Am 23. Mai feiert das Grundgesetz seinen 75. Geburtstag. Vor knapp 35 Jahren gab es bereits Ideen, im Zuge der Wiedervereinigung eine neue Verfassung zu schaffen. Entwürfe waren geschrieben. Am Ende aber blieb es beim Grundgesetz.
Im Herbst 1989 demonstrierten in Ost-Berlin, Leipzig und anderen Städten der DDR immer mehr Menschen gegen die SED-Regierung. Im Sommer 1989 waren hunderte DDR-Bürgerinnen und Bürger in die bundesdeutsche Botschaft in Prag geflohen. Sie wollten ihre Ausreise in den Westen erzwingen. Die DDR-Regierung gab schließlich nach und ließ sie ziehen. Nach der Öffnung der Grenze und dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 zogen Tausende aus der DDR in die Bundesrepublik.
Die Demonstrationen im Osten gingen weiter, die Stimmung wurde aggressiver. Aus dem Slogan „Wir sind das Volk“ wurde vor allem in Sachsen und Thüringen immer öfter „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland einig Vaterland“. Immer mehr Demonstranten schwenkten schwarz-rot-goldene Deutschlandfahnen.
Es waren die Bürgerrechtler des Neuen Forums und anderer Initiativen, die mit der alten Staatsmacht am Runden Tisch über die Zukunft des Landes stritten. Eine Gruppe arbeitete mit Unterstützung westdeutscher Juristen an einer neuen Verfassung für die DDR. Sie orientierte sich am Grundgesetz, ging aber an vielen Stellen weit über dessen Vorgaben hinaus.
Die neue Verfassung der DDR sollte einklagbare, soziale Grundrechte wie ein Recht auf Wohnung, Recht auf Arbeit und ein Recht auf soziale Sicherung erhalten. Vorgesehen war auch die Verpflichtung des Staates zum Schutz der natürlichen Umwelt als „Lebensgrundlage gegenwärtiger und zukünftiger Generationen“ sowie zu Frieden und Völkerverständigung. Die Wehrpflicht sollte abgeschafft werden und das Volk mehr Mitbestimmungsrechte bekommen. Der Verfassungsentwurf enthielt Volksentscheide und weitere Elemente der direkten Demokratie.
Neue Entwürfe vor Beitritt der DDR
Für den 6. Mai 1990 waren die ersten freien Wahlen zur Volkskammer angesetzt, dem Parlament der DDR. Bis dahin musste der Entwurf zur Abstimmung vorliegen. Zwischenzeitlich hatte jedoch die DDR-Übergangsregierung die Volkskammer-Wahlen auf den 18. März 1990 vorgezogen. Für die Bürgerbewegten aus dem Neuen Forum und anderen Initiativen war das Wahlergebnis ein Desaster. Den Wahlsieg holte die „Allianz für Deutschland“, ein Bündnis aus West-CDU und der gleichnamigen DDR-Blockpartei sowie weiteren konservativen Kräften.
Wolfgang Templin von der DDR-Bürgerbewegung bilanziert: „Wir haben uns über den Runden Tisch ziehen lassen“. Die Bürgerbewegten wie er seien zu gutgläubig gewesen.
Hinzu kam, dass die diversen Bürgergruppen und -Initiativen auch untereinander nicht einig waren. Die meisten standen den West-Grünen nahe, aber manche auch der CDU und anderen Parteien. „Die Leute wählen nicht ihre Richter“, kommentiert der linke Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi den damaligen Wahlausgang. Zu viele hatten sich in der SED-Diktatur die Finger schmutzig gemacht. Deshalb waren sie nicht scharf darauf, die Bürgerbewegten an die Macht kommen und diese Verstrickungen aufklären zu lassen.
Thomas Großbölting von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg sieht vor allem wirtschaftliche Gründe für den Wahlerfolg der „Allianz für Deutschland“. Die Menschen hätten für Helmut Kohls „Verheißungen von den blühenden Landschaften“ gestimmt. „Der Bürgerbewegung fehlte der Rückhalt in der DDR-Bevölkerung“, analysiert der in Ost-Berlin aufgewachsene Jurist und Rechtshistoriker Jan Thiessen.
Im April 1990 stimmte die neu gewählte Volkskammer gegen den Verfassungsentwurf des Runden Tisches. Der Bürgerrechtler Gerd Poppe schrieb später, dass die meisten Abgeordneten den Entwurf nicht einmal gelesen hätten. Viele hätten den Verfassungsvorschlag vor der Abstimmung gar nicht erhalten. Trotzdem lehnten sie ihn mehrheitlich ab.
