Charles Aznavour gilt als größter Chansonnier Frankreichs und als bekanntester Franzose nach seinem Namensvetter Charles de Gaulle. Dieser Tage wäre der 2018 verstorbene Künstler 100 Jahre alt geworden. Eine Hommage.
Paris, Palais des Sports, September 2015: Eine Mischung aus spannungsgeladener Dunkelheit und glitzernden Lichtsprenkeln. Die letzten Augenblicke, bevor Charles Aznavour hinaus auf die Bühne tritt. Graues Jackett, schwarzes Hemd. Aufrecht. Gelassen. Konzentriert. Die Mimik eingefroren. Inmitten aller beflissenen Geister: Die Schneiderin entstaubt schnell noch einmal die Achselstücke und, kleine Tribute ans Alter, der Friseurkamm glättet das schneeweiße Teiltoupet, das Hörgerät sitzt perfekt.
Mit Taschenlampen leuchtet man der grauen Eminenz die Spur: „Il faut savoir, coûte que coûte, garder toute sa dignité“ – Seine Würde muss man wahren, koste es, was es wolle. Alle Texte im Kopf, schließlich lernt der Mann noch Gedichte auswendig, braucht keine Tele-Souffleuse, doch besser ist es mit. Denn er singt noch live, echtes Mikro, authentische Musiker. Mitunter kann da mal was schiefgehen, klar, aber bis auf ein kleines Stimmfallieren, wohl altersgeschuldet, läuft es auch diesmal gleichmäßig professionell. Sein Publikum erahnt jetzt seine Schritte, will seinen eigenen Helden und jenen Frankreichs sehen: Erwartungsfroher Beifall brandet auf, schnellt hoch zum Jubel: Charles ist da!
Nach und nach wird Monsieur Aznavour seine sparsame Mimik und Gestik auflösen, seinem Publikum zuzwinkern, zulächeln; wird der 91-jährige Greis, der gar keiner ist, der sich hier und heute ein Stück Jugend zurückholt, mit ihm tanzen, mit ihm rhythmisch klatschen, die Fäuste ballen, „pour le plaisir“ den Betrunkenen mimen. Jacke aus und gesprenkelte rote Hosenträger sagen: Ich bin bei der Arbeit. Am Ende der beidseitigen Wonne und wohligen Schauer spendet er seinem Publikum Applaus, verbeugt sich fühlbar erleichtert, verbrüdert mit seinem hingebungsvollen Orchester. Diderot wusste es: „Der ist der glücklichste Mensch, der das Glück vieler anderer macht.“ Rundum beglückt: Charles und sie alle, 4.600 Menschen, die sich und ihr Gegenüber feiern, „Altes Frankreich“ zelebrieren.
Shahnour Varenagh Aznavourian, geboren am 22. Mai 1924, Sohn eines dem türkischen Völkermord entronnenen armenischen Künstler-Ehepaars, wächst ärmlich im Studentenviertel Quartier Latin heran. Im Paris der 1920er-Jahre, mit pferdebespannten Lieferwagen und feinbehüteten Damen in Droschken und Straßencafés. Zuhause spricht man kein Französisch. Mit kaum elf Jahren verlässt der Knirps die Schule. Um danach lebenslang lernbegierig zu bleiben und am Ende sogar noch preisgekrönter Schriftsteller zu werden. „Ich bilde mich weiter, weil ich es für meinen Job brauche, nicht um in der Gesellschaft zu glänzen.“ Und seine Profession übt er „straff“ aus: „In meinem Beruf bin ich der König der Ärgernisse.“
Die Piaf hat ihn nicht entdeckt, aber gefördert
Zunächst aber muss das Kind zum Familienunterhalt beitragen, der neunjährige Knabe auf Bühnenplanken. Viel später wird er erzählen, manche Leute sähen ihn schräg an, wenn er von den „seligen Besatzungszeiten“ spreche. Das habe indes mit Politik überhaupt nichts zu tun, bloß mit dem Alter, seiner damaligen Jugendblüte. Nein, Edith Piaf habe ihn gar nicht entdeckt, jedoch gefördert; er wohnte lange bei ihr, sie nahm ihn mit auf US-Tournee. Aber sie hat ihn nicht verschlungen, wie alle die anderen. „Ich bin ein völlig freier Mann, und ich werde für den Rest meines Lebens frei sein.“
Der Aufstieg zum – nach de Gaulle – „berühmtesten Franzosen der Welt“ ist dornig. Es warten schmerzhafte Verrisse auf den 1,61 Meter großen kleinen Mann. „Warum haben sie einen Krüppel auf die Bühne gelassen?“, schmäht ein Rezensent. Nur seine eiserne Beharrlichkeit sowie sein lieber Verleger Breton bewahren ihn vor der Kapitulation. Er selbst witzelt, er habe eine Nase wie ein langer Dosenöffner; im Zuge seiner 17 Operationen wurde sie etwas umgemodelt.
