Das Brandunglück an Bord des Ausflugs-Schaufelraddampfers „General Slocum“ am 15. Juni 1904 ist bis heute die schlimmste zivile Schiffskatastrophe der USA. Mit etwa 1.000 Opfern war es bis „9/11“ das tödlichste Ereignis in der Geschichte New Yorks. Es war ausschlaggebend für das Ende des Viertels „Kleindeutschland“ in Manhattan.
![Die „General Slocum“ in voller Pracht. Der Schaufelrad-dampfer bot auf drei Decks Platz für bis zu 3.000 Personen](/sites/default/files/inline-images/25_2024_Wissen___Geschichte_General_Slocum_001.jpg)
Der Wettergott meinte es bei azurblauem Himmel offenbar gut mit den zahlreichen, schon zur frühen Morgenstunde des 15. Juni 1904 am Third Street Pier des East Rivers eintreffenden Mitgliedern der evangelisch-lutherischen Kirche St. Marks. Diese lag in der Sechsten Straße in Manhattans Lower East Side und war das spirituelle Zentrum, das nach der Herkunft der Mehrzahl der dort Ansässigen auf den Namen „Kleindeutschland“ oder „Little Germany“ getauft worden war. Auch der Name „Deutschländle“ war für den Bezirk rund um den Tompkins Square Park im heutigen Bohème-Quartier East Village zwischen der Houston und der Vierzehnten Straße gebräuchlich, weil viele der dort heimisch gewordenen Bürger schwäbische Wurzeln hatten.
Zwar lebten hier längst nicht mehr so viele deutschstämmige Bürger wie in den 1870er-Jahren, als deren Zahl auf 170.000 geschätzt worden war. Inzwischen hatten sich viele Kinder von Einwanderern in anderen Landes- oder Stadtteilen, vor allem im zur Manhattener Upper East Side zählenden Yorkville, niedergelassen. Dennoch pflegten die im Jahr 1904 verbliebenen rund 12.000 Deutschstämmigen ihre Traditionen und ihr Kulturgut mit Hingabe in Biergärten, Büchereien, Schützen- oder Turnvereinen. Auch die St. Mark’s Church mit einer Sonntagsschule, in der ausschließlich auf Deutsch unterrichtet wurde, spielte dabei eine wichtige Rolle.
Heuballen-Brand im Lagerraum
Zur Feier des sommerlichen Schuljahresabschlusses war es für die von Pastor Georg Haas geführte Gemeinde schon seit 16 Jahren zur beliebten Gewohnheit geworden, einen Picknickausflug mit dem Schiff zu einem etwa zwei Stunden entfernten Park namens Locust Grove am Long Island Sound zu unternehmen. Für einen Obolus von 350 Dollar hatte man dieses Mal den nach einem Nordstaaten-General getauften Schaufelraddampfer „General Slocum“ gepachtet – samt Muschelsuppen-Catering und Musikbegleitung. Das Schiff konnte bis zu 3.000 Passagiere aufnehmen. Das komplett aus Holz gearbeitete Schiff aus dem Jahr 1891 mit einer Länge von 76 Metern und drei Decks hatte schon bessere Tage gesehen. Allerdings hatte ihm der Eigner, die Knickerbocker Steamship Company, erst kürzlich einen neuen Anstrich verpassen lassen. Und ein Brandinspektor hatte der Feuerlöschausrüstung einen „guten Zustand“ bescheinigt. Zudem befand sich das Schiffskommando in den Händen eines erfahrenen Kapitäns namens William Van Schaick, der den Dampfer schon seit seiner Jungfernfahrt dirigiert hatte.
![Ein Bergungsteam versuchte, die Überreste des Schiffes zu bergen](/sites/default/files/inline-images/25_2024_Wissen___Geschichte_General_Slocum_003.jpg)
Um 8 Uhr legte die „General Slocum“ planmäßig am im tiefsten Südosten Manhattans gelegenen Pier an. Wenig später trudelten die ersten Fahrgäste ein, wobei es sich vornehmlich um Frauen in schwerem Sonntagsstaat und Kinder handelte, weil der Veranstaltungstag ein Mittwoch war, an dem die meisten Männer ihrer Arbeit nachgehen mussten. Viele Väter ließen es sich aber nicht nehmen, ihre Familien bis zum Schiff zu begleiten – nicht ahnend, dass ein Großteil von ihnen ihre Frauen und Kinder niemals lebend wiedersehen würde. Zwischen 9.30 und 9.40 Uhr wurden die Leinen losgemacht und das Schiff nahm mit einer Geschwindigkeit von 15 Knoten den East River hinauf Fahrt auf. Über die Zahl der an Bord befindlichen Menschen kursieren heute die unterschiedlichsten Angaben. Allerdings gibt es mit dem im Oktober 1904 veröffentlichten Report einer auf Veranlassung von US-Präsident Theodore Roosevelt etablierten bundesstaatlichen Kommission, die mit der Aufarbeitung der Brandkatastrophe beauftragt worden war, auch eine offizielle Quelle. Danach waren 1.358 Passagiere an Bord gegangen, darunter 745 Kinder und 613 Erwachsene. Dazu kamen noch 30 Crew-Mitglieder, womit sich insgesamt 1.388 Menschen auf der „General Slocum“ befanden.
