Mahdi Srour ist KI-Wissenschaftler, Deutscher mit libanesischen Wurzeln und forscht am MIT. Seine Perspektive auf die derzeitige Situation in der Politik und die Wahlen in Europa wird geprägt durch Migration, ergriffene Chancen und dem Wunsch, seiner Heimat etwas zurückzugeben.
Herr Srour, Sie sind jetzt ein Jahr lang in den USA. Woran arbeiten Sie dort gerade?
Ich bin nach Cambridge ans Massachusetts Institute of Technology (MIT) gekommen, um in zwei verschiedenen Forschungsgruppen zu arbeiten. Beide drehen sich um das Thema der Künstlichen Intelligenz. Auf den Forschungsergebnissen aufbauend habe ich dann mit drei Professoren zusammen ein Start-up gegründet, das sich „Ada IQ“ nennt. Studiert habe ich Wirtschaftsingenieurswesen, Maschinenbau und Informatik, in Aachen, später in den USA und in Schweden mit einem Zwischenstopp in Peking. Eigentlich wollte ich Philosophie studieren. Mein Vater ist Schriftsteller, das habe ich von ihm mitbekommen. In meiner Arbeit nun geht es um die Frage, wie man Künstliche Intelligenzen entwickeln kann, die vertrauenswürdig für komplexere Aufgaben wie das Engineering sind – ebenfalls eine teilweise philosophische Frage. Die Ingenieurswissenschaften werden Künstliche Intelligenzen in hochkomplexen Aufgaben nutzen. Diesen müssen wir aber viel mehr vertrauen können, als wir heute auf ChatGPT vertrauen.
Hat Ihre Migrationsgeschichte zu Ihrer Sichtweise beigetragen?
Ich versuche im Team, bei meiner Arbeit mit der Technologie, die Werte mit einzubringen, die mir wichtig sind. Ich forme das Fremde mit meiner Vision mit. Dafür brauche ich eine hohe Ambiguitätstoleranz. Das bedeutet, andersartige Wertevorstellungen und Verhaltensweisen zu erkennen, sich ihrer Diversität bewusst zu werden, um dann reflektiert mögliche „Dissonanzen“ aushalten zu können. Das habe ich von den Individuen und Institutionen gelernt, die mich früh unterstützt haben. Ich bin in Merzig geboren und aufgewachsen, einer kleinen Stadt im Norden des Saarlandes. Unsere damalige Nachbarin war eine der wenigen, die sehr offen dafür war, die Kultur und Geschichte meiner Familie kennenzulernen. Sie hat sich als Individuum mir gegenüber geöffnet, mir ihre Werte aufgezeigt und das mitgegeben, was ihr wichtig war. Ich habe das Glück gehabt, dass ich einige solcher Individuen über mein bisheriges Leben hinweg kennengelernt habe. Doch auch, oder vor allem, haben mich Institutionen geformt. Mit 13 Jahren erhielt ich das Start-Stipendium der Asko Europa Stiftung. Die Seminare und der Austausch mit meinen Mitstipendiaten hat mein „Europa-Gefühl“ ungemein gestärkt. Mir wurde schnell bewusst, dass Europa bunt sein muss, dass der europäische Zusammenhalt von allen Bürgern Geduld und Vertrauen abverlangt, um über Grenzen hinweg eine gemeinsame Identität formen zu können. Ich bin heute viel mehr Europäer, als ich Deutscher bin. Und da das Saarland im Herzen Europas liegt, passt das wunderbar. Später im Studium war es das Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, das meine Werte mitgeformt hat. Um die Welt selbstbewusst mitformen zu können, wird das Gefühl der Zugehörigkeit gebraucht. Dieses Gefühl haben mir die Individuen und Institutionen mitgegeben. Ich bin Teil ihrer Vision. Darauf habe ich gelernt zu vertrauen.
Machen Sie sich Sorgen, wenn Sie politisch auf Deutschland, auf Europa schauen?