Doch dann sieht ihn der Direktor des „Moulin Rouge“ zufällig in Marokko. Und Charles wird vom Fleck weg engagiert. Irgendwann wird er ironisch sagen: „Wäre ich blond mit blauen Augen, groß und elegant, mit einer reinen Stimme, hätte ich nicht die gleiche Karriere gemacht.“ Eine einzigartige Vita: Er singt, textet, komponiert, verkauft 200 Millionen Schallplatten. Und überzeugt – auch als Gangster und Polizist – in 70 Filmen, darunter Truffauts „Schießen Sie auf den Pianisten“ (1960) und Schlöndorffs oscargekrönte „Blechtrommel“ (1979).
Seine Balladen, weltweit bekannt, widmen sich Verflossenem, zart und wehmütig klagend, vornehmlich der Liebe, doch auch der verlorenen Jugend, die er zeitlebens einzuholen versucht. Sein Freund, der Schriftsteller Jean Cocteau, äußerte einmal, Charles habe „die Verzweiflung populär gemacht“.
In Deutschland unvergessen das Chanson „Du lässt Dich gehen“ – welches die deutsche Plattenfirma mit der Begründung, man habe hierzulande „viele dicke Frauen“, erst gar nicht veröffentlichen wollte. „Sie“, „Tanze Wange an Wange mit mir“, das draufgängerische „Ich halte Dich schon warm“. Passend dazu widmet sich „Après l’amour“ der – oh là là! – postkoitalen Erschöpfung. Aznavour beherrschte fünf Sprachen, doch kein Deutsch, nachts noch studierte er Wörterbücher.
Aznavour war dreimal verheiratet. Das schwedische Modell Ulla Thorsell und er lernten sich 1966 kennen. Sie sei die Liebe seines Lebens. Der ehedem Umtriebige: „Ich war ihr nie untreu, nicht ein einziges Mal. Und meiner Arbeit auch nicht.“ Affären? „Nein, da gehe ich lieber zu Ikea.“ Er hat drei Kinder aus seiner Ehe mit Ulla und ein weiteres mit seiner ersten Ehefrau Micheline Rugel. Drei Enkelkinder komplettieren die Familie. Keine Urenkel kommentiert er trocken: „Keine Ahnung, warum die so lange brauchen.“
Ja, er würde sich das Unmögliche gewünscht haben – die hehre Académie Française –, gestand Charles einmal ein, lebenslang ein glühender Verteidiger seiner geliebten französischen Sprache. Aznavour galt als Frankreichs Antwort auf Frank Sinatra. Im Laufe der Jahre schrieb er Texte nicht nur für sich, auch für die Piaf, Tom Jones, Elton John, Bob Dylan. Er und Frank tranken gerne mal zusammen eine Flasche „Château Pétrus Pomerol“. Da dieser Wein pro Flasche ohne Weiteres mit 6.000 Euro zu Buche schlägt, nutzen ihn andere indes lieber als Anlageobjekt. Nachwuchskünstlern riet der Künstler übrigens von Drogen ab: Das Metier sei schließlich selbst eine Droge, da brauche man keine obendrein.
