In Berliner Artotheken kann man sich Kunstwerke für zuhause oder fürs Büro ausleihen. Das Interesse an Kunst auf Zeit wächst, denn die Leihgebühren sind gering, und die Auswahl ist sehr groß.
Kann man durch das Verleihen von Kunst Beziehungen retten? Anastasia Zentner denkt kurz nach. Nein, sagt die 35-Jährige dann. Sie hat zwar gerade erklärt, warum die Artothek, in der sie arbeitet, ein geradezu magischer Ort ist. Aber dass diese Wunderkammer auch zwischenmenschlich für Entkrampfung sorgen kann? „So weit würde ich nicht gehen“, ergänzt Anastasia Zentner ihr Nein. Wobei: „ Manchmal finden hier schon unterhaltsame Konversationen statt“, schiebt sie nach. Ein Paar habe sich zum Beispiel umgesehen und dann habe die Frau gesagt: „Heute ich, das nächste Mal du!“
Für Paare, die einen unterschiedlichen Kunstgeschmack haben, sei eine Artothek ein ebenso faszinierender Ort wie für Menschen, die kein Geld haben, um sich Kunst kaufen zu können. Oder eben „für Leute, die sich nicht festlegen wollen“, erklärt Anastasia Zentner. Inzwischen hängen auch einige Bilder in Arztpraxen.
„Unterhaltsame Konversationen“
Die Artothek Charlottenburg-Wilmersdorf, in der sie sich um den Verleih kümmert, ist Ende der 70er Jahre entstanden. Sie ist Teil der kommunalen Galerie, die in wenigen Wochen 50 Jahre alt wird. Die Artothek in Reinickendorf sei etwas älter, aber unter den Berliner Einrichtungen dieser Art sei die am Hohenzollerndamm, ganz in der Nähe des Fehrbelliner Platzes, eine mit besonders großem Bestand. Rund 1400 Kunstwerke sind zurzeit im Verleih. Viele weitere sind im Archiv. Man zeige bewusst nicht alles, was man hat. „Wir haben etwa 8000 Werke, wollen die Nutzer aber nicht erschlagen“, sagt Anastasia Zentner.
Eine Artothek funktioniert im Prinzip wie eine öffentliche Bibliothek. Nur dass die Artothek in Charlottenburg-Wilmersdorf wie einige andere in Berlin keine Bücher ausleiht, sondern Kunst aus dem 20. Jahrhundert und der Gegenwart. Die Nutzerinnen und Nutzer müssen einen Wohnsitz in Berlin haben und können sich zwischen einer Ausleihzeit von zehn oder 20 Wochen entscheiden. Die Leihgebühr beträgt zwischen zwei und acht Euro. „In der Regel sind es etwa fünf Euro für zehn Wochen. Und es gibt keine Mitgliedsgebühr, wie die in Bibliotheken oft üblich ist“, erklärt Anastasia Zentner. Studierende bekommen 50 Prozent Nachlass. Bis zu zehn Kunstwerke kann man mitnehmen. Im Durchschnitt seien es zwei bis fünf.
Wer bei diesen geringen Kosten nun den „Was nichts kostet, ist auch nichts“-Gedanken nicht unterdrücken kann, der liegt falsch. Man habe keine Kunst von Laien im Bestand, sagt Anastasia Zentner. Es handle sich um Profi-Arbeiten. Man kaufe jedes Jahr Werke von „spannenden aufstrebenden Künstlerinnen und Künstlern“, aber auch solche von Kunstschaffenden „mit Ausstellungsbiografie“. Voraussetzung ist: Die Künstlerinnen und Künstler müssen etwas mit Berlin zu tun haben – hier geboren oder zum Arbeiten in die Stadt gekommen sein.
Im Verleih sind Gemälde, Fotos, Druckgrafiken, Zeichnungen und Skulpturen. „Es gab eine Zeit, da war Fotografie angesagt, zurzeit eher Grafik und Aquarelle – da schaut man in den Bestand, was man anbieten kann“, erzählt Anastasia Zentner. Wobei es im Internet keine Liste gibt, auf der sich Interessentinnen und Interessenten vorab anschauen können, was im Bestand ist. Das ist keine Faulheit der Artothek-Beschäftigten, das ist ein Konzept.
