Eine Angststörung kann viele Gesichter haben. Junge Menschen vermeiden den Schulbesuch, scheuen sich davor, in Kontakt zu anderen zu treten und haben Angst vor Prüfungen. Prof. Dr. Eva Möhler spricht im Interview über den Einfluss des Erziehungsstils, über Vermeidungsverhalten und darüber, was gamifizierte Therapieangebote bringen könnten.
Frau Prof. Möhler, Angststörungen sind eine der häufigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Hierzulande leidet jedes zehnte Kind mindestens einmal in seinem Leben darunter. Können Sie das bestätigen?
Die psychischen Erkrankungen bei Kindern haben sich während der Corona-Pandemie sogar verdoppelt. Vor allem bei Mädchen ist ein starker Anstieg gegenüber dem Vor-Corona-Niveau von 2019 festzustellen. Im Jahr 2022 mussten 35 Prozent mehr jugendliche Mädchen wegen Angststörungen stationär behandelt werden. Von 1.000 Mädchen in der Altersgruppe der 15- bis 17-Jährigen wurden 6,3 wenigstens einmal mit Angststörungen im Krankenhaus behandelt.
Woher kommen diese Zahlen?
Der Kinder- und Jugendreport der DAK wird deutschlandweit erhoben. Außerdem konnte die COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf nachweisen, dass sich seit den zwei Lockdowns die Fallzahlen der Kinder mit psychiatrischen Auffälligkeiten fast verdoppelt haben. Vor allem die Angststörungen bei Mädchen im Alter zwischen elf und 17 Jahren haben zugenommen. Alarmierend ist, dass die Zahlen nach drei Erhebungswellen fast gar nicht rückläufig sind.
Welche körperlichen Symptome und Verhaltensweisen können darauf hindeuten, dass Kinder und Jugendliche betroffen sind?
Angst manifestiert sich oft zunächst einmal im Körper durch Herzrasen und Schwitzen. Kinder reagieren auf Ängste häufig mit Bauchweh. Wir kennen den im Volksmund verwendeten Ausspruch: „Ich habe Bauchweh bei der Sache“. Wir sehen häufig bei Kindern, dass hinter chronischen Bauchschmerzen und Kopfschmerzen eine Schulangst, eine soziale Angst oder eine Trennungsangst steckt. Wenn ein Kind immer wieder unter solchen körperlichen Beschwerden leidet, ohne dass eine organische Ursache gefunden werden kann, ist das ein deutlicher Indikator für eine psychische Erkrankung. Natürlich sprechen auch manche Kinder über ihre Ängste. Andere wirken durch ihr Verhalten auffällig, wenn sie etwa nicht mehr nachmittags das Haus verlassen, um mit Freunden zu spielen oder sich nicht mehr trauen alleine im eigenen Bett zu schlafen.
Heißt das, dass sich verstärkt ein Vermeidungsverhalten zeigt?
Ja, dieses Verhalten setzt eine ungünstige Spirale in Gang. Ein Kind, das zum Beispiel Angst vor sozialen Kontakten hat, vermeidet es, in Kontakt mit anderen Kindern zu treten. Doch durch den Rückzug verstärken sich die Ängste, und die sozialen Kompetenzen können sich nicht weiterentwickeln. In der Therapie versucht man das Vermeidungsverhalten aufzubrechen, indem die Kinder schrittweise die angstmachenden Stimuli versuchen auszuhalten.
In welchem Alter sind junge Menschen am meisten von dieser psychischen Erkrankung betroffen?
Wenn wir betrachten, wie Angststörungen unter den Geschlechtern und in den Altersgruppen verteilt sind, fällt eines auf: Wir nennen das Phänomen die kinderpsychiatrische Schere. Jungen sind am häufigsten von psychischen Erkrankungen betroffen, wenn sie unter 13 Jahre, also eher im Grundschulalter sind. Bei Mädchen beobachten wir eine umgekehrte Entwicklung. Der Erkrankungs-Peak ist bei Ihnen im Alter von 13 Jahren und älter.
Es gibt ein breites Spektrum an Ängsten bei jungen Menschen – angefangen von sozialer Angst über Trennungs- und Leistungsangst bis hin zur generalisierten Angststörung. Was weiß die Forschung über die Ursachen?
Es gibt drei Säulen: Zum einen gibt es genetische Faktoren. Es gibt eine Temperamentsbesonderheit, die nennen wir behaviorale Inhibition, also Verhaltenshemmung. Manche Säuglinge sind begeistert, wenn man ihnen neue Reize präsentiert, andere – mit hoher behavioraler Inhibition – weinen und wollen sie vermeiden. Außerdem haben wir in eigenen Studien einen pränatalen Einflussfaktor zeigen können, nämlich dass Stress in der Schwangerschaft die Verhaltenshemmung für das ungeborene Kind vermindern kann. Daneben spielt die Eltern-Kind-Interaktion eine Rolle. Eher kontrollierend-überbehütendes Elternverhalten führt tatsächlich dazu, dass Kinder mehr Ängste entwickeln. Drittens können Angststörungen durch traumatische, belastende Lebensereignisse ausgelöst werden, zum Beispiel durch die Krebserkrankung eines Elternteils oder häusliche Gewalt.