Da standen die Zeichen bereits auf „Beitritt“ der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Helmut Kohl und seinen Getreuen konnte es nicht schnell genug gehen.
Kinderrechte und Recht auf Wohnung
Währenddessen dachten 1990 mehrere Gruppen und Organisationen über eine neue Verfassung für das absehbar wiedervereinigte Land nach. Am 16. Juni 1990 gründeten DDR-Bürgerbewegte, sowie Wissenschaftler aus Ost und West, Juristen, Künstler und Politiker die erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative: das Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder. Die rund 200 Mitglieder, darunter der bekannte DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann, erarbeiteten einen Entwurf für eine gesamtdeutsche Verfassung auf Grundlage des westdeutschen Grundgesetzes. Ein Jahr später stellte das Kuratorium auf einer Tagung in der Frankfurter Paulskirche mit rund 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern seinen Verfassungsentwurf vor. Der Entwurf beinhaltete einklagbare soziale Grundrechte wie das Recht auf Bildung und auf eine angemessene Wohnung, Kinderrechte und Volksabstimmungen auf Bundesebene. Artikel 20 des Grundgesetzes, der die Bundesrepublik als „demokratischen und sozialen Bundesstaat“ definiert, sollte ergänzt werden. Deutschland solle ein „republikanischer, demokratischer, sozialer und ökologischer Bundesstaat“ werden.
Neu war auch die Vorschrift, dass die Haushalts- und Ausgabenpolitik von Bund und Ländern dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet werden sollte. Ein neu zu gründender ökologischer Rat sollte darüber wachen. Eine Reform des Föderalismus sah vor, dass Bundesgesetze nur noch mit Zustimmung des Bundesrates in Kraft treten dürfen. Weitere Regeln stärkten die Opposition im Bundestag, indem sie umfassende Auskunftsrechte der Abgeordneten festschrieben. Die Hälfte der öffentlichen Ämter sollte an Frauen vergeben werden.
Kritiker nannten den Verfassungsentwurf des Kuratoriums mit seinen zusätzlichen Grundrechten, Volksabstimmungen und Vorschriften zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen eine „bunte Wundertüte“ voller Versprechungen. Andere bemängelten zu viele neue Institutionen und Behörden sowie eine zu weit gehende Verrechtlichung der Politik. Diese hätte gewählte Politikerinnen und Politiker zu sehr eingeschränkt.
Soziale Grundrechte, etwa auf Arbeit und Wohnung wie in den Verfassungsentwürfen der frühen 90er, sieht Rechtswissenschaftler Jan Thiessen wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen kritisch. Grundrechte sollten so formuliert werden, dass sie auch eingelöst werden könnten. Der Staat baue jedoch kaum Wohnungen und schaffe nicht genug Arbeitsplätze. Man dürfe eine Verfassung nicht mit Erwartungen überfrachten, die man dann nicht erfüllen könne. „Wir schaffen es ja nicht mal, einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz umzusetzen.“
„Bunte Wundertüte“, viele Versprechen
Vor allem den westdeutschen Konservativen passten die Vorschläge der Verfassungsreformer grundsätzlich nicht.
„Eine Verfassungsneuschöpfung wird es mit uns nicht geben, auch keinen Umbau und keine Totalrevision“, sagt damals CDU-Mann Wolfgang Schäuble. Andere merkten an, dass sich doch gerade das Grundgesetz sozialistischen Gesellschaftsformen als überlegen erwiesen habe. Warum solle man es dann ändern?
Der Jurist und Publizist Heribert Prantl, Mitglied in der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, nennt Gründe. Zum Sozialstaat findet sich im Grundgesetz nur ein Satz: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ sowie in Artikel 14 die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums. Alle weiteren Grundregeln für den Sozialstaat hat das Bundesverfassungsgericht daraus abgeleitet. Prantl sieht in den Verfassungsentwürfen des Kuratoriums, des Runden Tisches der DDR und anderer „schöne und substantiierte Vorschläge, aus dem Sozialstaats-Prinzip ein wirklich anwendbares Prinzip zu machen.“
Auch den damaligen Vorschlägen für Volksabstimmungen auf Bundesebene kann Prantl einiges abgewinnen. Nach den schlechten Erfahrungen der Weimarer Republik (1919-33) hätten die „Väter und Mütter des Grundgesetzes eine furchtbare Angst vor dem Volk“ gehabt. Das deutsche Volk hatte schließlich Hitler gewählt. Deshalb habe man im Grundgesetz das Volk wie „beschränkt Geschäftsfähige“ behandelt, die „alle vier oder fünf Jahre dann mal zur Wahl gehen dürfen“. 1989/90 habe die friedliche Revolution jedoch gezeigt, „dass das Volk ein bisschen mehr vermag“.
