Marco Reus spielte zwölf Jahre lang ununterbrochen für Borussia Dortmund. Trotz vieler Wechsel-Angebote. Nun erhält er keinen Vertrag mehr.
Edin Terzic war merklich berührt. Es war ja nicht nur ein Einschnitt für Borussia Dortmund, dem gebürtigen Dortmunder Marco Reus nach zwölf Jahren keinen neuen Vertrag mehr anzubieten. Es war auch für Terzic eine Geschichte, bei der er sich zur professionellen Neutralität wohl regelrecht zwingen musste. Terzic ist wie Reus ein echter Dortmunder Jung mit dem BVB-Wappen im Herzen. Er jubelte Reus einst als Fan auf der Südtribüne zu, ehe er sein Chef und Trainer wurde. Und nun musste er den Abschied jenes Spielers, den er als „lebende Legende“ bezeichnete, selbst einleiten, indem er ihn in den vergangenen Wochen oft nur einwechselte und manchmal sogar nicht mal das.
Terzic hatte signalisiert, dass es für Reus bei aller Wichtigkeit für den Verein einfach nicht mehr reicht als Stammkraft auf diesem Niveau. „Ich habe leider keine Fernbedienung und keine Stoppuhr, die verhindert, dass er am Ende des Monats 35 Jahre alt wird“, sagte der Trainer schon etwas entschuldigend: „Wir sind im Leistungssport unterwegs. Da wissen wir, da kämpfen wir nicht nur um Siege, sondern wir kämpfen auch immer gegen die Zeit.“ Über Reus könne er ohne Zögern „zwei Stunden reden“, sagte Terzic: „Im modernen Fußball ist es eine einmalige Geschichte, dass sich jemand so hingibt für einen Verein. Er ist seit über 20 Jahren im Verein, zwölf Jahre als Profi, er war unser Kapitän, ist hier geboren. Ich bin einfach nur stolz, Trainer von Marco Reus sein zu dürfen. Er ist zwölf Jahre Profi, und was mir gestern erst bewusst wurde: Die Hälfte davon war ich mit dabei. Die letzten sechs Jahre. Was wehtut ist, dass es die letzten sechs Jahre waren, nicht die ersten sechs. Das hätte mir noch mehr gefallen.“
„Mein halbes Leben dem Club gewidmet“
Aber Marco Reus ist inzwischen nun mal fast 35. Das steht nicht nur in seinem Pass, das ist bei einem Spieler wie ihm, der immer auch über die Dynamik kam, nicht zu verhehlen. Und ihm noch einen Gnaden-Vertrag zu geben, quasi als mittrainierendes Maskottchen, das würde ihm nicht entsprechend und kam deshalb sicher weder für den Verein noch für Reus selbst infrage. Deshalb verkündete der Club am 3. Mai, dass der auslaufende Vertrag des Ex-Nationalspielers nicht verlängert wird. Beziehungsweise, wie es seinem Standing gebührt, der Club ließ es Reus selbst in einer emotionalen Video-Botschaft verkünden. „Mein halbes Leben habe ich diesem Club gewidmet“, sagte er sichtlich bewegt: „Ich habe eine Menge Höhen und Tiefen erlebt, aber mehr Höhen meiner Meinung nach. Es hat mich unheimlich stolz gemacht, und ich bin unheimlich dankbar, so viele Jahre für diesen Club gespielt haben zu dürfen.“ Club-Chef Hans-Joachim Watzke adelte Reus als „einen der größten Spieler dieses Clubs“ und hegt die Hoffnung, dass er „im Anschluss an seine Profikarriere“ zurückkehren wird. „Denn hier in Dortmund warten genug spannende Aufgaben auf ihn“. Erst aber, das verkündete der Verein, suche Reus „zum Ende seiner beeindruckenden Karriere (…) noch mal ein neues Abenteuer.“ Ein Konkurrent aus der Bundesliga scheint schwer vorstellbar, aber Vereine aus der Türkei und vor allem den USA sollen an Reus interessiert sein.
Das Kuriose: Die Verbindung zwischen dem im Dortmunder Stadtteil Körne aufgewachsenen Marco Reus und der Borussia steuerte zunächst auf gar kein Happy End zu. 1995, mit sechs, schloss er sich der Borussia an. 2005, mit 16 wurde er als körperlich nicht robust genug weggeschickt. Über LR Ahlen in der Zweiten Liga und Borussia Mönchengladbach zeigte Reus, dass er wohl für den Profi-Fußball taugt. Und so musste der BVB 2012 rund 17 Millionen Euro investieren, um ihn zurückzuholen.
Geld, das sich gelohnt hat. Obwohl der Karriere von Reus immer auch ein Stück weit Tragik anhaftete. Als er 2012 kam, hatte das Team unter Trainer Jürgen Klopp gerade das Double und dabei zum zweiten Mal in Folge die deutsche Meisterschaft gewonnen. Obwohl Reus viele starke Saisons hatte, kam bis heute kein Meistertitel hinzu. In Reus’ Trophäen-Bilanz stehen lediglich zwei Pokalsiege in den Jahren 2017 und 2021.
