Von psychogenen Krampfanfällen bis zur Anpassung an verändertes Verhalten: Klinische Neuropsychologen unterstützen bei unterschiedlichen Hirnschädigungen. Ihre maßgeschneiderten Therapien helfen Patienten,
ein erfülltes Leben zu führen.

Schlaganfall, Hirnschädigungen nach Unfällen oder Stürzen, Hirnblutungen, Multiple Sklerose (MS) oder beginnende Demenz sind typische Erkrankungen, die zu starken kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen führen könne. Nicht nur ältere Menschen können daran erkranken, auch junge Leute sind vor solchen Schicksalsschlägen nicht gefeit.
So sind zum Beispiel laut Universität Nürnberg Frauen im Schnitt 75 Jahre alt, wenn sie einen Schlaganfall erleiden. Männer sind mit circa 68 Jahren dagegen deutlich jünger. Bei sehr jungen Menschen beziehungsweise Kindern sind häufig Fehlbildungen, Erkrankungen oder Verletzungen die Ursache von Schlaganfällen. Hirnblutungen oder Hirnschädigungen nach Unfällen oder Stürzen können in jedem Alter auftreten, kognitive Störungen bei Multipler Sklerose lassen sich bei bis zu 60 Prozent der Patienten bereits im frühen Verlauf der Erkrankung feststellen. Ähnlich ist es bei Patienten mit beginnender Demenz.
Viele fühlen sich wie aus dem Leben gerissen, so auch Stefanie. Sie ist Lehrerin und 56 Jahre alt, als sie eines Morgens bemerkt, dass sie nicht mehr sprechen kann. Als sie aufstehen will, sacken ihr die Beine weg. Ihr Mann ruft sofort den Notarzt. Stefanie wird in die Klinik gebracht. Dort lautet die Diagnose: Schlaganfall. Für die einst so agile, redegewandte Vollblutlehrerin beginnt eine schwere Zeit. Neben der medizinischen Akutversorgung mit Stabilisierung der Lebensfunktionen kommt nun einer gezielten Rehabilitation für die größtmögliche Wiederherstellung der kognitiven, motorischen und emotionalen Fähigkeiten große Bedeutung zu.
Spezialisiert auf die Verbindung zwischen Gehirn und Verhalten helfen Experten, kognitive Defizite zu verstehen
Die Frührehabilitation setzt schon im Krankenhaus ein, es folgen mehrere Wochen Reha in einer speziellen Klinik. Ziel ist es, Stefanie wieder in die Lage zu versetzen, ihren privaten und beruflichen Alltag wieder zu bewältigen. Eine lange und mühevolle tägliche Kleinarbeit liegt vor ihr.
Dank gemeinsamer Anstrengung von Ärzten, Therapeuten und des Pflegepersonals, von Stefanie selbst und ihrer Familie stellen sich schnell erste Erfolge ein. Sie kann wieder normal laufen und das Sprechen ist ebenfalls wieder besser geworden. Oft fallen ihr die richtigen Worte aber nicht ein, sie stockt mitten im Satz. Wieder zu Hause stellt sie fest, dass sie auch Probleme hat, sich zu konzentrieren und dass sie vergesslich ist. So kann sie unmöglich wieder in der Schule unterrichten.
In dieser Situation wendet Stefanie sich an Verena Emrich aus Saarbrücken. Eine ganz wichtige Entscheidung für ihre weitere Gesundung. Denn die psychologische Psychotherapeutin und klinische Neuropsychologin ist spezialisiert auf Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Schädel-Hirn-Beeinträchtigungen. Sie weiß, wie sehr neuro-psychologische Unterstützung bei der Rehabilitation von Schädel-Hirn-Verletzungen helfen kann.