In der Schweiz zeige sich, dass das Verständnis der Bevölkerung für politische Fragen mit den Möglichkeiten zur Mitbestimmung wachse. Manche Reform-Vorschläge aus den 90er Jahren erscheinen heute fast schon visionär. Als hätten die Autorinnen und Autoren die dramatischen Auswirkungen der Klimakrise und den Klimaschutz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 geahnt, nahmen sie den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen in ihre Verfassungsentwürfe auf.
In seinem Beschluss vom 24. März 2021 hat das Bundesverfassungsgericht aus Grundrechten wie dem auf Schutz des Lebens und aus Artikel 20 des Grundgesetzes abgeleitet, dass der Staat auch künftige Generationen vor den dramatischen Folgen der Erderwärmung schützen muss.
Schon in den 90er und frühen 2000er Jahren haben zumindest einige Anregungen der Verfassungsreformer von 1990 ihren Niederschlag im Grundgesetz gefunden: Artikel 20a bestimmt inzwischen den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zum Staatsziel. Einklagbare Rechte des oder der Einzelnen lassen sich daraus jedoch nicht ableiten.
Außerdem wurde das Verbot erweitert, Menschen etwa wegen ihrer Herkunft zu benachteiligen. Auch nichteheliche Kinder sind inzwischen ehelichen formal gleichgestellt.
Viel mehr ist seitdem aber im Grundgesetz nicht passiert. Verfassungsfragen sind Machtfragen. Und die Mehrheit hat die Macht. Das waren in Ost und West die Konservativen. Auch in der untergehenden DDR interessierten sich nur wenige für die Verfassung. Die Menschen waren mit ihrem Alltag mehr als beschäftigt.
Drei von fünf Ostdeutschen hatten 1995 nicht mehr denselben Job wie 1990. Sehr viele waren arbeitslos und sorgten sich um ihre Existenz.
Nach der Einführung der teuren D-Mark in der DDR waren die meisten Ost-Betriebe nicht mehr wettbewerbsfähig. Andere wurden von der Westkonkurrenz aufgekauft, um sie aus dem Verkehr zu ziehen.
Nicht auf Menschen im Osten gehört
Das gesellschaftliche Leben in der DDR war über die Betriebe und den Staat organisiert: Sport, Jugendarbeit, Vereine und mehr. Beides verschwand mit der Wiedervereinigung fast über Nacht. So schlossen zum Beispiel die zahlreichen Jugendklubs in den Stadtteilen und auf den Dörfern. Neonazis und andere rechte Gruppen füllten schnell die Lücken, die Land, Bund und Gemeinden hinterlassen hatten. Viele Ostdeutsche fühlen sich – vor allem in ländlichen Regionen – auch heute noch zu wenig gesehen und gehört.
Gregor Gysi nennt ein Berliner Beispiel aus der Nach-Wendezeit. In der DDR gab es in fast allen Schulen das Fach Astronomie, im Westen nicht. Mit der deutschen Einheit wurde es in Ost-Berlin gestrichen. Als der Chef der Sternwarte protestierte, habe ihn der Bildungssenator gefragt: „Sind Sie unserem Grundgesetz beigetreten oder wir Ihrer Verfassung?“
Gysi vermisste das Interesse an den Menschen im Osten. „Die wollten gar nicht wissen, was in Astronomie unterrichtet wurde.“
Jan Thiessen, Rechtswissenschaftler an der Humboldt-Uni, vergleicht die im Osten verbreitete Negativ-Stimmung mit einem misslungenen Schiedsverfahren oder einer Mediation. Wenn die Beteiligten das Gefühl haben, dass sie nicht zu Wort gekommen seien, sind sie mit dem Ergebnis unzufrieden - unabhängig davon, was konkret am Ende rauskommt.
Die Frage, ob die Menschen im Osten heute weniger enttäuscht wären, wenn es nach der Einheit eine gesamtdeutsche Verfassungsreform gegeben hätte, können auch Großbölting und Rechtshistoriker Thiessen nicht beantworten.
Andere sind sich sicher, dass der unsanfte Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik ein Grund für das verbreitete Misstrauen gegen das westliche System im Osten ist. Heribert Prantl fasst es pointiert zusammen: „Unterdrückte Demokratie rächt sich und die Rache hat den Namen Pegida und den Namen AfD.“ Beide hätten seiner Meinung nach heute weniger Erfolg, wenn die Menschen im Osten damals mehr gehört worden wären.