Die Idee ist uralt. „Alles ist Zahl“, hat der alte Pythagoras gemeint. Zweieinhalb Tausend Jahre später hält sich die Idee hartnäckig. Besonders in Zeiten kurz vor Wahlen, wenn Umfragen so intensiv verfolgt werden wie sonst allenfalls noch die Zwischenstände auf den Fußballplätzen der Republik. Mit dem kleinen Unterschied, dass Zwischenstände der Spiele ziemlich harte Fakten sind, Umfragen aber höchst interpretationsbedürftig daherkommen.
Sind nun 36 Prozent bei der jüngsten Wahlkreisprognose gut für die SPD, weil sie im Vergleich zur letzten Prognose leicht zugelegt hat – oder schlecht – weil es deutlich weniger sind als bei der Landtagswahl vor etwas mehr als zwei Jahren? Gut für die CDU, weil sie mit 28 Prozent besser dasteht als bei der letzten Umfrage, aber nur bei dem Ergebnis der letzten Landtagswahl, die sie bekanntlich verloren hat? Und was sagen sieben Prozent für das BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht), das bei Kommunalwahlen nur punktuell wählbar ist?
Das lässt sich dann ähnlich für alle Parteien durchdeklinieren. Weshalb alle darauf verweisen: Die Wahrheit liegt in dem Fall nicht auf dem Platz, wie beim Fußball, sondern im Wahllokal am 9. Juni. Stimmt, aber es hält niemanden davon ab, mit seiner Interpretation der Zahlen weiter Wahlkampf zu machen.
Durchaus nicht unberechtigt. Ist doch bekannt, dass Menschen dazu neigen, zu Gewinnern gehören zu wollen. Da können Umfragen schon mal was bewegen. Das ist aber eher Psychologie.
Nun sollen Kommunal- und erst recht Direktwahlen ganz anderen Gesetzen folgen, so wie im Fußball der Pokal bekanntlich seine eigenen Gesetze hat. Ganz frei machen von übergeordneten Entwicklungen können wir uns dabei aber nicht. Der neuerliche Ampelstreit um FDP-Kürzungspläne (Rente, Bürgergeld) wird nicht ohne Wirkung bleiben.
Auch und vielleicht erst recht nicht für die gleichzeitige Europawahl, die die Opposition zum Votum über die Ampel-Koalition erklärt hat. Der Verlockung wird mancher wohl kaum widerstehen. Das mag bei dem ein oder anderen einem inneren Frustbedürfnis entsprechen. Der Sache Europa tut es keinen Gefallen. Dabei wäre das dringender nötig denn je.