Manche Vorurteile gegenüber der Politik der EU-Kommission halten sich hartnäckig und viele Errungenschaften werden als Selbstverständlichkeit hingenommen. Eine kommunikative Herausforderung für Stefan Lock, Vertreter der EU-Kommission mit Sitz in Bonn. Aus seiner Sicht geht es bei der Wahl am 9. Juni um die grundlegenden Werte und Errungenschaften Europas.
Herr Lock, warum hat die EU-Kommission eine eigene Vertretung mit Sitz in Bonn?
Wir sind Auge, Ohr und Sprachorgan der Kommission. Es geht um das Erklären von Politiken, die aus Brüssel kommen, aber auch um das Aufnehmen von Stimmungsbildern. Dabei sind wir zuständig für die EU-Kommission, also nicht für alle EU-Organe. Von Bonn aus betreuen wir die Bundesländer Hessen, Rheinland-Pfalz, NRW und das Saarland. Wir sind übrigens die älteste Vertretung in einem Mitgliedsstaat. Wir sind jetzt seit 70 Jahren in Bonn.
Die EU steht eigentlich permanent in der Kritik, die Vorwürfe sind bekannt. Wie gehen Sie damit um?
Wir kriegen natürlich Kritik ab, manchmal sogar eine ganze Menge. Was ich in der kurzen Zeit bereits feststelle, ist, dass es oft um mangelnde Information geht, was zu Missverständnissen und verschobenen Wahrnehmungen seitens der Bürgerinnen und Bürger führt. Da kann man schon einiges erreichen, indem man erklärt. Europa ist manchmal ein bisschen komplizierter als Landes- oder Bundespolitik, das Institutionengeflecht ist etwas schwieriger zu durchschauen, Wenn man erklärt, kann man schon viel gewinnen. Aber es gibt natürlich auch sehr festsitzende Vorurteile: Diktate aus Brüssel, Überregulierung, Eingriffe in den Alltag. Uns ist wichtig zu erklären, dass es oft ein Zusammenspiel ist zwischen dem, was an Vorgaben aus Brüssel kommt, und dem, was die einzelnen Mitgliedsstaaten, auch die Bundesrepublik, daraus machen, wenn sie es umsetzen.
Ist es immer noch so, dass man gerne auf Brüssel verweist, um Vorschriften zu vermitteln, nach dem Motto: Die EU war’s?
Allerdings. Das zieht sich durch von der Kommunalpolitik bis zur Bundespolitik. Im Zweifel waren es immer „die aus Brüssel“. Gleichzeitig nehmen wir viele Dinge, die Europa ausmachen, als selbstverständlich hin, selbst wenn sie erst eine relativ kurze Geschichte haben: Die Reisefreiheit im Schengen-Raum, die Eurozone, oder als Arbeitnehmer in unterschiedlichen Ländern Arbeitsverhältnisse eingehen zu können. Studierende nehmen „Erasmus“ als selbstverständlich hin – ist es aber nicht.
Die EU steht bekanntlich vor vielen, richtig großen Herausforderungen. Zuviele auf einmal?
Wir hatten in sehr kurzer Zeit riesige politische Herausforderungen, wenn ich mir nur die letzten drei Jahre anschaue: Corona und wie damit umgegangen worden ist auf europäischer Ebene als Solidargemeinschaft in der Frage der europaweiten Impfstoffversorgung. Aber auch, wie mit den sozialen Folgen umgegangen worden ist durch Kompensationsmaßnahmen und Unterstützungsleistungen. Die EU hat da viel geleistet. Die Tatsache, dass wir auf kontinentaleuropäischem Boden wieder einen Krieg haben, ausgelöst durch den russischen unprovozierten Angriffskrieg auf die Ukraine. Und wenn wir mit jungen Leuten sprechen, sind zwei Themen wirklich herausstechend: Die Green Deal Herausforderungen, also der Anspruch, Klimaneutralität zu erreichen. Das ist aber auch ein kontroverses Thema. Ist das überhaupt machbar? Was heißt das ökonomisch? Wie sieht für mich die Welt in 20, 30 Jahren, vielleicht schon in zehn Jahren aus? Das zweite große Thema ist Krieg und Frieden.