„Seit einigen Jahren sind unsere Behandlungserfolge immer besser dokumentiert“, sagt Verena Emrich. „Leider sind unsere Erfahrungen noch nicht überall bekannt, sodass manche Patientinnen und Patienten, denen wir helfen könnten, über unsere Therapieansätze nichts wissen. Die Folge: Vielen Schädel-Hirn-Verletzten bleibt diese besondere Unterstützung verwehrt.“
Für Emrich ist das eine therapeutische Schieflage, die den Betroffenen schadet und unbedingt beseitigt werden muss. Welche Erfolge möglich sind, schildert die engagierte Therapeutin am Beispiel von Stefanie.
„Zu unserem Erstgespräch habe ich Stefanie gebeten, die Berichte von den Kliniken und von Kernspin und Computertomografie mitzubringen“, rekapituliert Emrich die über zwei Jahre andauernde Behandlungszeit. „Stefanie kam zusammen mit ihrem Mann. Sie erzählte mir von ihren Problemen mit der Wortfindung, der mangelnden Konzentrationsfähigkeit und von ihrer Vergesslichkeit. Ihr Mann schilderte seine Wahrnehmung der Veränderungen an seiner Frau, die er als verunsichert, ungeduldig, verärgert und auch traurig über sich wahrnahm. Danach habe ich die Befunde gesichtet, erste Ideen darüber entwickelt, welche neuropsychologischen Funktionen im Gehirn von Stefanie betroffen sein könnten und alles mit ihr besprochen.“
Nach der Akutphase sollte man umgehend mit der Behandlung der körperlichen Ausfälle beginnen
In den nächsten Therapiestunden wurden Tests am Computer durchgeführt. Dabei sollte Stefanie zum Beispiel auf den Bildschirm schauen und immer dann auf eine Taste drücken, wenn ein bestimmtes Kreuz erschien. Mit Papier und Bleistift sollte sie auf einem Bogen bestimmte Figuren anstreichen und mit Würfeln geometrische Formen bauen.
Mithilfe der Ergebnisse in den einzelnen Tests suchte Emrich weitere Tests heraus, um ein möglichst genaues neuropsychologisches Profil ihrer Patientin zu erhalten. Nach einigen Sitzungen erfolgte eine Zusammenschau der Ergebnisse aus der Bildgebung, den Tests, der Selbst- und Fremdbeschreibung und der Verhaltensbeobachtung.
„Bei Stefanie hat sich gezeigt, dass sie nachweisbare Probleme im Bereich der Aufmerksamkeitsleistungen hat sowie Gedächtnisprobleme, die in ihrem Fall aber vermutlich auf die Aufmerksamkeitsstörungen zurückzuführen sind“, sagt Emrich. Zusätzlich bestanden Sprachprobleme: Stefanie hatte noch Wortfindungsstörungen und reduzierte Wortflüssigkeitsleistungen.
Im nächsten Schritt wurde ein Computertraining gestartet, das zunächst hauptsächlich an den Aufmerksamkeitsleistungen ansetzt. Hier besteht die Möglichkeit, dass Zellen im Gehirn ihre Funktion wieder aufnehmen oder neue Verarbeitungswege geschaffen werden.
„Das Computertraining ist anstrengend gewesen, nach den Sitzungen musste Stefanie sich hinlegen. Ich hatte ihr empfohlen, sich eine Trainingsversion des Programms zuzulegen und auch zu Hause zu trainieren, was sie diszipliniert auch gemacht hat.“ In der ersten Zwischentestung nach einigen Wochen zeigten sich erkennbare Verbesserungen der Aufmerksamkeitsleistungen. Bei Stefanie wuchs der Wunsch, lieber heute als morgen zu ihren Schülerinnen und Schülern zurückzukehren. Sie übt kontinuierlich zu Hause weiter, verpasst keine Therapiesitzung, strengt sich an.

„Parallel dazu begannen wir mit Übungen zur Wortflüssigkeit, die wir mit der Logopädin abgestimmt haben, damit die Therapieansätze möglichst gut verzahnt waren. Diese Übungen machen mehr Spaß, ähneln Kinderspielen: So sollte Stefanie in einigen Minuten so viele Wörter wie möglich zu einem vorgegebenen Thema, wie ‚Milch‘ oder ‚Kind’, benennen.“
Nach einem halben Jahr waren die Aufmerksamkeitsleistungen fast wieder auf Durchschnittsniveau, die Testergebnisse im Bereich der Sprachproduktion variierten jedoch noch stark. Die Gedächtnisprobleme waren bis auf Defizite im visuellen Arbeitsgedächtnis durch die Verbesserung der Aufmerksamkeitsleistungen nicht mehr vorhanden.
