Nach dem Europa-Auftakt in Imola und Monaco gastiert die Formel 1 am Sonntag in Kanada. Dort hieß der Sieger der vergangenen zwei Jahre Max Verstappen. Doch die Ein-Mann-Show des Red-Bull-Piloten wackelt. Ferrari rückt dem Meisterteam auf die Pelle.

Der Marktführer schwächelt. Branchenprimus Red Bull (276 Punkte) und sein Überflieger Max Verstappen sind nicht mehr Alleinherrscher. Ferrari (252) und McLaren (184) haben sich zur zweiten und dritten Kraft aufgeschwungen. Mercedes (95) mit (Ex-)Dauersieger Lewis Hamilton hechelt abgeschlagen als WM-Vierter hinterher, hat nur noch Sichtkontakt. Diese Formel-1-Saison ist nach einem Drittel des 24 Saisonläufe umfassenden Rennkalenders und vor dem Kanada-GP am Sonntag (20 Uhr/Sky) eine andere. Anders als vergangenes Jahr. Die Saison ist unvorhersehbar und könnte spannend werden.
Unvorhersehbar spannend
Wer hätte sich dieses Szenario auch nur annähernd ausgemalt? Am wenigsten doch die Bullen und ihr Chefpilot selbst. Auch nach acht Rennen führt der aktuelle Weltmeister die Fahrerwertung immer noch komfortabel mit 31 Punkten vor seinem ersten Verfolger und Monaco-Sieger Charles Leclerc (Ferrari) an (169:138, dazu später mehr). Doch der erfolgsverwöhnte dreifache F1-Champion aus dem Bullen-Meisterstall spürt mehr Gegenwind als vergangenes Jahr. Dabei stand der neue, alte Weltmeister nach den Wintertestfahrten schon vor dem Start in die 75-jährige Jubiläumssaison fest. Fernando Alonso gratulierte seinem Fahrerkollegen schon zu seinem vierten Titel. „Von 20 Fahrern wissen 19, dass sie nicht Weltmeister werden, da bleibt einer übrig, und das ist Max“, prophezeite der Aston-Martin-Pilot. Und nach „Prophet“ Alonso ging’s auch nach dem Saisonauftakt in die richtige Richtung. Verstappen und Red Bull machten dort so weiter, wie sie vergangene Saison aufgehört hatten: mit Siegen. Triumphe in Bahrain und Saudi-Arabien.

Max fuhr die Konkurrenz in Grund und Boden. Zweimal ein Doppelsieg durch Verstappens Stallkamerad Sergio Perez. Es scheint, zumindest der „stramme Max“ und Red Bull fahren in ihren Rennen auf ihrem eigenen Planeten, in ihrer eigenen Welt. Die Bullen und ihr Dresseur hatten die Formel 1 fest im Würgegriff. Vorerst. Ein jubelnder Verstappen ist in vielen Zeitungen gar keine Meldung mehr wert. Die Sex-Affäre um Skandal-Teamchef Christian Horner hatte damals „oberste Priorität“. Dem Oberbullen wurde „unangemessenes, grenzüberschreitendes Verhalten“ gegenüber einer Mitarbeiterin (seiner persönlichen Assistentin) vorgeworfen. Wie sagte doch stets F1-Oberzampano Bernie Ecclestone: „Auch schlechte Publicity ist Publicity.“ Doch zurück auf die Rennstrecke:
In Australien dann eine erste Delle. Die sich aufbäumenden Ferrari-Pferde Carlos Sainz und Charles Leclerc übertrumpften im Doppelpack beide Bullen. Chefbulle Max musste wegen Bremsproblemen schon nach vier Runden aufgeben, Perez wurde Fünfter. Und Altmeister Lewis Hamilton? Nach 15 der 58 Runden hatte auch der Mercedes-Star wegen eines Motorschadens vorzeitig Feierabend. Beim nächsten Rennen in Japan schlug das Imperium mit Verstappen/Perez zurück, gefolgt vom Ferrari-Duo Sainz/Leclerc. In China hatte Verstappen die Nase vor McLaren-Cheffahrer Lando Norris und seinem Stallkollegen Perez. Die Ferrari-Pferde machten schlapp, kamen auf die Plätze vier (Leclerc) und fünf (Sainz), Hamilton wurde abgeschlagen Neunter.
Plötzlich drei Teams mit Siegchancen

