Die Europawahl ist mehr als je zuvor eine Richtungsentscheidung. Für Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin für Europa, ist der Kampf gegen den Aufstieg rechtsradikaler Parteien zentral: „Wir wissen, dass viele in einem friedlichen und solidarischen Europa leben wollen. Dafür müssen sie aber wählen gehen.“
Frau Barley, Sie sind jetzt in der heißen Phase des Wahlkampfs. Europa steht bekanntlich gleichzeitig vor vielen großen Herausforderungen. Worauf kommt es aus Ihrer Sicht bei dieser Wahl besonders an?

Wir stehen natürlich vor Herausforderungen. Für die Europäische Union selbst geht es um die Entscheidung, in welche Richtung sie sich entwickelt. Wir haben in manchen Mitgliedsstaaten Rechtsradikale in den Regierungen. In den Niederlanden entsteht gerade eine Regierung unter rechtsradikaler Führung. Da ist die Frage, wohin Europa als Ganzes steuert. Die Mitgliedsstaaten bilden den Rat und entsenden Kommissionsmitglieder. Das heißt, diese beiden Institutionen werden schon nach rechts verschoben. Daran kann auch die Europawahl nichts ändern. Aber genau deshalb ist die Wahl auch so wichtig. Wenn sich auch noch im Europaparlament die Kräfte verschieben würden, bekämen wir ein ganz anderes Europa. Das wäre kein Europa mehr, in dem die Länder solidarisch zusammenarbeiten, Länder würden anfangen, sich nationalistisch gegeneinander aufzustellen, sodass Demokratie und auch Frieden keine Selbstverständlichkeit mehr sind.
Worauf gründet sich Ihre Befürchtung?
Ich will ein aktuelles Beispiel nennen: Es ist gerade herausgekommen, dass die rechtsradikalen Schwedendemokraten selbst Bot-Farmen unterhalten, um politische Gegner mit Fake-Accounts zu drangsalieren und zu diskreditieren. Das ist eine Partei, die die Regierung unterstützt, also praktisch Teil der Regierung ist, ohne eigene Minister zu stellen. Das ist ein Vorgehen, mit dem Demokratie untergraben wird. Das kann man nicht wollen, wenn man Europa liebt.
Sie sehen also das Europaparlament als Gegengewicht in dieser Entwicklung?
Ja, es ist im Grunde genommen das einzige wirksame Gegengewicht in der EU, wenn die Parteien ja schon in so vielen Ländern in den Regierungen sitzen: Schweden habe ich genannt, Finnland, Italien, Ungarn, in den Niederlanden wird es auch so kommen. Zudem gibt es noch Regierungen, die kritisch zu betrachten sind, etwa in der Slowakei. Das Parlament muss ein Gegengewicht bilden. Die Demokraten in den Ländern brauchen unsere Unterstützung. In Polen und davor auch schon in Slowenien haben sich die Menschen ihre Freiheit zurückgeholt.
Warum gibt es dieses Erstarken rechter und rechtsradikaler Parteien, die es seit Jahren im Grunde in allen Mitgliedsstaaten gibt, in einigen weniger ausgeprägt, in anderen ziemlich stark?
Sie sagen richtig: Es ist eine Entwicklung in allen Mitgliedsstaaten. Es ist auch kein europäisches Phänomen. Trump oder Milei (Präsident Argentiniens seit Ende 2023, Anm. d. Red.) agieren außerhalb Europas. Wir leben in einer Welt, in der viele Menschen verunsichert sind, weil sich viel verändert: der Klimawandel, die rasante Digitalisierung, die Folgen der Pandemie. Auf diese Verunsicherung setzen diese Parteien auf und bieten dann als „Lösung“ an: Solidarität nur noch für eine definierte Gruppe. Der Rest soll ausgegrenzt und rausgeschmissen werden. Diese Pläne haben die „Correctiv“-Recherchen aufgedeckt. Rechtsextreme Parteien stilisieren Politik als Überlebenskampf und stellen Ausgrenzung als Lösung dar. Das ist offenbar etwas, das in einer Welt, die sich sehr schnell verändert, bei manchen einen Nährboden findet, aber natürlich keine Lösung ist.
Dass die großen Probleme allein national nicht zu lösen sind, ist eigentlich offensichtlich. Warum lassen sich Anhänger dieser Parteien davon eigentlich wider besseres Wissen nicht beeindrucken?