Verena Emrich fügte ein Training des Arbeitsgedächtnisses hinzu. Am Computer sollte Stefanie sich Reihenfolgen von aufleuchtenden Punkten auf einem Raster merken und anschließend in der richtigen Reihenfolge anklicken oder sich am Therapietisch Karten mit geometrischen Figuren an einem bestimmten Platz in einem Gitter merken und anschließend die richtigen Karten auswählen und wieder richtig platzieren.
Nach einem Jahr Therapie waren die Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisleistungen wieder im durchschnittlichen Bereich, die Sprachprobleme im Gespräch kaum mehr spürbar.
Mittlerweile liegt der Schlaganfall insgesamt eineinhalb Jahre zurück. Stefanie hatte die Nase voll von Krankheit, Reha, Logopädie, Neuropsychologie und Arztbesuchen. Ihre Geduld ging langsam aber sicher zu Ende, zumal ihre Probleme deutlich zurückgegangen waren. Im Alltag strengten die zurückgebliebenen Wortfindungsstörungen Stefanie zwar immer noch sehr an. Trotzdem entschloss sie sich mit reduzierter Stundenzahl an den Arbeitsplatz zurückzukehren.
„In unseren Therapiestunden entwickelten wir daher Strategien, um mit dem Restdefizit und der Erschöpfung im (Berufs-)Alltag gut zurechtzukommen“, erzählt Emrich. „So etablierte Stefanie gleichbleibende Routinen ihrer Alltagsaufgaben: Sie erledigte immer zur gleichen Zeit in gleicher Weise anfallende Arbeiten, um kognitive Ressourcen einzusparen. Sie aktivierte in ihrem Handy verschiedene Erinnerungsfunktionen, führte einen Kalender, legte sich ein Journal an mit Personen, Namen, Ereignissen. Sie achtete darauf, ausreichend zu schlafen und zu trinken und sich regelmäßig zu bewegen.
Voller Tat- und Willenskraft startete Stefanie in ihren Berufsalltag. Ihre Schülerinnen und Schüler sowie das gesamte Kollegium freuten sich riesig. So groß die Freude auch war, schon nach wenigen Wochen wurde die Lehrerin, der einst nichts zu viel und ein fröhliches, unverwüstliches Energiebündel war, zunehmend traurig und wütend. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um dieselben Fragen: Warum hat mir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht? Warum muss ich mich nun mit solchen Problemen herumschlagen?
Stefanie suchte wieder Verena Emrich auf. „In psychotherapeutischen Gesprächen haben wir uns nun um diese starken negativen Gefühle gekümmert. Es ging um Trauerbewältigung und um das Finden neuer Wege für die Umsetzung von Dingen, die Stefanie im Leben wichtig sind. Was will ich noch erleben? Welche meiner Pläne wurden durch meine Erkrankung unwiederbringlich zerstört? Und welche meiner Pläne lassen sich auf andere Weise doch noch umsetzen? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigten wir uns. Was übrigens nicht ungewöhnlich ist. Nicht selten sind hirngeschädigte Patienten nachvollziehbarerweise gereizt, erschöpft oder depressiv. Je nach Ort der Schädigung kann sich auch die Persönlichkeit des Patienten dauerhaft verändern.“
Stefanies Gemütslage verbesserte sich nach sechs Monaten. Am Ende der Psychotherapie-Sitzungen konnte Stefanie den erlittenen Schicksalsschlag akzeptieren. Und wenn sie manchmal in der Klasse die richtige Formulierung sucht und stockt, lässt sie die Schüler einspringen und Worte raten. ‚Die sind dann wieder hellwach und bei der Sache,‘ hat sie mir erzählt und sich über sich selbst amüsiert.“
Das Beispiel Stefanie zeigt, dass bei einer Hirnschädigung nach der Akutphase schnellstmöglich eine Behandlung der funktionellen Ausfallserscheinungen wie Motorik und Wahrnehmungsleistungen sowie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, räumliche Leistungen, Sprache, Handlungsplanung einsetzen sollte. Für den Erfolg der Behandlung ist ein Zusammenspiel von Psychologen, Physiotherapeuten, Neurologen, Internisten, Ergotherapeuten und Logopäden entscheidend. Nicht zu vergessen die Mitwirkung und Motivation des Patienten selbst sowie die Unterstützung durch Angehörige und Freunde.
