In den letzten Jahren erfreut sich die zuckerfreie Ernährung immer größerer Beliebtheit, manche Promis und Influencer schwören darauf. Ratgeber gibt es viele. Ernährungsmedizinerin Dr. Martha Ritzmann-Widderich erzählt im Interview, was sie davon hält.
Frau Dr. Ritzmann-Widderich, ist eine zuckerfreie Ernährung tatsächlich gesünder?
Nicht unbedingt. Es kommt eigentlich nur auf die Menge an. Ganz zuckerfrei ernähren wir uns nie. Und letztlich ist Glukose, der Traubenzucker, der Hauptbrennstoff für alle unsere Zellen. Das heißt, alles, was wir an Kohlenhydraten essen, also Zucker, Stärke, Mehl und Vollkorn wird letztlich im Darm zu kleinen Zuckerstückchen gespalten, geht als Glukose ins Blut und versorgt unsere Körperzellen, auch das Gehirn, mit Energie. Wir leben also von Zucker. Aber wichtig ist, in welcher Form und Menge wir diesen zuführen.
Heißt das, es gibt guten und bösen Zucker?
Es geht einmal um die Gesamtmenge an Kohlenhydraten. Das bezeichnen wir als Glykämische Last. Als zweites ist der Glykämische Index entscheidend. Dieser bestimmt, wie schnell ein kohlenhydrathaltiges Lebensmittel auf den Blutzuckerspiegel wirkt. Das heißt, wie rasch und wie viel Zucker vom Darm ins Blut aufgenommen wird.
Kohlenhydrate sollte man daher nicht immer in leicht resorbierbarer Form zuführen, also vermehrt auf komplexe Kohlenhydrate achten, wie sie zum Beispiel in Vollkornprodukten, Gemüse, Salat und Obst vorhanden sind. Diese gehen langsam und gleichmäßig über einen längeren Zeitraum ins Blut. Das heißt, wir sind länger satt. Schnelle Kohlenhydrate, die wir in Süßigkeiten oder auch in Säften und Softdrinks finden, machen uns hingegen Probleme. Vor allem wenn sie isoliert zugeführt werden, also nicht als Teil einer kompletten Mahlzeit.
Inwiefern machen uns letztere Probleme? Was passiert, wenn wir viele schnelle Kohlenhydrate, also viel Einfachzucker essen?
Wenn rasch viel Zucker im Blut ist, wird das Hormon Insulin aus der Bauchspeicheldrüse ausgeschüttet, welches den Zucker aus dem Blut in die Zellen transportiert. Der Blutzuckerspiegel sinkt wieder schnell ab, und wir bekommen Heißhunger und werden kribbelig. Und wir suchen uns erneut etwas Süßes. Wir befinden uns also auf einer Achterbahn: Zucker hoch, Zucker runter – und wieder Zucker zuführen. Auch wenn wir unseren Zuckerspiegel konstant hochhalten, tut das unserem Gehirn überhaupt nicht gut. Unsere Konzentrationsfähigkeit leidet durch zu viel Zuckerkonsum. Und letztlich wird alles, was wir an Kohlenhydraten essen und nicht verbrennen, also nicht benötigen, in der Leber in Fett umgewandelt, auch Fruchtzucker (Fruktose). Dies erhöht die Gefahr für die Entstehung von Übergewicht, Diabetes sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Kann man Zuckerkonsum als Sucht bezeichnen?
Ja, das kann man durchaus. Der Körper und vor allem das Gehirn verlangen immer mehr danach. Denn durch die Zufuhr von Zucker wird das Belohnungssystem aktiviert.
Wie kann man diese Sucht wieder loswerden?
Man kann das Verlangen nach Zucker wieder herunterfahren. Das mache ich in meinem Beruf als Ernährungsmedizinerin oft mittels Fasten und durch kohlenhydratarme Diäten. Allerdings muss man darauf achten, dass dies langsam geschieht, damit man anfangs nicht unter Kopfschmerzen leidet.
Das habe ich schon öfter gelesen, dass wenn man den Zucker radikal aus seinem Speiseplan verbannt, unter anderem Kopfschmerzen die Folge sind…
Ja, genau. Das Gehirn muss sich erst wieder daran gewöhnen, dass es nicht mehr so viel Zucker bekommt. Aber dann funktionieren die Hirnzellen sogar oft besser.

Tatsächlich?
Ja. Nach einer Weile kann man tatsächlich besser denken. Denn wenn ich meinen Körper und mein Gehirn ständig mit Zucker zuschütte, gibt es nicht nur praktisch eine Resistenz im Körper, sondern auch im Gehirn. Die Diabetiker wissen das. Wenn immer zu viel Zucker im Blut ist, kann das Insulin den Zucker nicht mehr auf die Zellen verteilen. Die Zellen werden resistent, sie nehmen den Zucker nicht mehr auf, auch im Gehirn.