Sollten Mütter und Väter darüber reflektieren, ob sie durch ihren überbehütenden und kontrollierenden Erziehungsstil ihr Kind einem erhöhten Risiko aussetzen, dass es eine Angststörung entwickelt?
Das ist immer hilfreich. Allein das Reflektieren verändert schon was (lacht). Jeder macht Fehler, kein Elternteil ist perfekt. Man sollte keine Scheu davor haben, sich zu hinterfragen. Hinter der Überhütung verbergen sich oft elterliche Ängste. Zum Beispiel kann es verständlicherweise vorkommen, dass Mütter mit Fehl- oder Totgeburt-Erfahrung jene Kinder, die sie danach lebend zur Welt gebracht haben, oft sehr überbehüten. Überhütung kann aber auch über mehrere Generationen übertragen werden, zum Beispiel wenn vier Generationen in einem Haus zusammenwohnen. Auch wenn die Eltern es ja ohnehin wirklich sehr gut mit ihren Kindern meinen, ist es wichtig, dass sie das Loslassen trainieren.
Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass mein Kind an einer Angststörung leidet, sollte vermutlich die erste Anlaufstelle der behandelnde Kinderarzt sein. Heißt das, dass der in der Regel die Diagnose stellt?
Wenn Eltern den Verdacht haben, dass ihr Kind an einer Angststörung leidet, und zum behandelnden Kinder- und Jugendarzt gehen, schreibt der in der Regel eine Überweisung an den Kinderpsychiater oder Kindertherapeuten. Das Kind wird zuerst dem Kinderpsychiater vorgestellt – das ist ein Arzt. Der klärt ab, ob für die Angststörung organische Ursachen oder eine Traumafolgestörung vorliegen. Dabei müssen Kinderpsychiater eine mögliche Kindeswohlgefährdung immer ausschließen. Wenn der Kinderpsychiater jegliche organische Ursachen wie eine Psychose oder eine Schilddrüsenüberfunktion ausschließen kann, überweist er wiederum an den Kinderpsychotherapeuten. Das heißt, wenn keine organischen Ursachen, Drogenkonsum und/oder Kindesmisshandlung vorliegen, empfehlen wir zuerst eine ambulante Therapie bei einem Kinderpsychotherapeuten. Wenn die aber nicht hilft, geht der Ball wieder zurück zu uns Kinderpsychiatern.
Was genau macht in dem Fall ein Kinderpsychotherapeut?
In der Regel die sogenannte „desensibilisierende“ Verhaltenstherapie mit dem Ziel zeitnah, zum Beispiel den Schulbesuch wieder zu ermöglichen. In dem Moment, wenn der Psychotherapeut mit der Psychotherapie nicht weiterkommt, weil das Kind durch seine Angst immer noch wie gelähmt ist und seit Monaten nicht die Schule besucht, sollte er an die klinische Kinderpsychiatrie überweisen. In solch einem Fall reicht eine ambulante Behandlung dann nämlich wahrscheinlich nicht. Vielmehr muss der weitere Bedarf abgeklärt werden. Braucht der betroffene Jugendliche etwa ein Medikament, zum Beispiel einen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs sind Antidepressiva, die auch gegen Ängste wirken, Anm. d. Red.)? Oder braucht das Kind eine tagesklinische oder vielleicht stationäre Behandlung? Wenn Entscheidungen wie diese anstehen, kommt immer die klinische Kinderpsychiatrie ins Spiel.
Ist die Angststörung besonders ausgeprägt, kann eine teilstationäre oder stationäre Behandlung sinnvoll sein. Kennen Sie solche Fälle aus Ihrer beruflichen Praxis?
Auf jeden Fall. Der häufigste Grund, warum Kinder und Jugendliche mit Angststörungen teilstationär und stationär behandelt werden, ist, dass sie nicht mehr die Schule besuchen. Alle anderen Phobien vor bestimmten Objekten wie Spinnen oder Orten, kann man in der Regel ambulant behandeln, und sie gefährden auch nicht die Entwicklung des Kindes. Aber wenn ein Kind etwa zwei Jahre lang nicht die Schule besucht, sprechen wir von Schulphobikern, Schulvermeidern und schulängstlichen Kindern. Am Universitätsklinikum Homburg, aber auch in Sankt Wendel, Saarbrücken und Merzig bieten wir ein – aktuell deutlich aufgestocktes – tagesklinisches Angebot mit integriertem Schulunterricht. Vom Bildungsministerium entsandte Lehrer unterrichten in Zweier- oder Dreier-Gruppen. Für die Kinder ist das weniger beängstigend als in einer großen Klasse. In manchen Fällen, wenn das Kind durch eine Trennungsangst gelähmt ist, geht es gar nicht mehr von zu Hause weg. Dann müssen wir den Eltern klarmachen, dass eine vollstationäre Behandlung sinnvoll ist. Diese bieten wir in Homburg und Saarbrücken an. In den meisten Fällen bleiben jedoch die Kinder nach ein, zwei Tagen sehr gern bei uns.
