Wir fallen uns pausenlos ins Wort. Ist unsere Gesprächskultur noch zu retten?
Jetzt bin ich an der Reihe“, „Einen Moment noch“, „Sie hatten auch Ihre Gelegenheit zu sprechen“ – solche Phrasen zählen mittlerweile zum festen Repertoire bei Lanz, Illner und Co. In Talkshows liefern sich Politiker absurde Gefechte um das gesprochene Wort. Sie fordern unentwegt das Recht ein weiterzureden, ohne dabei das Argument des anderen ausklingen zu lassen. Das Resultat ist eine parallel zum Thema des Abends verlaufende Seifenoper, „Berlin-Mitte – Tag & Nacht“ sozusagen.
Nun könnte man argumentieren, dass Politiker qua Profession darauf gepolt sind, Gehör zu finden; Sendezeit ist für sie die wichtigste Währung. Ist das Unterbrechen also ausschließlich ein politisches Phänomen? Ganz und gar nicht. In allen Lebensbereichen verwechseln Menschen zunehmend das Komma mit dem Punkt. Im Job ist es mitunter ein Kampf, sich gegenüber Kollegen und Kunden Gehör zu verschaffen, vor allem wenn per Zoom 20 Köpfe gleichzeitig in die Kamera grinsen.
Auch auf Familienfeiern und im Freundes- und Bekanntenkreis scheint die Muße zu schwinden, sich auf die Gedanken des anderen einzulassen. Mal ist der Hinweis auf ein spektakuläres Tiktok-Video wichtiger, mal die eigene unverrückbare Meinung, mal wahlloses Geplapper. Besonders bitter ist das, wenn es ständig passiert oder bei Themen, die einem wirklich am Herzen liegen.
Respekt und gute Manieren verlieren an Bedeutung, gleichzeitig nimmt die Ungeduld zu. Diese Punkte sind eng mit dem Phänomen des Unterbrechens verbunden. Laut dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ist die Gesellschaft von einer „großen Gereiztheit“ geprägt, echtes Zuhören ist selten und kostbar geworden. Einer der Gründe hierfür ist der anhaltende Konflikt zwischen den Idealen. Jeder verortet sich oder wird verortet, als Linker, Rechter, Feminist, Macho, Öko-Alarmist, Umweltsau, schön plakativ. Viele definieren sich über ihre Meinung, die sie in ihren Filterblasen als Wahrheit feiern und verbissen verteidigen. Die Konsequenz: Gespräche, in denen der „kommentierende Sofortismus“ dominiert – so nennt Pörksen affektive Ad-hoc-Erwiderungen.
Zusätzlich dazu dreht sich unser Leben schneller als je zuvor; wir surfen rund um die Uhr, swipen unermüdlich von einem Clip zum nächsten, posten, liken und teilen im Eiltempo – dadurch hat sich unsere Konzentrationsspanne verkürzt. Langweilt uns etwas, sind wir sofort woanders, etwa bei uns selbst. Aus diesem Grund haben ausführliche Sätze mit komplexen Gedanken, die zu frischen Erkenntnissen führen könnten, kaum noch eine Chance. Einmal unterbrochen, meldet sich außerdem die Beziehungsebene: Warum schreit er so? Wie kann ich mich behaupten? Der gesunde Austausch verwandelt sich in einen giftigen Wettbewerb der Worte, mit Siegern und Verlierern.
Schulen, Universitäten und Unternehmen betonen in ihren Leitlinien die Relevanz einer wertschätzenden Kommunikation, Coaches vermitteln Methoden für einfühlsame Gespräche, Podcasts klären über aktives Zuhören auf. Nach außen hin scheinen alle bemüht, vorbildlich zu interagieren, doch im Alltag sieht es oft anders aus. Könnte es sein, dass allein das Bekenntnis zu den beschriebenen edlen Prinzipien oder ihr passiver Konsum bereits unser Gewissen beruhigt – und wir daraufhin abschalten?
Die klügsten Argumente sind wertlos, wenn sie im Verborgenen bleiben. Daher sollten wir uns nicht andauernd gegenseitig in die Parade fahren. Auch introvertierte und differenzierte Denker verdienen Aufmerksamkeit. In einer guten Dialog-Kultur gilt das Zuhören als zentrale Tugend. Es ermöglicht dem Sprechenden, seine Ansichten spruchreif werden zu lassen, ohne permanent aus dem Konzept gebracht zu werden. Natürlich: Wird beleidigt, gehetzt oder verleumdet, ist die Grenze des Schweigens erreicht. Doch innerhalb dessen leuchtet genügend Freiraum für einen fruchtbaren Diskurs. Gedanken anzuhören, sie nachzuvollziehen, sie zu würdigen – darauf kommt es an. Gegenrede hat Platz, aber auch Zeit.