Obwohl er oft nur als Soul-Genie tituliert wird, hat der mit 17 Grammys ausgezeichnete Ray Charles wie kaum ein anderer Künstler spielerisch die Grenzen verschiedener Musik-Genres gesprengt. Der Musiker starb vor 20 Jahren.

Kein Geringerer als Amerikas nationale Ikone Frank Sinatra hatte Ray Charles mit dem Titel „The Genius of Soul“ geadelt und ihn darüber hinaus als „das einzige echte Genie des Showbusiness“ bezeichnet. Die Bewunderung für den herausragenden Kollegen kam aus allen musikalischen Stilrichtungen. Selbst die „Stones“-Rock-Legende Keith Richards verbeugte sich tief vor Ray Charles: „Der Mann hatte eine wahnsinnige Spannbreite. Er passte in keine Schublade. Er hatte seine eigene. Ich fand das sagenhaft, wie er ganz mühelos zwischen diesen ganzen Sachen hin- und hersausen konnte. Für ihn war einfach alles Musik. Er war der erste wahre Crossover-Musiker. Ray war Rock ’n’ Roll. Und Rhythm and Blues. Und Jazz. Und Country.“
Einen ähnlichen Lobgesang auf die ungewöhnliche musikalische Wandlungsfähigkeit stimmte der ebenfalls verschiedenste Stilrichtungen vermischende Nordire Van Morrison im Frühjahr 2004 kurz vor dem Tod von Ray Charles an: „Er zeigte, dass es für jemanden, der so talentiert ist wie er, keine Grenzen gibt. Was immer Ray Charles tut, was immer er anfasst, er macht es zu seinem eigenen Ding. Er ist sein eigenes Genre. Ich bin sicher, Ray Charles’ Musik wird uns alle überleben.“
17 Grammys bei 37 Nomminierungen
Schon zu Beginn seiner Karriere in den 1950er-Jahren, als von Musikern in den USA erwartet wurde, dass sie sich für eine ganz bestimmte Stilrichtung zu entscheiden hatten, sei es für Jazz, Folk oder Blues, wollte sich Ray Charles nicht festlegen lassen: „Ich habe mich nie als ein Teil des Rock ’n’ Roll betrachtet. Mein Material war zu erwachsen. Weil ich die Leute nicht tanzen sehen konnte, schrieb ich keine Jitterbugs und Twists. Ich schrieb Rhythmen, die mich bewegten. Mein Stil verlangt reines Singen aus dem Herzen.“ Und weiter: „Jeder Song spricht für sich selbst. Wenn ich also ‚Georgia‘ singe, versuche ich, mich in den Text dieses Songs hineinzuversetzen. Und wenn ich ‚I can’t stop loving you’ singe, versuche ich, mich wie der Typ zu fühlen, der mit dem Mädchen spricht.“
Apropos Gesang: Auch wenn Ray Charles mit reichlich Talenten gesegnet war und daher als Songwriter, Arrangeur, (Big-) Bandleader, Piano-Player oder Meister im Umgang mit Klarinette oder Saxophon gerühmt wurde, so war es letztlich doch seine unverwechselbare rauchig-nasale Stimme, die ganz entscheidend zu seinen Erfolgen beigetragen hatte. Selbst wenn er sich mal zu unzähmbar-wildem Brüllen oder Schreien hinreißen ließ, so geschah dies doch immer wunderbar gefühlsmäßig kontrolliert. Kein Wunder also, dass er vom renommierten Pop-Magazin „Rolling Stone“ 2008 zum größten männlichen Sänger der Musikgeschichte gekürt worden war. Er musste sich im Unisex-Top-100-Ranking mit dem zweiten Platz nach seiner weiblichen Kollegin Aretha Franklin geschlagen geben.

„Von einigen Kommentatoren mit Elvis Presley verglichen“, so die BBC in einem Beitrag über den nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Rock- und Popmusik, „zogen Charles Songs Größen der 1960er-Jahre wie Joe Cocker, Steve Winwood, Eric Burdon und Van Morrison in ihren Bann. Sein Einfluss erstreckt sich auf zeitgenössische Künstler wie Norah Jones. Wenn James Brown der Godfather of Soul war, dann war Ray Charles unbestritten einer seiner Gründungsväter gewesen. Zusammen mit Sam Cooke war er maßgeblich daran beteiligt, den Gospel-Eifer der Deep South Baptist Church mit der ‚Teufelsmusik‘ des R&B zusammenzubringen, um den Weg für eine neue Generation von Soul-Künstlern zu ebnen.“
Das schlug sich neben seinem schon genannten Ehrentitel als „The Genius of Soul“ auch in weiteren Spitznamen wie „The High Priest of Soul“ oder „The Father of Soul“ nieder. Erfunden hatte Ray Charles den Soul, der seit Ende der 1950er-Jahre durch die Verschmelzung von Rhythm and Blues mit dem Gospel zu einem Synonym schwarzer Popmusik wurde, allerdings keineswegs. Der Soul hatte sich schon Mitte der 1940er-Jahre im Umfeld populärer Big Bands wie Duke Ellington und Harmonie-Gesangsgruppen wie The Platters entwickelt. Aber erst Ray Charles, der übrigens trotz seiner Erblindung auch ein versierter Schachspieler war, verhalf dem Soul dank seiner geradezu expressiv-gefühlvollen Gesangskunst, der kompletten stimmlichen Hingabe mit Herz und Seele an die Musik, zum Durchbruch. „Von weißen Radiomanagern verteufelt, von schwarzen Musikerkollegen scharf kritisiert“, schrieb der „Spiegel“ einmal, „schuf Charles mit Titeln wie ‚I got a woman‘ und ‚This girl of mine‘ jenen Sound, der heute eine ganze Popkultur befruchtet: Blues, teuflisch westlicher Sound und Gospel, die göttliche Kirchenmusik des schwarzen Amerikas, in heiliger Allianz.“ Insgesamt erhielt er 17 Grammy-Auszeichnungen bei 37 Nominierungen, hatte rund 50 US-Billboard-Hits, verkaufte rund 90 Millionen Tonträger und war bereits mit 30 Jahren Dollar-Millionär. Sein emotionales Gesangsvermögen verlieh jedem Lied eine zusätzliche Tiefe und Eindringlichkeit.
Ray Charles Robinson wurde am 23. September 1930 in Albany im US-Bundesstaat Georgia geboren. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Seinen Vater, einen Eisenbahnarbeiter, sollte er nie kennenlernen. Gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder zog er nach Greenville in Florida. Schon im Alter von drei Jahren lernte er bei einem örtlichen Ladenbesitzer das Klavierspielen. Die Gospelmusik ging ihm beim Besuch der Baptistenkirche in Fleisch und Blut über, aber auch Blues und Swing lernte er in seiner Kindheit lieben. Früh musste er mit ansehen, wie sein kleiner Bruder in einem Waschzuber ertrank. Neun Monate später erblindete Ray Charles an den Folgen eines Glaukoms.
Erste Schallplatte im Jahr 1949