Normalerweise hätte auch der Weltmeistertitel dazu gehört. Doch Reus, der vor dem Turnier 2014 als formstärkster deutscher Spieler und großer Hoffnungsträger galt, verletzte sich im letzten Vorbereitungsspiel schwer. Wie er überhaupt unglaublich Pech mit Verletzungen hatte. Laut Wikipedia hatte er in seiner Karriere 54 Ausfälle zu beklagen, fiel insgesamt 1.246 Tage aus, verpasste 145 mögliche Vereinsspiele.
Liebe auf den zweiten Blick
Doch fast noch mehr prägten die Verletzungen bittere Momente in seiner Nationalmannschafts-Karriere. 2010 wurde er für das letzte Testspiel vor der WM eingeladen, musste aber verletzungsbedingt absagen und wurde nicht nominiert. 2012 gehörte er zum Kader, saß aber die ganze Vorrunde nur auf der Bank und nach starkem Viertelfinale im Halbfinale auch wieder. Für die Euro 2016 musste Reus wieder verletzungsbedingt absagen, bei der WM 2018 war er endlich Stammspieler, aber Deutschland schied erstmals in der Vorrunde aus. Auf die EM 2021 verzichtete er „nach einer kräftezehrenden Saison“ selbst, bei der WM 2022 fehlte er nach erneuten körperlichen Problemen erneut.
Es bleibt also das Gefühl, dass er ein ganz Großer des deutschen Fußballs hätte sein können. Aber dass längst nicht das aus der Karriere wurde, was daraus hätte werden können.
Doch bei Borussia Dortmund, da wird man ihn nicht vergessen. Wegen seiner Sturmläufe, seiner Tore, aber auch seiner Vereinstreue. Der FC Barcelona, der FC Bayern, viele Clubs aus der Premier League, alle wollten sie Reus im Laufe seiner Karriere. Doch der Dortmunder Jung widerstand stets. Vor der Süd zu spielen, das war sein Traum, der durch nichts zu ersetzen war. 424 Pflichtspiele hat Reus im schwarz-gelben Trikot absolviert, dabei war er an 297 Treffern direkt beteiligt. Mit 119 Bundesliga-Toren belegt er Rang drei der vereinshistorischen Rangliste hinter Manfred Burgsmüller (135) und Michael Zorc (131). Im Europacup ist er mit 33 Treffern sogar Rekordschütze.
BVB-Abschluss gegen Real Madrid
Einen Tag nach der Verkündung seines Abschieds stellte ihn Terzic wieder in die Startelf. Beim 5:1 gegen Augsburg schoss Reus prompt ein Tor, bereitete zwei vor, traf dazu noch einmal die Latte. „Alles, was er mit dem Ball gemacht hat, war extraklasse“, schwärmte Terzic. Die Fans riefen ihn, und zwar ihn alleine, nach dem Spiel vor die Süd und feierten ihn minutenlang. „Unbeschreiblich. Das ist durch nichts zu ersetzen“, sagte er. Und nur Marco Reus weiß, wie schwer es ihm in diesem Moment gefallen ist, die Tränen zu unterdrücken. „Ich habe nie gedacht, dass ich in meiner Karriere so ein Spiel erlebe, in der die Fans einen so honorieren.“ Doch das war nur der Anfang der Abschiedstour in Dortmund. Schon seit Wochen lautete das Ziel sowohl von Reus selbst als auch des BVB, das Champions-League-Finale in Wembley zu erreichen. 2013, am Ende von Reus’ erster Saison als Dortmund-Profi hatte es dort eine 1:2-Endspiel-Niederlage gegen den FC Bayern gegeben.
Nun geht es am 1. Juni im definitiv letzten Spiel von Reus als BVB-Profi an selber Stelle gegen Real Madrid. „Wir wollen nach Wembley, wir wollen den Henkelpott nach Dortmund holen“, hatte Reus schon bei seiner Abschieds-Verkündung gesagt. Und erklärt, dass genau vor diesem Hintergrund der Moment der Veröffentlichung gewählt worden sei. Es sei vor dem Halbfinal-Rückspiel in Paris „einfach wichtig, dass die Entscheidung gefallen ist und dass das Thema dann auch damit beendet ist. Und dass wir uns alle auf dieses große Ziel konzentrieren“, sagte der „(noch) Unvollendete“ („FAZ“). Und es klappte. Durch einen zweiten 1:0-Sieg gegen Paris erreichte Dortmund das Endspiel.
Marco Reus war am Amazon-Mikrofon sichtlich gerührt. „Wembley. Da, wo alles angefangen hat. 2013. Nach über zehn Jahren mit Borussia Dortmund wieder im Finale. Wahnsinn. Wahnsinn“, sagte er. Und hängte direkt an: „Wir müssen das Ding jetzt aber nach Hause holen. Sonst wäre es scheiße!“ Umgekehrt wäre es ein fast märchenhaftes Ende einer im Fußball höchst ungewöhnlichen Verbindung.