Wenn ich sehe, wie viele Menschen rechts wählen würden, mache ich mir große Sorgen. Vor allem, weil ich mich bewusst dazu entschieden habe, dass ich nach Europa zurückkehren möchte. Ich spüre eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, und ich möchte diese aktiv mitgestalten. Es lässt sich vermehrt beobachten, dass Menschen sich ihrer individuellen Verantwortung der Gesellschaft gegenüber entziehen, mit dem Finger auf die Regierung zeigen, um ihr die Schuld an den Herausforderungen zu geben, die wir alle gemeinsam lösen müssen. Mit meiner Geschichte möchte ich zeigen, dass jedes Individuum anderen Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl mitgeben kann, und dass diese Menschen darauf aufbauend vieles leisten können. Wir haben heute gesellschaftlich ein buntes Europa. Und das Europa der Zukunft ist bunt, muss bunt sein. Alles andere ist eine Gefahr für unsere Demokratie. Die Regierungen im Einzelnen können nicht das lösen, was Europa wirklich braucht: Bürger, die daran glauben, dass sie ihre Werte in einer bunten Gesellschaft einbringen können. Wir brauchen Individuen und Institutionen, die das nötige Vertrauen hierzu ausstrahlen und mit ihrer Ambiguitätstoleranz Europa mitformen. Jeder Einzelne kann Europa mitformen. Es gibt nun einige Amerikanerinnen und Amerikaner, die auf mich zukommen und fragen: ‚Hey, Mahdi, was passiert in Deutschland, was ist die AfD, was bedeutet dieser Rechtsruck, müssen wir uns Sorgen machen?‘ Ich erkläre dann, wer die AfD ist, und zeige Bilder, wie die Menschen gegen Rechts demonstrieren. Die Antwort meiner US-amerikanischen Freunde ist oft: Ihr habt dasselbe Problem wie wir. Eine polarisierte Gesellschaft, in der es einfacher ist, schuldzuweisend auf andere zu zeigen, dem Populismus mehr Raum zu geben als der Toleranz. In der die Menschen sich schwertun, an eine gemeinsame Vision zu glauben und das Gefühl haben, dass sie sich für die eine oder die andere Seite entscheiden müssen.
Sind die Wahlen in der EU überhaupt ein Thema in den USA?
Die USA sind sehr mit sich selbst beschäftigt. Viele Menschen sind sich jedoch darüber bewusst, dass die Europawahlen bevorstehen. Mit einer möglichen zweiten Amtszeit Trumps vor Augen stellen sie sich auch die Frage, ob Europa sich unabhängiger machen muss.
Was nehmen Sie aus den USA an Erfahrungen mit?
Meine Zeit in den USA zeigt mir, dass genauso wie die Demokratie eine bunte Gesellschaft bedarf, die Wirtschaft Innovationen braucht, um zu wachsen. Zur Entwicklung innovativer Technologien bedarf es derselben Ambiguitätstoleranz. Gründer von Start-ups bringen ihre Visionen ein, wie wir Menschen die Technologie nutzen können, und arbeiten an den Grenzen des Möglichen. Dadurch wächst die Wirtschaft an ihren Herausforderungen. Ich habe das mit der Ambiguitätstoleranz schon früh verstanden, deshalb fühle ich mich auch so wohl mit der Entwicklung von Technologien.
Aber das wollen Sie in Deutschland tun, nicht in den USA?
Richtig. Ich habe mich entschieden, im Juni wieder nach Deutschland zurückzukommen. Deutschland ist meine Heimat. Ich vermisse auch das Saarland und seine Menschen. Ich möchte das, was ich über die letzten Jahre technologisch und menschlich gelernt habe, mit zurückbringen, um meinen Beitrag zu leisten. Um Verantwortung zu übernehmen. Für eine bunte Gesellschaft und eine innovative Wirtschaft. Was ich wirklich hier gelernt habe ist: schnell Fehler machen, hinfallen, daraus lernen, weitermachen. Eine Kultur, die wir in Deutschland weniger haben. Ich folge Heraklit, wenn er sagt: „Nichts ist so beständig wie der Wandel“ und betone, dass jeder von uns seinen Betrag zu diesem Wandel leisten kann.