Wie ist das tagesklinische Angebot im Rest der Republik?
In den großen Flächenländern wie Brandenburg hat sich das Angebot deutlich verbessert. Nach der Wende gab es allerdings in den ostdeutschen Bundesländern noch sehr große stationäre „Bettenburgen“. Teilweise wohnten die Kinder 200 Kilometer von der Klinik entfernt. Das ist natürlich sehr schade, weil kinderpsychiatrische Arbeit immer auch die ganze Familie einschließt. Deshalb sind städte- und gemeindenahe Angebote besser, denn so kann man Kindern viel effizienter und nachhaltiger helfen.
Wie hilfreich können Online-Coaches wie der von der AOK sein, um Ängste zu überwinden?
Wir haben selbst auch Anträge eingereicht beim BMBF auf eine Gamifizierung von Therapieangeboten. Ich denke, dass das ein Weg ist, der jungen Menschen dabei helfen kann ihre Ängste zu überwinden. Kinderpsychiater sollten anfangen, mit den entsprechend kompetenten Tech-Akteuren, neue digitale Angebote zu entwickeln. Mithilfe virtueller Räume können beispielsweise Kinder und Jugendliche mit Mobbing-Erfahrungen trainieren, sich selbstbewusster zu verhalten. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Expositionsbehandlung, das heißt, dass sich die Betroffenen mit den gefürchteten Stimuli konfrontieren. Insofern finde ich solche digitalen Angebote sehr vielversprechend. Die KJPP des Saarlandes kooperiert dafür mit dem DFKI, dem Institut für Neurotechnologie und dem Fraunhofer-Institut, denn unser Ziel ist es gamifizierte, digitalisierte Angebote zu entwickeln. Das ist zwar ein guter Anfang, doch ich denke, dass wir angesichts der digitalen Möglichkeiten noch sehr kreativ sein können.
Wie können betroffene, junge Menschen ermutigt werden, sich mit der Angst auseinandersetzen und eigene Strategien der Überwindung entwickeln?
Wenn das Kind unter einer Traumafolgestörung leidet, sollte man vor allem die traumatisierende Situation beenden, einen sicheren Ort für das Kind schaffen und es dabei unterstützen, das Vermeidungsverhalten aufzugeben. Wenn eine Angststörung zum Beispiel durch eine überbehütende Erziehung aufrechterhalten wird, arbeiten wir mit Video-Interaktionstherapie. Wir zeigen unter anderem den Familien, wie sie Stärken weiter ausbauen und weniger günstiges Verhalten weiter abbauen können. Eltern können ihre Kinder unterstützen, indem sie einen Mittelweg finden, also nicht die Gefühle ihres Kindes entwerten, sondern sich anhören, wie es dem Kind mit der Angst geht und ihm zu signalisieren, dass man es nicht alleine lässt. Auf der anderen Seite kann dysfunktionale Aufmerksamkeit, durch die nur noch der Fokus auf den Angstsymptomen liegt, die Angst noch verstärken. Gerade ein ängstliches Kind sollte man immer versuchen über seine Stärken wahrzunehmen. Wenn etwas gut geklappt hat, sollten die Eltern das ihrem Kind widerspiegeln.
Was sollte sich in Elternhäusern, Kindergärten und Schulen ändern, damit junge Menschen angstfreier aufwachsen können?
Kinder brauchen einen sicheren Ort in dieser Welt – und zwar überall. Sie sollen das Gefühl haben, dass diese Welt ein sicherer Ort ist, wobei das heißt, dass sie keine Gewalt, keine Entwertung und keine negativen Bewertungen ihrer Person erfahren sollen. Sie sollen merken, dass sie sicher vor seelischer und vor körperlicher Gewalt sind. Tatsächlich muss da noch ganz viel passieren. Denn jedes vierte bis fünfte Kind wird heute immer noch körperlich misshandelt, seelische Misshandlung kommt sogar noch häufiger vor. Natürlich ist die Dunkelziffer riesig groß. Eltern müssen in ihren Kompetenzen gestärkt werden. Wenn sie selbst Gewalterfahrungen gemacht haben, sollten sie offen darüber sprechen können. Das ist gar nichts, wofür man sich schämen muss, oder woran man selber Schuld hätte, sondern jeder Mensch hat das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.