Florian Wirtz gilt schon lange als riesiges Talent. In diesem Jahr hat er den großen Durchbruch geschafft. Nun ist er auch ein Hoffnungsträger für die EM.
In der Kultur und im Sport gibt es unter den Fans immer Glaubensfragen. Das begann vielleicht in den 60ern mit der Frage, ob man denn Fan der „Rolling Stones“ oder der „Beatles“ sei. Beides ging nicht. Und für welche Band man sich entschied, sagte auch etwas über jemanden aus.
Im Fußball, sowohl im nationalen als auch im internationalen, gab es solche Glaubensfragen immer wieder. Franz Beckenbauer oder Johan Cruyff? Wolfgang Overath oder Günter Netzer? Diego Maradona oder Michel Platini? Oliver Kahn oder Jens Lehmann? Und in den vergangenen 20 Jahren im Weltfußball vor allem Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi?
Duell der Talente mit Musiala
Im deutschen Fußball hat sich auch wieder solch eine Frage entwickelt. Nämlich in Bezug auf die beiden größten deutschen Talente. Jamal Musiala oder doch Florian Wirtz? Wer ist das größere Talent? Man kann es sich natürlich so einfach machen wie Michael Reschke. Der frühere Manager von Wirtz-Club Bayer Leverkusen und Musialas Verein FC Bayern München sagte: „Das sind zwei Jahrhunderttalente, die beide die Chance haben, in ihrer Karriere zum Weltfußballer des Jahres gewählt zu werden.“ Das mag sein. Und das Problem, wenn man sich zwischen beiden entscheiden muss, ist: Sie sind sich schon relativ ähnlich. Altersmäßig sind sie nur drei Monate auseinander – Musiala ist der etwas Ältere – ihre Lieblings-Position ist die im offensiven Zentrum mit allen Freiheiten. Beide sind technisch stark, dynamisch, leichtfüßig, haben geniale Momente in ihrem Spiel. Bundestrainer Julian Nagelsmann war früh klar: Er will sich nicht zwischen den beiden entscheiden. Er will nicht diese quälende Netzer-oder-Overath-Frage aus den 70ern wiederbeleben. Er will auf keinen von beiden verzichten. Er hat es von Beginn an als eine seiner größten Aufgabe angesehen, beide im Nationalteam zu vereinen. Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt, im Alter von 21 Jahren.
Wirtz kam stärker zurück
Bis dato schien Jamal Musiala derjenige zu sein, der weiter ist. Er war bei der EM 2021 schon dabei, bei der WM 2022 schon Stammspieler, hat mit den Bayern schon über 30 Spiele in der Champions League absolviert, in der Wirtz noch gar nicht auftrat. Und er machte die Bayern im Mai 2023 mit seinem Last-Minute-Tor in Köln zum Deutschen Meister. Wirtz hatte nach seinem Auftauchen in der Bundesliga mit 17 viele Alters-Rekorde gebrochen, doch ein im März 2022 erlittener Kreuzbandriss warf ihn weit zurück. Doch während andere in Social-Media-Hashtags ankündigen, „stärker“ zurückzukommen, hat Wirtz genau das getan. Und auch wenn Musiala keineswegs eine schlechte Saison absolviert hat, hat er zu ihm aufgeschlossen, ja ihn aktuell vielleicht sogar überholt. In der Bundesliga hat er Stand Anfang Mai mit elf Treffern einen mehr erzielt als der Münchner, obwohl er mit fünf Pfosten- und Lattentreffer der in dieser Hinsicht größte Pechvogel der Liga war. Mit ebenfalls elf Toren hat er auch fünf mehr vorbereitet als Musiala und damit die zweitmeisten der ganzen Liga. Im Fachmagazin „kicker“ ist er mit einem Schnitt von 2,24 der mit Abstand notenbeste Spieler der Liga. Musiala belegt mit einem Schnitt von 2,95 als zweitbester Bayern-Spieler nach Harry Kane Rang 19. Wirtz hat als Offensivspieler die siebtmeisten Zweikämpfe ligaweit gewonnen, die zehntmeisten Kilometer abgespult und die drittmeisten Sprints angezogen. Das alles spricht schon vom reinen Zahlenwerk für einen kompletten Spieler. Und berücksichtigt nicht einmal, wie Wirtz die Zuschauer mit seiner Art zu spielen verzaubert. Er erzielte das Tor des Jahres 2023, er wurde in der Nationalmannschaft zum Stammspieler und erzielte mit seinem ersten Treffer im A-Team im Länderspiel im März in Frankreich nach acht Sekunden das schnellste Tor der deutschen Nationalmannschafts-Geschichte.