Doch nicht nur bei Hirnschädigungen können klinische Neuropsychologen eine gute Wahl sein. Gelegentlich verbergen sich hinter scheinbar neurologischen Symptomen ganz andere Ursachen als eine Hirnschädigung.
Verena Emrich erzählt von einer Patientin mit psychogenen Krampfanfällen, die durch die häufigen Anfälle stark in ihrer Lebensführung eingeschränkt war. Gemeinsam arbeiteten sie verhaltenstherapeutisch daran, die Hintergründe der Symptomatik aufzuklären. Nach wenigen Sitzungen stellte sich heraus, dass die Patientin in einer vertrackten familiären Situation feststeckte, die ihre Autonomie massiv einschränkte und aus der sie keinen Ausweg sah. Gemeinsam suchten sie nach Lösungen, die es ihr ermöglichten, sich langsam zu lösen und ein eigenes Leben zu führen. Mit der Umsetzung dieser Lösungen wurden die Krampfanfälle seltener, bis sie schließlich ausblieben.
Ein ähnliches Beispiel betrifft einen 48-jährigen Architekten namens Friedrich, der nach einem Autounfall mit einer Hirnverletzung im präfrontalen Bereich zu Verena Emrich kam. Trotz erfolgreicher Rehabilitation blieb ein Restdefizit, das sich in seinem inadäquaten Sexualverhalten manifestierte. Er war völlig enthemmt, sprach ohne Nachdenken Frauen auf der Straße an, um mit ihnen zu schlafen. Seine Impulskontrolle fehlte komplett, was nicht nur im Privatleben, sondern auch im beruflichen Umfeld für Verwirrung sorgte. Die Therapiesitzungen konzentrierten sich darauf, seine unangemessenen Reaktionen zu stoppen und durch angemessene zu ersetzen.

zu meistern - Foto: Getty Images / d3sign
Friedrich musste neue Verhaltensregeln erlernen: Er sollte innehalten, bevor er etwas sagte, und sich zum Beispiel fünf gelbe Dinge, vier gehörte Begriffe und drei beobachtete Vorfälle ins Gedächtnis rufen, bevor er sprach. Friedrich übte konsequent, befolgte die neuen Regeln und konnte schließlich wieder problemlos mit Frauen interagieren. Leider ist die Therapie bei Wesensveränderungen nach einer Hirnschädigung oft nicht erfolgreich, was zu großem Leid bei den Betroffenen und ihren Angehörigen führen kann.
Ein weiteres Beispiel betrifft Helena, die nach einer Hirnschädigung ihren Alltag alleine bewältigen konnte, aber regelmäßig ihren Haustürschlüssel vergaß. Verena Emrich übte mit ihr, eine Liste zu führen, die sie überprüfte, bevor sie die Wohnungstür schloss.
Was für Nicht-Hirngeschädigte banal klingt, kann Betroffenen helfen, große Probleme zu lösen und ihren Alltag zu erleichtern. Voraussetzung dafür ist jedoch eine genaue Diagnose, auf deren Grundlage eine zielführende Therapie aufgebaut werden kann.
Im Saarland haben viele Hirngeschädigte Schwierigkeiten, einen Neuropsychologen zu finden. „Es gibt nur eine Handvoll Kollegen, die diese Weiterbildung absolviert haben. Die Versorgungslage für Betroffene ist daher eindeutig unzureichend.“