Wir haben das beim Brexit gesehen. Da haben die Menschen völlig gegen die Vernunft entschieden. Die Folgen sieht man dort jetzt überall: der Wirtschaft geht es schlechter, dem Gesundheitswesen noch schlechter, weil so viele aus Osteuropa stammende Arbeitskräfte rausgedrängt, ja man muss sagen: rausgeekelt worden sind. Dasselbe gilt für die Landwirtschaft. Die Strände sind verdreckt, weil die Umweltvorschriften nicht mehr gelten. Junge Menschen können keine Auslandsaufenthalte mehr auf dem Kontinent machen, wenn sie nicht Tausende von Euro hinlegen können. Das war alles vorher absehbar. In der Kampagne wurde gelogen, was das Zeug hält. Es gab massiv Desinformation, vor allem in sozialen Netzwerken. Man darf deren Rolle nicht unterschätzen. Mit Argumenten und Vernunft dringt man da nicht mehr durch.
Über den Kampf Europas gegen Desinformation und Manipulationskampagnen ist in den letzten Tagen viel diskutiert

worden. Glauben Sie, dass das, was man jetzt mit dem Digital Services Act versucht, hilft?
Wir haben in der Europäischen Union ein sehr schlagkräftiges Gesetz verabschiedet. Digitalisierung ist übrigens auch einer der Bereiche, die sich national nicht mehr regeln lassen. Da ist die Europäische Union wegweisend als Gesetzgeberin. Beim Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act) werden die Plattformen in die Pflicht genommen. Sie müssen Mechanismen einziehen, mit denen man kontrollieren kann, ob etwa Trollfarmen unterwegs sind oder eine Desinformationskampagne breit angelegt durchgezogen wird. Das kann man anhand von Mustern in der digitalen Welt erkennen, idealerweise sogar, wo die herkommen. Die Plattformen müssen selbst dafür sorgen, dass sich Desinformation, Hass und Hetze nicht ausbreiten. Da tun die Plattformen nicht genug, es laufen gerade Verfahren, die in milliardenschweren Strafen enden können.
Es gab eine Zeit, die man in Europa als das „sozialdemokratische Zeitalter“ bezeichnet hat. In aktuellen Umfragen ist davon wenig zu sehen.
Lassen Sie uns genau hinschauen: Schweden habe ich schon mehrfach erwähnt. Magdalena Andersson hat dort einen fulminanten Wahlkampf hingelegt, die Sozialdemokraten haben dazugewonnen und wurden mit über 30 Prozent klar stärkste Kraft. Die rechtsradikalen Schwedendemokraten kamen auf 20, die Konservativen auf 19 Prozent.
Dann haben aber die Konservativen mit den Liberalen eine Minderheits-Regierung gebildet und lassen sich von den Rechtsradikalen tolerieren. In Finnland, das jetzt auch in Händen einer konservativ-rechtsradikalen Koalition ist, hatte die sozialdemokratische Amtsinhaberin keine Stimmen verloren. Auch in den Niederlanden haben die Sozialdemokraten hinzugewonnen, aber jetzt haben sich Parteien gefunden, die Wilders zur Macht helfen. Es sind also Entscheidungen von konservativen und liberalen Parteien, die die Rechtsradikalen zur Macht einladen. Ich kann das wirklich nicht nachvollziehen. Leider hat auch Ursula von der Leyen nicht eindeutig ausgeschlossen, mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten. Das halte ich für gefährlich.
Wie wollen Sie jetzt in der letzten heißen Phase des Wahlkampfs mobilisieren und Menschen überzeugen?
Wir wissen, dass viele in einem friedlichen und solidarischen Europa leben wollen. Dafür müssen sie aber wählen gehen. Denn Europa hat viele konkrete Auswirkungen auf ihr Leben. Das müssen wir deutlich machen. Der Brexit ist ein gutes Beispiel: Vor allem die junge Generation wollte in der EU bleiben, aber sie sind nicht in ausreichender Zahl zu dem Referendum gegangen, während die Älteren, unter denen mehr aus der EU raus wollten, hingegangen sind. Das macht deutlich, dass es auf jede Stimme ankommt. Im Grunde zählt dann jede Stimme sogar doppelt: Wenn man nicht hingeht, fehlt eine Stimme für eine demokratische Partei und eine Stimme für eine antidemokratische Partei bleibt unwidersprochen.
Wenn man sich Umfragen in den Mitgliedsstaaten ansieht, stehen in den meisten Ländern soziale Fragen, Fragen des Arbeitsmarkts und der Wirtschaft ganz oben. Eigentlich eine Vorlage für Ihre Partei?
