel die konsumtiven Ausgaben des Staates steigen. Wenn wir in Deutschland keinen politischen Konsens dazu finden, den investiven Ausgaben Vorrang vor den konsumtiven Ausgaben einzuräumen, dann wird unsere Wirtschafts- und Wohlstandsbasis darunter leiden. Deshalb müssen wir schleunigst eine Lösung dafür finden, wie wir staatliche Investitionen in Zukunft finanziell besser absichern können. Dazu gehört dann auch ein ordentlicher Umgang mit den staatlichen Mitteln.
Warum tun wir uns in Deutschland so viel schwerer im Umgang mit Veränderungen als andere Länder?
Die aktuelle Dekade sollte eigentlich das Jahrzehnt für die Transformationen sein: Anpassungen an die demografischen Veränderungen (Verlust von Arbeitskräften), an den Klimawandel (Dekarbonisierung) und den technischen Fortschritt (etwa die Digitalisierung). Aber die Corona-Pandemie, die Kriege in der Ukraine und in Nahost sowie der schwelende Systemkonflikt zwischen China und den USA haben einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir haben offensichtlich nicht rechtzeitig die Notwendigkeit gesehen, uns auf diese neuen geopolitischen Realitäten und den zunehmenden Veränderungsdruck einzustellen. Der Umgang mit China und Russland war auch von unserer Geschichte geprägt. Lange galt die Devise „Wandel durch Handel“, was sich mit Russland als falsch herausgestellt hat. Als weltoffenes Land hat Deutschland in den letzten 30 Jahren viel zur Weiterentwicklung Chinas beigetragen und das Land in die Weltwirtschaft mit eingebunden. Der Umgang bleibt aufgrund der damit entstandenen gegenseitigen Abhängigkeiten ein schwieriger Balanceakt.