Der Todestag des Schriftstellers und gebürtigen Pragers Franz Kafka jährt sich zum 100. Mal. Rüdiger Safranski setzt in seinem neuen Buch „Kafka – Um sein Leben schreiben“ einen Akzent auf die Unbedingtheit des Schreibens.
Herr Safranski, der Untertitel Ihres Buches „Um sein Leben schreiben“ macht deutlich, welchen Aspekt Sie betrachten. Als eine Quelle von Kafkas Schreiben erkennen Sie „auch die Lust an der Verwandlung“. Was trieb den Mann noch an?
Das ist ein wichtiger Aspekt, dass man im Schreiben andere Perspektiven und Lebensmöglichkeiten ausprobiert. Das ist ein Grundantrieb des Schreibens. Das würde Kafka nicht von manchen anderen unterscheiden. Bei Kafka aber ist noch mehr und anderes im Spiel. Er sagt: „Schreiben bedeutet, die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche zu heben“; oder: „Schreiben ist ein Ansturm gegen die letzten Grenzen“. Das Schreiben sei eine Form des Gebets, ist mit einem tief-religiösen Motiv verbunden, nämlich, im Schreiben herauszufinden, wie es beispielsweise mit unserem Verhältnis zum Göttlichen steht.
Kafkas Verwandlungslust kommt in „Die Verwandlung“ am deutlichsten zutage. Die Erzählung von Gregor Samsa, der zum Riesenkäfer und vom Vater mit einem Apfel erschlagen wird, ist wahrscheinlich seine berühmteste. Ist die Erzählung ein Schlüsselwerk?
Es ist eine wichtige, aber als Schlüsselwerk würde ich sie nicht ansehen. Er thematisiert darin eine alptraumhafte Verwandlung – eine Verwandlung ohne Rückweg. Es ist ein Drama. Der Protagonist ist auf einmal ein Käfer und wird als Käfer sterben. Er wird vom Vater erschlagen. Da hat Kafka viel aufgefahren mit dem, was tatsächlich auch sein Lebensproblem war. Die Vaterfigur ist stark, wird aber zunehmend mehr als Schwächling gezeigt. In den Kontext der Vaterproblematik gehört natürlich auch diese Erzählung.
In Ihrem Buch erfahre ich: Kafka reagiert gekränkt, als der Vater sich nicht für sein Schreiben interessiert. Kafka reagiert beleidigt, als die Freundin Felice Bauer nichts zu seinem Buch „Betrachtung“ sagt. Kafka hat seine Texte vor Publikum vorgetragen. Wie wichtig waren ihm Applaus und Anerkennung?
Das war ihm schon sehr wichtig. Nur: Noch wichtiger war ihm, ob das, was er geschrieben hat, seinen eigenen Ansprüchen genügte. Er hatte – wie soll ich sagen – fast absolute Maßstäbe, deswegen genügte vieles von dem, was er geschrieben hat, was wir heute mit Recht zur Weltliteratur rechnen, seinen eigenen Ansprüchen nicht.
Stichwort Weltliteratur: Kafkas Werk gehört heute zum Kanon der Weltliteratur. Er war als Autor in Tschechien lange unbekannt. Erstaunlich. Wieso war das so?
Machen Sie sich klar, wie schmal sein veröffentlichtes Werk war. Da musste man schon ein sehr, sehr gutes Urteil haben, um zu spüren, dass hier ein Genie unterwegs ist. Jemand wie Robert Musil hat das gemerkt. Sein Freund Max Brod hat das auch aufrichtig gespürt und erkannt, dass von der überragenden Figur noch gesprochen werden wird. Das Vollbild dieses Autors ist dann erst in die Öffentlichkeit getreten, als die Romane, und auch die Fragmente, erschienen sind. Und, das ist schon sehr interessant: Dann passiert es schlagartig. Auch im Ausland – in Frankreich, in Amerika wurde er sehr schnell übersetzt – und sehr schnell war klar: Das ist ein ungeheurer Beitrag zur Literatur.
Kafkas Romane gelten als nicht leicht lesbar. Szenen in „Der Process“ und einige seiner Erzählungen sind jedoch sehr komisch, beispielsweise „Die Sorge des Hausvaters“ und „Poseidon“. Welches Werk würden Sie Kafka-Einsteigern empfehlen?