In Miami/USA dann die Überraschung: Verstappen kann doch noch verlieren. Der US-GP brachte einen neuen Sieger hervor. McLaren-Jungstar Norris eroberte in seinem 110. F1-Einsatz seinen ersten Triumph in der Vierrad-Königsklasse. Zuvor war er achtmal Zweiter, siebenmal Dritter, stand also 15-mal auf dem Podium, ohne zu gewinnen. Überraschungsgast Donald Trump gratulierte dem 24-jährigen Briten, der als 114. GP-Sieger die Geschichte der Formel 1 bereichert. Erstmals seit 2022 hat die Formel 1 mit Lando Norris einen neuen Sieger. Der Sohn eines reichen Börsenmaklers war 2019 von McLaren zum Stammpiloten befördert worden. „Landos Sieg war auch insgesamt für die Formel 1 gut. Dass drei Teams um den Sieg kämpfen können, das ist gut für die Show, gut für die Fans“, bilanzierte Ferrari-Teamchef Fred Vasseur. Verstappen musste sich mit Platz zwei begnügen vor Leclerc, Perez und Sainz, Hamilton belegte Platz sechs.

In Miami hat sich der F1-Zirkustross aus dem südöstlichen US-Bundes- und Sonnenstaat Florida über den großen Teich für zwei Rennen nach Europa verabschiedet, bevor dann wieder in die Neue Welt nach Kanada aufgebrochen wird. Diese Konstellation der Flugroute mag verstehen, wer will. Also zum Europa-Auftakt beim GP der Emilia Romagna in Imola. Die Strecke in dem 70.000-Einwohner-Städtchen in Oberitalien ist Kult, bringt sowohl schöne (sieben Schumi-Siege) als auch traurige Erinnerungen hervor. Vor 30 Jahren, am 1. Mai 1994, verunglückte Ayrton Senna in einem Williams tödlich, und einen Tag zuvor der Österreicher Roland Ratzenberger in einem Simtek. Auf dieser Berg- und Talbahn hat sich Verstappen auf der allerletzten (Reifen-)Rille nach einer nervenaufreibenden Schlussphase mit dem Atem von Norris im Nacken mit Sieg Nummer 59 zurückgemeldet. Das britische Boulevardblatt „Daily Mail“ stellte fest: „In einem Moment war es so aufregend wie eine Steuererklärung – und dann knallte es: eine aufregende späte Wendung, bei der Lando Norris plötzlich so heiß wie ein Drache am Hals von Max Verstappen saß. Es wird niemanden überraschen, dass Verstappen gewonnen hat, aber das unerwartete Drama am Schluss bringt die Hoffnung, dass es wirklich ein spannendes Duell werden könnte.“ Die stürmische Aufholjagd von Lando Norris kommentiert die italienischen „La Repubblica“ so: „Verstappen leidet und siegt, doch Norris und Leclerc sind ihm auf den Fersen. Der Außerirdische Max ist nicht mehr allein. Die Menschen nähern sich seiner Galaxie, natürlich nicht, um Freundschaft zu schließen. Verstappen siegt trotzdem, doch er muss dafür härter kämpfen.“ Leclerc wird Dritter vor Oscar Piastri, McLaren und Sainz, Hamilton wieder nur Sechster. Der Lenkrad-Artist und „fliegende Holländer“ (geboren aber im belgischen Hasselt) hat die Ordnung in der Formel 1 wiederhergestellt. Aber nur bis zum Glanz-, Glamour-, Kult- und Klassiker-Grand-Prix in Monaco. Nebenbei: Bei keinem anderen Rennen vermischen sich Party, Champagner und Promis (und die, die sich dafür halten) so mit qualmenden Reifen, verbranntem Gummi und Benzingeruch.