So ist es. Bestes Beispiel ist der Mindestlohn, der gerade breit diskutiert wird. Wir haben als großen Erfolg auch unseres sozialdemokratischen EU-Kommissars Nicolas Schmit auf europäischer Ebene die Mindestlohnrichtlinie verabschiedet, gegen die Stimmen der Konservativen und Liberalen. Die legt fest, dass der Mindestlohn bei 60 Prozent des Medianlohns liegen soll. In Deutschland bedeutet das einen Mindestlohn von über 14 Euro pro Stunde. Also schönen Gruß an die Mindestlohnkommission – das ist die Vorgabe für sie! Oder das Thema Wohnen: Wir leben in einer Zeit, in der Menschen mittlerweile oftmals die Hälfte ihres Einkommens für Wohnraum ausgeben müssen. Das ist Wahnsinn. Wir müssen den Mitgliedsstaaten bessere Fördermöglichkeiten einräumen. Bislang ist die Fördermöglichkeit auf Menschen beschränkt, die sozial wirklich bedürftig sind. Aber inzwischen haben ja schon eine Krankenschwester oder ein Polizist Probleme, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Wir wollen, dass der Staat auch Wohnungen für diese Menschen fördern können soll. Oder: In manchen Regionen und Städten greift die tageweise Vermietung über die Plattform Airbnb um sich. Die Sozialdemokratie will europäische Regelungen gegen solche Zweckentfremdung von Wohnraum erlassen, denn der soll in erster Linie für die Menschen da sein, die in diesen Orten leben.
Seit mehr als zwei Jahren tobt wieder Krieg auf europäischem Boden. Was macht das mit Europa, der EU?
Der Krieg ist unmittelbar vor unserer Haustür und er beeinträchtigt auch unser Leben. Die Europäische Union hat unglaublich schnell reagiert. Nach nur drei Tagen hat sie Sanktionen gegen Russland verhängt und Waffen- und Hilfslieferungen an die Ukraine beschlossen. Das haben ihr ihre Gegner nicht zugetraut. Dieser Krieg ist ein direkter Angriff auf die Europäische Union, auch wenn er ihr Territorium bisher nicht erreicht. Er greift aber unsere Wertebasis an. Die Ukraine ist im Visier von Putin, weil sie sich zu einem demokratischen Land gewandelt hat. Das akzeptiert er nicht und will es rückgängig machen. Putin droht auch den baltischen Staaten, insbesondere Litauen. Er hat den Konsens aufgekündigt, der nicht nur in Europa, sondern weltweit gilt: Grenzen dürfen nicht mit Gewalt verschoben werden. Dafür ist die EU gegründet worden, dafür gibt es die OSZE. Deswegen ist wichtig, dass wir konsequent die Ukraine unterstützen. Alle nach ihren Kräften. Wir Deutsche tun das, auch viele weitere. Aber insgesamt ließen sich die Anstrengungen noch erhöhen.

Wächst der Druck auf Demokratien?
Autokraten sind sich untereinander nicht immer grün, aber sie haben ein gemeinsames Feindbild: die Demokratie. Das sieht man bei Trump, bei Milei in Argentinien, der schon in den ersten Monaten vieles zerstört hat, oder bei Bolsonaro, der nach seiner Niederlage auch zum Sturm auf den Regierungssitz aufgerufen hatte. Die Autokraten dieser Welt haben offenbar das Gefühl, dass sie überall auf der Welt auf dem Vormarsch sind. Wir müssen mit der Europawahl zeigen, dass das nicht der Fall ist.
Europa steht im globalen Wettbewerb, wirtschaftlich, gesellschaftlich und im Kampf der Systeme. Ist Europa dafür stark genug?
Auch das müssen wir jetzt bei dieser Europawahl beweisen. Wir sind ein sehr starker Player, wenn es um Wirtschaftsfragen geht, die EU ist aber noch kein starker Player, wenn es um militärische Fragen geht. Wo wir stark bleiben sollten, ist bei unseren Werten. Die wollen unsere Feinde von außen, aber auch Feinde von innen schleifen. Russland unterstützt dafür die AfD, um an beiden Fronten aktiv sein zu können. Demokratie ist etwas, wofür wir kämpfen müssen, auch wenn das unbequem sein kann. Wir haben jetzt die Chance, zu beweisen, was uns Demokratie wert ist – alle miteinander.
In Deutschland gab es zu Beginn des Jahres über Wochen Demonstrationen mit Millionen Menschen auf den Straßen und Plätzen quer durch die Republik. Ein Zeichen der Zivilgesellschaft?
Das macht mir Hoffnung. Dass ausgerechnet in Deutschland so viele Menschen auf die Straße gehen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Dem wird in Europa viel Respekt entgegengebracht. Ein Stück Erleichterung ist auch dabei, dass so viele Menschen in Deutschland zeigen: Wir haben es kapiert, wir haben gelernt aus der Geschichte. Das ist so wichtig. Mit diesem Spirit müssen wir jetzt weitermachen. Das muss sich am Ende auch in Wahlbeteiligung und Wahlergebnissen niederschlagen, damit die Demonstrationen ein praktisches Ergebnis haben.