2006 schon gab Aznavour in Essen sein internationales Abschiedskonzert. Doch dabei blieb es wahrlich nicht. Denn: „Es war immer ein Au revoir, kein Adieu.“ Noch 2013 bis 2016 gastierte er, teils mehrfach, in etlichen Weltstädten. Zwischen 2017 und 2018 geriet der nun bald 94-Jährige in einen weltrekordverdächtigen Tournee-Taumel durch fast 30 Metropolen: von Buenos Aires bis Sankt Petersburg, von Melbourne bis Tokio. Sein allerletztes Konzert fand am 19. September 2018 in Osaka statt.
Staatsakt für einen großen Sohn des Landes
Charles Aznavour hielt sich in Form, schwamm allmorgendlich im hauseigenen Pool zehn Bahnen à 34 Meter – mit einem Auftriebsgürtel, da er gar nicht schwimmen konnte. Bei so viel Übermut gab sich seine überaus robuste Gesundheit denn doch geschlagen. Oder war es umgekehrt? 120 Jahre wollte er werden, ja, das wäre akzeptabel. „Meine Frau sagt: Hör auf zu arbeiten! Du bist alt genug, um aufzuhören. Ich darauf: Wenn ich aufhöre, sterbe ich. Sie dann: Bitte mach weiter!“
Am 1. Oktober 2018 verschied Charles Aznavour an einem Herzstillstand. Frankreichs großes Herz aber pocht und umarmt die Seinen, von jeher auch jene, die aus fernen Gestaden bei ihm stranden und ihm ihre Liebe bezeugen. Mit einem feierlichen Staatsakt im Invalidenhof sagte es ihm 2018 „Adieu“, der Sarg mit der Trikolore bedeckt. Die Präsidenten Frankreichs und Armeniens sowie zahlreiche geladene Notabeln standen Spalier. Später kritisieren manche, wie der Sänger Hugues Aufray, dass man besser einen Trauerzug durch Paris geboten hätte. Charles sei schließlich der Chansonnier der kleinen Leute gewesen, und der Staat habe ihn „konfisziert“.
Der armenische Ministerpräsident Pachinian zollte bewundernden Respekt für jenen Menschen, der für das Land seiner Väter auch als Botschafter und Vertreter bei der UN, beides in der Schweiz, gewirkt hatte. „Seine Karriere zeuge von dem großen Sieg, den er und seine Eltern über ihr Schicksal errungen haben.“
Familiengrab ist Pilgerstätte für seine Fans
Macron pries Aznavour, habe er doch den Alltag der Franzosen verschönt, „unser Leben süßer, unsere Tränen weniger bitter gemacht, unseren versteckten Schwächen, unseren flüchtigen Empfindungen, unserer Schwermut, unseren Hoffnungen einen tröstenden Spiegel vorgehalten“. Aznavour werde niemals vergessen werden, denn: „Poeten sterben nie.“
Charles Aznavour beklagte einmal: „Ich habe kein einziges Lied der Freude geschrieben. Ich habe lustige Lieder geschrieben, aber kein frohes.“ Und doch, am Ende, als Uniformierte den Sarg wegtragen, singen die Trauergäste für ihn seine Abschiedshymne bei Konzerten, „Emmenez-moi“:
„Nehmt mich mit ans Ende der Welt.
Nehmt mich mit ins Land der Wunder.
Mir scheint, als seien die Nöte
in der Sonne weniger schmerzlich.“
Bestattet liegt der Chansonnier in der hellgrauen Familiengruft im nordfranzösischen Montfort-l’Amaury, einer Kleinstadt unweit des wunderschönen Waldes von Rambouillet. Seine Fans pilgern zu ihm und bezeugen seine Maxime: „Ich will nicht der reichste Mann auf dem Friedhof, ich will der Bekannteste sein.“