Die Miniserie „Rentierbaby“ sorgt außerhalb der Netflix-Bubble gerade für Furore. Die Mischung zwischen Thriller und Drama verwischt auch in der Realität die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit.
Kennen Sie den Streisand-Effekt? Dieses Phänomen beschreibt, dass man genau das Gegenteil von dem erreicht, was man eigentlich möchte, wenn man Informationen unterdrückt – aber genau dadurch erst den Fokus auf etwas setzt. Im Fall der Netflix-Miniserie „Rentierbaby“ hat sich die echte Stalkerin bei der britischen Boulevardzeitung „Daily Mail“ gemeldet und erzählt, die Geschichte der britischen Produktion würde so nicht stimmen, und sie selbst sei das eigentliche Opfer. Täter-Opfer-Täter-Umkehr? Jedenfalls gab sie ihr Interview anonym. Doch einige „Fans“ der Serie wissen wohl bereits, wer sie ist. Ihre Anonymität wird wohl nicht lange geheim bleiben.
Eigene Stalking-Erfahrung des Autors
Wie viel Realität steckt also in „Rentierbaby“? Wo hat sich Schöpfer Richard Gadd erzählerische Freiheiten genommen? Und worum geht es in den sieben gerade sehr gehypten Episoden eigentlich?
Richard Gadd spielt sich selbst – zumindest eine Version von sich selbst, die Donny Dunn heißt. Alleine der Nachname könnte bereits ein Wortspiel sein. Im Original wird der Nachname ausgesprochen wie „Done“, also etwa „fertig mit etwas sein“. Doch Donny Dunn kriegt einfach gar nichts gebacken. Er selbst glaubt an seinen Durchbruch als Komiker. Bis auch das übrige Vereinigte Königreich von seinem Talent überzeugt ist, schlägt er sich als Büffetkraft in einer Kneipe durch. Dort taucht eines Abends Martha Scott (Jessica Gunning) auf. Ihre schräge Art und ihr ansteckendes Lachen sprechen etwas in Donny an, und so gibt er ihr einen Tee aus, weil sie angeblich kein Geld dabeihat.
Marthas Schrulligkeit entpuppt sich schon bald als Aufdringlichkeit. Ihre Erzählungen aus ihrem Leben als Viertelwahrheiten. Es ist eine relativ simple Ausgangslage für die Geschichte. Doch was folgt, spielt mit einigen Tabus, bricht andere und bürstet vieles gegen den Strich, was man sonst an Sehgewohnheiten hat. Darsteller Richard Gadd verarbeitete in „Rentierbaby“ – das ist Marthas Spitzname für ihn – sein wahres Leben. Die echte Stalkerin soll ihm über mehrere Jahre 41.071 E-Mails, 350 Stunden Sprachnachrichten, 744 Tweets, 46 Facebook-Nachrichten und 106 Seiten Briefe geschickt haben. Er wurde also gestalkt. Genau wie Donny Dunn in der Serie.
Anfangs nimmt Donny dies noch nicht so ernst, fühlt sich stellenweise geschmeichelt und teilweise gar von Martha angezogen. Sexuelle und andere Beziehungen spielen im Verlauf der Geschichte noch wichtige Rollen. Da ist Donnys ultrahübsche Ex-Freundin Keeley (Shalom Brune-Franklin), ihre Mutter Liz (Nina Sosanya), bei der Donny trotz Trennung noch wohnt. Da ist die ebenso verständige wie lebenserfahrene Trans-Frau Teri (Nava Mau), mit der Donny eine Beziehung eingeht. Da sind seine Eltern, die verständig alle Schritte, die noch vor ihm liegen, mit ihm gehen. Denn nach seinem anfänglichen Zögern wagt Donny doch noch den Gang zur Polizei, um Anzeige gegen Martha zu erstatten. Doch das Stalking entpuppt sich nicht als das eigentliche Problem von Donny.
Realitätsnah und typisch britisch
Wie „Rentierbaby“ seinen Weg zu sich selbst nachzeichnet, darf getrost als „typisch britisch“ bezeichnet werden. Die Charaktere sind glaubwürdig und realitätsnah. Niemand wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Trotz aller Abwärtsspiralen wird der Humor nicht vergessen. So sorgen Donnys absichtlich ziemlich miese Comedy-Auftritte trotz einiger Laut-drauf-los-Lach-Momente nicht für Fremdscham, sondern sind narrativ eingebunden. Marthas Aufdringlichkeit wird nicht als reines Machtspiel ausgebeutet, sondern dient als Startschuss der Geschichte und hinterfragt Täter-Opfer-Rollen.
Also auch das, was sich gerade in der Realität abspielt. Denn längst sind einige Zuschauer teilweise selbst zu Stalkerinnen und Stalkern geworden. Daher bat Gadd per Instagram darum, keine eigenen Nachforschungen zu den Personen des echten Lebens anzustellen. Schließlich sah er die Gefahr, dass jemand grundlos an den Pranger gestellt werden könnte – wie es offenbar auch tatsächlich geschehen ist. Über die „echte Martha“ sagte er beim „Independent“: „Das System hat sie im Stich gelassen. […] Ich kann nicht genug betonen, wie sehr meine Stalkerin ein Opfer ist.“ Er selbst habe eine zwiespältige und besondere Bindung zu seiner echten Stalkerin, die Außenstehende tatsächlich nur schwer nachvollziehen können. Das muss jetzt nur noch ein Teil des Millionenpublikums verstehen – das dürfte aber schwer sein bei 13,3 Millionen Views allein in den ersten sieben Tagen.