Vor diesem prestigeträchtigsten aller Rennen an der blauen Cote d’Azur hat sich gezeigt: Die Verfolger haben dazugelernt: Ferrari genauso wie McLaren. Der italienische Mythos-Traditionsrennstall hat sich zu einem ernsthaften Konkurrenten der Bullen emporgeschafft. Man bedenke: Im vergangenen Jahr machte sich die rote Truppe durch Pleiten, Pech und Pannen bei Rennstrategien, Boxenstopps und enttäuschenden Ergebnissen noch zum Gespött einer ganzen (nämlich der italienischen) Nation. Und dann, ein Jahr später, ist der dreimalige Weltmeister Verstappen nicht mehr unschlagbar? Der Seriensieger der vergangenen Jahre kommt jetzt jedenfalls nicht mehr ganz ungeschoren davon.
„Es ist definitiv enger geworden“
Im kleinen Stadtstaat Monaco hat der „Sohn des Fürstentums“, Charles Leclerc, Großes vor. Charles ist am 16. Oktober 1997 als echter Monegasse in diesem „Sonnenparadies“ geboren worden, ist dort aufgewachsen, zur Schule gegangen, kennt alle Wege und Straßen. „Als Sechsjähriger stand ich auf dem Balkon und habe auf die Rennwagen hinuntergeschaut. Mir ging durch den Kopf: Hier will ich eines Tages den Grand Prix von Monaco gewinnen, in einem Ferrari“, erzählte er einmal im Journalistenkreis. 20 Jahre später erfüllte sich der Traum des kleinen Charles. Und er gewann nicht nur einen Grand Prix, sondern sein lang ersehntes monegassisches Heimrennen. Leclerc fährt in einer ereignisarmen, einschläfernden Nachmittagsprozession zu einem nie gefährdeten Start-Ziel-Sieg. Das Rennen war eher von Taktik als von Spannung geprägt.
Im sechsten F1-Anlauf in seinem „Wohnzimmer“ und seiner dritten Poleposition nach 2021 und 2022 (insgesamt 24 erste Startplätze) in den Häuserschluchten hat sich „Prinz Leclerc zum König in seiner Heimat Monte Carlo gekrönt. Ferrari rückt immer mehr zum stärksten Red-Bull-Rivalen auf“, so die italienische „Gazzetta dello Sport“. Der Monaco-Heimfluch war endlich besiegt. Bei den fünf vorangegangenen Starts hatte es nicht einmal zu einem Podestplatz gereicht. „Was immer passiert, wir müssen diesen Sieg nach Hause bringen, schließlich habe ich in meinem Wohnzimmer noch eine Rechnung offen“, sagte Leclerc nach einem intensiven, spannenden Qualifying. Und die Rechnung hat der Ferrari-Pilot an jenem 26. Mai 2024 beglichen. „Dieses Rennen ist der Grund, wieso ich Rennfahrer werden wollte. Ich denke viel an meinen Papa, ohne ihn hätte ich das alles nie geschafft“, erzählt Charles nach seinem Sieg. Sein Vater Hervé Leclerc war 2017 mit 54 Jahren gestorben. Charles plaudert vor den Kameras weiter: „Dieser Sieg zählt auch nur 25 Punkte wie jeder andere. Aber der emotionale Wert für mich, vor eigenem Publikum zu gewinnen, vor Familie und Freunden, der ist nicht einzuschätzen. Ich bin auch happy über die Fortschritte, die uns bei Ferrari gelungen sind. Teamkollege Carlos und ich dürfen in den kommenden Rennen optimistisch entgegenblicken.“
Verstappen warnte indes schon, dass es am Sonntag beim Rennen in Kanada erneut kompliziert werden könnte: „Es wird wegen der Curbs und Bodenwellen auch nicht unser bestes Wochenende werden.“ Gute Aussichten für Ferrari oder die dritte Kraft McLaren? „Es ist definitiv enger geworden. Das ist gut für die Formel 1“, stellte Verstappen nach dem Einschlaf-Rennen in Monaco fest.