Einsteigern … Ja, gut, man kann durchaus mit „Die Verwandlung“ beginnen. Die Erzählung ist mit unfreiwillig komischen Aspekten ganz spannend, aber doch niederdrückend. Ich würde den Amerika-Roman – beziehungsweise „Der Verschollene“ (einer der drei unvollendeten Romane von Franz Kafka, von seinem Freund und Herausgeber Max Brod postum veröffentlicht; Anm. d. Red.) – empfehlen. Kafka hat in dem Roman seine eigenen Go-west-Fantasien ausgespielt: Ein Roadmovie, sogar eine Art von Abenteuerroman. Da würde ich den Test machen, ob das ankommt. Ich habe das Gefühl, das kann ankommen.
Meinem Eindruck nach ist dieser Autor von der Literaturwissenschaft einerseits ausgeleuchtet, andererseits beschäftigt man sich beständig weiter mit ihm. Seine Werke sind als Projektionsfläche ergiebig. Ist das der Grund, weshalb sie als zeitlos und bis heute aktuell erscheinen?
Ich glaube, Sie bringen das schon auch auf den Punkt. Kafka ist tatsächlich – das muss man sich klarmachen – der am meisten kommentierte Autor des 20. Jahrhunderts. Ein dicker Pelz von Interpretationen hat sich über ihn gelegt. Man musste fast befürchten, dass damit schon alle Neugier erstickt ist, aber: Es ist immer wieder etwas zu erfahren. Er macht auf wunderbare Weise immer wieder neugierig auf sich. So ist es mir im Übrigen auch ergangen.
Ja, das möchte ich Sie ohnehin fragen: Haben Sie in der Recherche zu Ihrem Buch etwas erfahren, was Ihnen bis dato unbekannt war?
Oh ja, doch, eine ganze Menge. Ich will Ihnen nur ein Beispiel geben: Der berühmte „Brief an den Vater“! Man hat ihn hin und her interpretiert, natürlich meist in der klassischen psychoanalytischen Art mit der Unterdrückung durch den Vater. Das wurde unendlich variiert. Dass dieser Brief von ihm selbst dann später als ein gerissener Advokatenbrief angesehen wird, hat man gar nicht richtig zur Kenntnis genommen. Das bemerkt man aber, wenn man sich dem neu zuwendet. Es ist eben nicht so, dass Kafka vor dem Vater in die Literatur geflüchtet ist, sondern: Die Literatur war für ihn das Absolute. Im Vergleich dazu waren alle anderen Lebensaufgaben zweitrangig. Dass er schlussendlich ein Leben für die Literatur geführt hat, das war im Grunde sein Triumph über den Vater. Er ist also nicht vom Vater an die Wand gedrückt worden. Auf einmal merkt man: Hoppla, man glaubt, Kafka zu kennen, aber das ist gar nicht so!
Sie zitieren viele Äußerungen Kafkas über sein Schreiben. Mein Eindruck: Kafka stilisiert sich bisweilen mit Pathos, breitet Befindlichkeit aus, bespiegelt sich mal eitel, mal herabsetzend. War Kafka ein Schriftsteller, der durch das Schreiben nicht zu sich finden konnte?
Mein Grundgedanke ist, dass Kafka zu sich gefunden hat, indem er akzeptiert hat, dass er ein Mensch ist, der schreiben will und schreiben muss. Kafka ist für mich das Beispiel für den Absolutismus der Literatur. Das Schreiben war für ihn die wichtigste Seinsform. Trotz seiner Krankheit können wir uns Kafka, wenn er schrieb, durchaus als glücklichen Menschen vorstellen. Das Schreiben war sein Glück und seine Chance. Schreiben ist für Kafka keine Nebensache. (Kafka ging einer gut bezahlten Tätigkeit, die er als „Brotberuf“ bezeichnete, bei einer Versicherungsgesellschaft nach; Anm. d. Red.) In einer Zeit, in der die Literatur – nach meinem Gefühl – immer mehr beliebig wird und widerspiegelt, dass sie eine schöne Nebensache ist, ist Kafka damals mit einer ganz anderen Wichtigkeit zu Werk gegangen. Als Kafka dem Vater sein Buch überreichte und der sagte „Leg’s auf den Nachttisch“, war das für ihn eine Kränkung. Für Kafka war Literatur nicht etwas, was man auf den Nachttisch – nur auf den Nachttisch – legt. Ich wollte damit auch eine Lanze brechen für die Bedeutsamkeit der Literatur überhaupt. Im Falle Kafkas kann man sehen, was das sein kann.