„Er hat eine Super Zukunft vor sich“
Und vor allem: In diesem Jahr war er es, der sein Team zum Deutschen Meister machte. Was historisch ist. Denn Bayer Leverkusen hatte das bis dahin noch nie geschafft. Nun ist das Team von Trainer Xabi Alonso in beeindruckender Manier zum Titel marschiert. Und die vielen Wechsel, die Alonso in den unterschiedlichen Wettbewerben vornahm, zeigten die Breite des Kaders. Und dass in ihm zwei Spieler unverzichtbar sind: Mittelfeld-Lenker Granit Xhaka. Und eben Wirtz. Als Bayer am 14. April sein Meisterstück machte, wollte Alonso Wirtz zunächst etwas Ruhe gönnen und setzte ihn auf die Bank. Nachdem er eingewechselt wurde, macht er diesen historischen Sieg doch noch zu seinem, als er beim 5:0 gegen Werder Bremen einen Hattrick erzielte.
Mitspieler, Vereinskollegen und Gegner verneigen sich vor allem in der Rückrunde in schöner Regelmäßigkeit vor Wirtz. In der Rangliste der besten Spieler, mit denen er je gespielt habe, stehe er „auf jeden Fall ganz oben“, sagte Xhaka. Der vor dem Wechsel zu Bayer neun Jahre für Arsenal in der Premier League spielte und als Rekordnationalspieler der Schweiz schon bei fünf großen Turnieren dabei war. „Wir wissen, wie wichtig und besonders Florian Wirtz ist“, sagte Alonso, als Spieler Welt- und Europameister: „Er ist ein Schlüsselspieler und hat eine super Zukunft vor sich.“ DFB-Sportdirektor Rudi Völler begeistert, dass Wirtz bei allen technischen Fähigkeiten und aller Torgefahr kein brotloser Künstler ist, sondern auch ein Arbeiter, der unglaublich viel läuft und auch mal grätscht, wenn es sein muss. „Wie er bei aller seiner spielerischen Klasse bis zum Anschlag alles gibt, ist unglaublich“, sagte Völler. Und Leverkusens Clubchef Fernando Carro sagte: „Wir würden Wirtz nie für weniger als 150 Millionen gehen lassen.“ Da habe er im spanischen Radio wohl etwas zu viel geredet, ruderte Carro kurz darauf zurück. „Da habe ich wieder einen Fehler gemacht“, sagte er als Gast im ZDF-Sportstudio. Wirtz habe „gar kein Preisschild.“
Bei Bayern auf der Einkaufsliste
Heißt: Nicht einmal bei 150 Millionen wäre sicher, dass Bayer ihn verkauft. Denn dank Alonso und Wirtz ist Bayer Meister geworden. Und das nicht per Zufall. „Ich hoffe, dass wir auf die nächste Meisterschaft nicht so lange warten müssen“, sagte Alonso schon. Bayer will was aufbauen und sich nicht wieder vom FC Bayern den Schneid abkaufen lassen wie nach der Triple-Vize-Saison 2002, als nacheinander Michael Ballack, Zé Roberto und Lucio nach München wechselten und Bayer auf Jahre als Bayern-Konkurrent verschwand. Schon ein Wechsel von Wirtz könnte die Kräfteverhältnisse wieder kippen lassen.
Bayern-Ehrenpräsident Uli Hoeneß hat sich längst positioniert. Man könne nicht vier- oder fünfmal 100 Millionen Euro für einen Spieler ausgeben, sagte er kürzlich. Aber man könne das mal tun für Harry Kane wie im letzten Sommer „und vielleicht noch einmal für einen deutschen Spieler“. Wen er meinte, ist klar. Doch wie bei Alonso, um den die Münchner kräftig warben und der in Leverkusen bleibt, wird auch ein Wechsel von Wirtz zu den Bayern alles andere als ein Selbstläufer. Ganz unabhängig davon, dass der Spieler selbst von der spanischen Liga träumen soll, hat er bei Bayer noch einen Vertrag bis 2027. Und sein Vater und Berater Hans Wirtz hat schon klargestellt, dass er „grob“ bis zu diesem Zeitpunkt in Leverkusen bleiben werde.
Ein Wechsel in diesem Sommer scheint selbst bei einer überragenden EM und nahezu unmoralischen Angeboten quasi ausgeschlossen. Die Familie Wirtz baut die Karriere des jüngsten ihrer zehn Kinder ganz behutsam auf. Im nächsten Jahr mit Leverkusen als Titelverteidiger in der Bundesliga an den Start zu gehen, mit Bayer nicht nur als Stamm- sondern Führungsspieler erstmals in der Champions League Erfahrung zu sammeln und nicht zuletzt auch noch eine Weile vom neuen Über-Trainer Alonso profitieren, das klingt als nächste Karriere-Stufe für einen gerade mal 21-Jährigen auch durchaus sinnvoll. Alonso sei „ein großes Glück“ und „der richtige Trainer zum richtigen Zeitpunkt“ sagte Vater Wirtz im „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Florian ist noch jung. Er hat noch einen Teil seiner Entwicklung zu gehen. Dafür ist Leverkusen eine gute Ausbildungsstätte. Man sollte die nächsten beiden Jahre abwarten, dann werden wir sehen, wohin der Weg führt.“
Zu welchem Verein und vor allem wann ist tatsächlich offen. Wohin der Weg karrieretechnisch geht, darüber kann es eigentlich keine zwei Meinungen geben. Ganz nach oben. Falls Wirtz da nicht schon längst angekommen ist.