Was macht das mit uns?
Betroffene sind müde, schlecht gelaunt und können sich nicht so gut konzentrieren. Wenn die Zuckerzufuhr dann wieder auf ein normales Maß zurückgefahren wird, verschwinden diese Symptome zunehmend. Allerdings erst nach einer gewissen Umgewöhnungszeit.
Wenn man zeitweise die Kohlenhydratmenge begrenzt auf weniger als 50 Gramm pro Tag, wird die Fettverbrennung angeregt und es entstehen sogenannte Ketone, welche die meisten unserer Körperzellen und vor allem auch das Gehirn als Ersatzbrennstoff verwenden können und damit oft sogar noch besser funktionieren. Hierdurch erholt sich auch das Gehirn rascher von einer Zuckerüberflutung.
Ich finde es faszinierend, dass in den vergangenen Jahrzehnten der Zucker beispielsweise in der Werbung mit Slogans wie „Zucker macht gesund und schlank“ oder „Zucker zaubert“ gehypt wurde…
Heute ist den meisten Menschen schon klar, dass solche Aussagen nicht stimmen. Sie wissen, dass Zucker in großen Mengen nicht gut für den Körper ist. Aber man kann mit Zucker wie gesagt das Belohnungssystem aktivieren und ein Wohlfühlhormon wird ausgeschüttet. Davon profitiert die Lebensmittelindustrie.
Wie viel Zucker dürfen wir überhaupt zu uns nehmen?
Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, dass man von der durchschnittlichen täglichen Kohlenhydratzufuhr von 250 bis 300 Gramm weniger als 50 Gramm freien, also rasch aufgenommenen Zucker zu sich nehmen soll. Das sind weniger als zehn Prozent der empfohlenen Gesamtkalorienzufuhr, wenn man von 2.000 Kilokalorien ausgeht.
Und Kinder?
Es kommt darauf an, wie klein sie sind. Oft können Eltern gar nicht abschätzen, wie viel Zucker sie ihren Kindern geben, denn gefährlich ist hier der versteckte Zucker in angeblich gesunden Lebensmitteln. Beispiele sind Fruchtsäfte, Fruchtjoghurt, Frühstücks-Cerealien Milchmischgetränke und auch viele Fertigprodukte. Am besten schaut man auf das Etikett auf der Verpackung der Lebensmittel. Allerdings ist die Inhaltsangabe oft nicht weiterführend, da sich Zucker hinter vielen Begriffen verbergen kann, wie zum Beispiel Maltose, Dextrose et cetera. Hilfreicher sind die Nährwertangaben, in der Regel pro 100 Gramm oder 100 Milliliter: Zehn Gramm Kohlenhydrate beziehungsweise zehn Gramm Zucker entsprechen etwa einem Esslöffel.
Was sind weitere Nachteile, wenn man zu viel Zucker isst?
Ich sage immer, man füttert damit auch die ungesunden Darmbakterien. Das heißt, man bekommt leichter Blähungen oder Akne et cetera.
Sind Süßstoffe eine gute Alternative?
Teilweise. Es gibt Zuckeraustauschstoffe und chemische Süßstoffe, letztere werden aber mittlerweile mit einem erhöhten Risiko für Diabetes in Zusammenhang gebracht. Die natürlichen Süßungsmittel – zum Beispiel Xylit, Erythrit oder Stevia – sind den chemischen Süßstoffen vorzuziehen. Aber auch hier kommt es auf die Menge an. Bei zu hoher Zufuhr können sie Durchfall verursachen. Man sollte daher lieber versuchen, das Süßbedürfnis auf ein normales Maß zu reduzieren.
Können Sie Tipps für den Start in ein zuckerarmes Leben geben?
Man sollte darauf achten, wo überall Zucker enthalten ist. Lebensmittel, in denen sehr viel Zucker steckt, wie zum Beispiel Fruchtjoghurt, Säfte oder Softdrinks, sollten reduziert werden. Und vor allem süße Snacks und Getränke zwischendurch bitte nur gelegentlich bewusst genießen. Stattdessen ist darauf zu achten, dass Frühstück, Mittag- und Abendessen ausgewogen sind und viele komplexe Kohlenhydrate liefern. So wird über längere Zeit eine kleinere Menge Zucker stetig vom Darm ins Blut abgegeben, und man hat immer ein gewisses Sättigungsgefühl. Dann fällt man nicht ständig in ein Zuckerloch.