In Deutschland darf bei der Europawahl ab 16 gewählt werden. Letzte Umfragen zeigen, dass ein beträchtlicher Teil Parteien wählen würde, die Europa alles andere als freundlich gegenüberstehen.
Man muss da mehrere Aspekte sehen. Zum einen scheint es nach Umfragen eine größere Bereitschaft junger Menschen in Deutschland zu geben, zur Europawahl zu gehen (im Vergleich zu 2019). Da kann das Wahlalter 16 auch eine Rolle spielen. Das Zweite: Bei jungen Menschen, mit denen ich sprechen konnte – was sicher nicht repräsentativ ist, aber doch schon etwas aussagt, sehe ich ein sehr hohes Interesse an der Wahl. Das Dritte: Es gibt wenig in der Mitte: Viele junge Menschen beschäftigen sich sehr stark auch mit den Themen, die Europa betreffen, und es gibt andere, an denen das völlig vorbeigeht, die sich nicht betroffen fühlen und nicht dafür erwärmen können. Da ist die Frage: Wie würden sie wählen, wenn sie denn gehen würden?
Was sagen Sie denen?
Es geht uns nicht darum, parteipolitisch zu arbeiten, aber wir wollen schon unterstreichen: Es geht um europäische Werte, um europäische Errungenschaften und das, wofür Europa steht: Meinungsfreiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Rechtssicherheit. Dinge, die nicht selbstverständlich sind. Was ich Schülerinnen und Schülern oft erzähle: Ich hätte gerne mit 16 gewählt. Das ging damals, in den 1980ger Jahren in Bayern, nicht. Dann merke ich, dass es ein Interesse gibt, das Stimmrecht wahrzunehmen – und das ist eine gute Sache. Unsere Bitte: Geht wählen. Nur wenn viele wählen gehen, bildet das auch das gesamte Meinungsbild ab. Das Zweite ist schon auch, zu sagen: Überlegt Euch, was auf dem Spiel steht, und was in Frage stehen würde. Was würde passieren, wenn man weniger Europa wählen würde, eine Abkehr von europäischen Errungenschaften und mehr Selbstbezug auf nationaler Ebene.
Druck kommt aber auch von außen. Wie kann sich Europa bewähren?
Was momentan diskutiert und von einigen Ideengebern auch publiziert wird, jüngst auch von Vizekanzler Habeck, der die Laudatio bei der Karlspreisverleihung gehalten hat, ist eine stärkere Europäisierung von Sicherheits- und Außenpolitik und von Verteidigungsausgaben. Wir müssen internationale Bedrohungen und internationale Konflikte mit einer europäischen Antwort angehen. Es gibt viele Stimmen, die sagen: Wir müssen europäischer denken. Es geht aber auch um die Frage, wie sich Europa in einer globalen Welt im Wettbewerb bewährt, was Europa zu bieten hat. Was ich spannend finde ist der Umgang mit dem Green Deal, der ein Denken angestoßen hat, nachhaltige, wenn Sie wollen: grüne Wirtschaftsweise mit Wirtschaftswachstum zu kombinieren. Diese Ideen wurden außerhalb Europas durchaus auch wahrgenommen und beispielsweise von den USA und China in eigene Politiken umgesetzt. Da ist die Frage: Wie bleiben wir am Ball. Wie entwickeln wir Themen weiter, die wir angestoßen haben. Auch der Global Gateway (Infrastrukturpartnerschaften mit demokratischen Werten und nachhaltigen Standards) hat eine starke Verbindung zum Green Deal. Es geht schon darum, europäische Werte und europäische Normen einzubringen. Es ist ein, wie ich hoffe, attraktiveres und faireres Angebot. Es geht um den Aufbau von Partnerschaft auf einem „level playing field“, also fairen Spielregeln und nachhaltigen Wirtschaftsformen.
Wie sollte die EU in fünf Jahren aussehen?
Ein stärker vernetzter, klarer positionierter politischer Akteur. Ein geopolitischer Akteur, der mit Sicherheit nach wie vor vor Herausforderungen steht. Ich glaube nicht, dass die geopolitische Lage ruhiger sein wird. ich wünschte es mir, aber realistischerweise muss man sagen, dass wahrscheinlich Konflikte fortbestehen, sich verfestigen, und da müssen wir dranbleiben.