Nach seinem Sehverlust schickte ihn die Mutter auf eine staatliche Blindenschule im 160 Meilen entfernten St. Augustine in Florida. Zusätzlich zum Brailleschrift-Unterricht erhielt er dort auch eine klassische Klavierausbildung. Dabei offenbarte sich schnell seine Fähigkeit zum Improvisieren, indem er Stücke von Chopin oder Beethoven beim Klimpern einfach veränderte, um ihnen seinen persönlichen Stempel aufzudrücken.
Nach dem Tod der Mutter im Mai 1945 war Ray Charles Vollwaise. Er brach wenig später die Schule ab, verdiente sich ab seinem 15. Lebensjahr sein Geld als Straßenmusiker oder Mitglied kleinerer Bands in Jacksonville und zog schließlich nach Seattle um. Dort suchte er ab seinem 18. Lebensjahr sein Glück als freischaffender Künstler unter dem Künstlernamen Ray Charles, den er sich zur Vermeidung einer Verwechslung mit dem damals populären Boxer Sugar Ray Robinson zugelegt hatte. Schon zu jener Zeit wurde er heroinsüchtig und die Abhängigkeit dauerte fast 20 Jahre. Erst eine Entziehungskur, die er nach seiner Verurteilung zu fünf Jahren Gefängnis wegen Heroinbesitzes auf Bewährung angetreten hatte, brachte Besserung – trotz eines kurzzeitigen Rückfalls Ende der 1970er-Jahre.
Ray Charles stellte seine ersten Bands zusammen und veröffentlichte 1949 seine erste Schallplatte. Zunächst hatte er sich vor allem am R&B von Charles Brown und vor allem Nat King Cole orientiert. Letzterem war als erstem schwarzen Musiker der Sprung aus den schwarzen Charts in die weißen Billboards gelungen. Nachdem er 1952 zum renommierten R&B-Label Atlantic Records gewechselt war, konnte Ray Charles nach und nach durch das Vermischen von R&B, Jazz und Gospel seinen unverwechselbaren Sound hin zum Soul kreieren.
Neun von zwölf Kinder unehelich

mit ihrem Song „We are the World“ - Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Mit den Songs „I got a woman“ (1954) und „What I’d say“ (1959), millionenfach verkauften Hitsingles, gelang ihm der Durchbruch. Hochemotional auch sein Song „Hallelujah I love her so“ aus dem Jahr 1956. 1960 unterschrieb er einen Vertrag bei ABC Paramount und veröffentlichte dort gleich die sentimentale Streicherballade „Georgia on my mind“ (1960) sowie den peppigen Bestseller „Hit the road Jack“ (1961). Danach erlaubte er sich 1962 mit seinem eine halbe Million mal verkauften Album „Modern Sounds in Country and Western Music“ einen Ausflug ins Country-Segment, das eigentlich eine Domäne weißer männlicher Künstler gewesen war, und schaffte im Frühjahr 1962 mit seinem Country-Song „I can’t stop loving you“ seinen größten Hit.
Obwohl er sich an der Seite von Martin Luther King stark für die Bürgerrechtsbewegung und gegen die Rassentrennung eingesetzt hatte, wagte er sich eigentlich nur 1972 mit seinem Album „A message from the people“ in die Welt der Protestsongs vor. Auf einem seiner Spätwerke, dem Album „My world“ 1993, waren dann sogar Hip-Hop-Beats zu hören. Ray Charles, war zweimal verheiratet, nahm es mit ehelicher Treue aber nicht so ernst. Neun seiner zwölf Kinder entstammten entsprechend diversen Affären. Bis zu seinem Lebensende ging er auf Tournee und sorgte neun Monate im Jahr mit seinem 17-köpfigen Orchester und vier Background-Sängerinnen stets für ausverkaufte Gigs. Als Ray Charles im Alter von 73 Jahren am 10. Juni 2004 in seinem Haus im kalifornischen Beverly Hills an Leberversagen starb, trauerte die gesamte Musikwelt um eine Legende.