Das Artothek-Team will nicht, dass Leute die Listen von zuhause aus nach großen Namen durchforsten. Deshalb sind an den Kunstwerken im Ausstellungsraum auch keine Schilder. „Wir möchten nicht, dass die Leute nach den Namen schauen, sondern nach einem Werk, das ihnen gefällt. Alle Werke sollen die gleiche Chance haben, gesehen zu werden“, erklärt Anastasia Zentner. Nur Kennerinnen und Kenner entdecken etwa ein Werk von Ai Weiwei auf den ersten Blick zwischen all den anderen.
Manchmal rufe jemand an und frage gezielt nach einer Künstlerin oder einem Künstler. „Aber es ist schöner, wenn die Menschen einfach vorbeikommen und schauen, sich einlassen“, findet Anastasia Zentner.
Der Bestand wächst weiter. Zum einen kauft die Artothek jedes Jahr neue Kunst an. Zum anderen gibt es Schenkungen. Das Angebot der Artothek Charlottenburg-Wilmersdorf nutzen zurzeit rund 300 Menschen. Der jüngste Kunde ist 2004 geboren, der älteste 1936. Gerade im Januar habe der alte Mann noch etwas ausgeliehen, sagt Anastasia Zentner. Wie viele andere Nutzerinnen und Nutzer gleich für 20 Wochen. Das bedeutet: Die meisten, die sich Kunst ausleihen, kommen etwa zweimal im Jahr in die Artothek.
„Alle Werke sollen die gleiche Chance haben“
Kunst unters Volk zu bringen, scheint also kein Problem. Aber kommt sie auch wieder so zurück, wie sie die Artothek verlassen hat? „Generell haftet man natürlich dafür, dass dem Werk nichts passiert“, erklärt Anastasia Zentner. Dessen seien sich die Ausleihenden bewusst. „ Das Kunstwerk ist ein Gebrauchsgegenstand, aber die Nutzerinnen und Nutzer gehen sehr behutsam damit um.“ Und es passiere relativ wenig. Es gehe ab und zu mal ein Rahmen kaputt. Dass ein Glas splittere, komme sehr selten vor. Man vertraue den Menschen, die sich Kunst borgen. Denn die Leihgebühr sei keine Versicherungszahlung.
„Wir verpacken die Werke auch sorgfältig und bitten darum, sie auch wieder so zu verpacken, wenn man sie zurückbringt. Man darf das Kunstwerk so auch in öffentlichen Verkehrsmitteln transportieren – man sollte es aber nicht im Bus vergessen“, sagt Anastasia Zentner. Dass die Kundinnen und Kunden ohne Auto unterwegs sind, sei nicht selten. Sie habe zum Beispiel nach der Pandemie festgestellt, dass mehr junge Leute kommen, die Kunst für ihre Wohngemeinschaften suchen.
Die finden Kunstinteressierte nicht nur im Bezirk Wilmersdorf-Charlottenburg. Auch die Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) hat seit 1969 eine Artothek. Deren Kunstsammlung umfasst circa 2000 Original-Kunstwerke aus dem 20. und 21. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf Berlin. Zum Ausleihen braucht man einen Bibliotheksausweis. Dann entstehen keine weiteren Kosten. Die Kunstwerke dürfen auch für Büroräume und Unternehmens-Veranstaltungen ausgeliehen werden. Im Gegensatz zur Bezirks-Artothek hat die der ZLB ein digitales Bilderverzeichnis, das man im Internet aufrufen kann. Die Kunstwerke sind für 84 Tage entleihbar. Zum sicheren Transport der Kunstwerke bietet die Bibliothek kostenlose Tragkartons für Bilder und Tragekisten für Plastiken an.
Eine Ecke in den Ausstellungsräumen ist denen vorbehalten, die selbst noch gar nichts ausleihen dürfen: den Kindern. Für sie müssen die Eltern unterschreiben. Aber oft sei es so, dass die Erwachsenen zusammen mit dem Nachwuchs in der Kinderecke nach etwas Passendem fürs Kinderzimmer stöbern. „Aber wenn Kinder selbst auswählen dürfen, dann suchen sie nicht immer das aus, was wir als Kunst für Kinder bereitstellen“, sagt Anastasia Zentner. Sie erinnert sich zum Beispiel an einen kleinen Jungen, der zielstrebig auf ein historisches Foto zugegangen sei. Es zeigt einen Bagger auf dem Potsdamer Platz. Dieses Bild wollte er viel lieber in seinem Zimmer haben als den lachenden Ernie aus der Sesamstraße.