Zunächst war die Stimmung an Bord heiter-gelöst, eine Blaskapelle sorgte für die Unterhaltung der Passagiere mit deutscher Volksmusik. Doch schon kurze Zeit nach dem Ablegen wurden in Höhe der Strecke zwischen der 90. und 97. Straße erste Rauchschwaden gesichtet – ausgerechnet im Bereich einer für ihren hohen Wellengang und gefährliche Strudel gefürchteten Meerenge namens „Hell’s Gate“ (Höllentor). Laut dem bereits erwähnten Untersuchungs-Report hatten sich in einem Laderaum gelagerte Heuballen aus nicht sicher zu ermittelnden Ursachen entzündet. Auch die exakte Uhrzeit, zu der das Feuer ausgebrochen war, konnte im Nachhinein nicht mehr festgestellt werden. Allerdings dauerte es laut Report gerade einmal 20 Minuten, bis das Schiff komplett in Flammen aufgegangen war.
An Bord brach sogleich Panik aus. Erste Löschversuche wurden schnell wieder eingestellt, da sich die dafür vorgesehenen Leinen-Schläuche als porös erwiesen und es der Crew nicht gelang, ersatzweise einen Gummischlauch anzuschließen. Fatalerweise stellte sich auch heraus, dass die Besatzungsmitglieder keinerlei Brandschutzübungen durchgeführt hatten und daher mit der Situation vollkommen überfordert waren.
Wenige konnten schwimmen
![Kapitän William Van Schaick musste sich als Einziger vor Gericht verantworten und drei Jahre ins Gefängnis](/sites/default/files/inline-images/25_2024_Wissen___Geschichte_General_Slocum_004.jpg)
Schwimmwesten und Rettungsringe waren zwar reichlich vorhanden, doch da ihr Innenleben aus verrottetem Kork bestand, waren sie absolut nutzlos. Versuche, die Rettungsboote von ihren Befestigungen zu lösen, scheiterten an der festen Verkabelung, die zusätzlich beim Boots-Neuanstrich versehentlich mit einer dicken Lackschicht überzogen worden war. Ein rettender Sprung in die Fluten war für die meisten Fahrgäste das sichere Todesurteil, weil – für die damalige Zeit normal – kaum jemand schwimmen konnte und sich die Damen wegen ihrer schweren Kleidung nicht lange über Wasser halten konnten. Schließlich stellte sich auch noch heraus, dass bei der Renovierung des Schiffes offenbar brennbare Farbe verwendet worden war, was dem Feuer reichlich Zusatznahrung bescherte. Zudem herrschte ein kräftiger Gegenwind, der die Flammen in Windeseile vom Bug zum Heck übergreifen ließ.
Der Kapitän traf die Entscheidung, nicht das dem „Hell’s Gate“ ziemlich nahegelegene Ufer des East River anzusteuern, weil er unbedingt vermeiden wollte, das Inferno noch weiter zu verschlimmern. Dort lagen nämlich Öl- und Holz-Anlagen. Stattdessen gab er Weisung, mit Volldampf auf eine etwa eine Meile entfernte Insel zuzusteuern, weil auf dem North Brother Island die Gefahr eines verheerenden Flächenbrandes gering war. Auf der Insel gab es lediglich eine Quarantäne-Station für Infektionskrankheiten.
Als der Dampfer die Insel erreichte, verkantete sich der Bug im Sand und brannte fast auf seiner gesamten Länge lichterloh. Die Mehrzahl der Menschen hatte sich am Heck versammelt und blickte auf den unter ihr brodelnden Abgrund. Wer bislang den Sprung ins Ungewisse noch nicht gewagt hatte, tat dies spätestens nach der Strandung. Laut Report der Untersuchungskommission ertranken allein bei diesem letzten Akt der Katastrophe zwischen 400 und 600 Menschen. Bezüglich der Opferzahlen weichen die Angaben teils erheblich voneinander ab, häufig ist von 1.021 Toten die Rede. Der Report selbst sprach in Anlehnung an Schätzungen der Küstenwache von 955 Toten unter den Passagieren und zwei Opfern unter der Besatzung. 895 Tote konnten später identifiziert werden. Die Zahl der Verletzten wurde auf 180 beziffert. 251 Personen sollen das Inferno ohne Verletzungen überstanden haben. An einem Pier wurde ein provisorisches Leichenschauhaus eingerichtet, die diversen Beisetzungen zogen sich über mehr als eine Woche lang hin.
Familienväter begingen Suizid
![Die zahlreichen Opfer wurden zunächst am Ufer des East River aufgereiht](/sites/default/files/inline-images/25_2024_Wissen__Geschichte_General_Slocum_002_0.jpg)
Eine Schockwelle erfasste die Gemeinde St. Mark’s, weil fast alle Mitglieder Opfer zu betrauern hatten. Zudem kam es zu zahlreichen Suizid-Fällen unter den Familienvätern. Viele Menschen wandten sich in der Folgezeit vom Ort des Grauens ab und ließen sich anderswo nieder. Auch ein Streit um die Auszahlung von Spenden spaltete die Gemeinde, da der Pastor einen Teil des Geldes für die personell erheblich reduzierte Kirche einbehalten wollte. Mit „Kleindeutschland“ sollte es bald vorbei sein.
Die Erinnerung an „Little Germany“ und das Unglück, dem James Joyce in seinem Opus „Ulysses“ ein literarisches Denkmal setzte, geriet spätestens nach Beginn des Ersten Weltkrieges in Vergessenheit. Nur der Kapitän wurde von einem Gericht als Bauernopfer zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er aber nur drei Jahre absitzen musste. Die Reederei hingegen blieb ungeschoren. Immerhin wurden als Konsequenz der gravierendsten zivilen Schiffskatastrophe der US-Geschichte die Sicherheitsbestimmungen für Dampfer drastisch verschärft und deren Inspektions-Service grundlegend reformiert.