Nach seiner zweiten krachenden Niederlage bei einer Europawahl löst Macron in Frankreich nun die Nationalversammlung auf. Ein taktisches Manöver, das jeÂdoch nach hinten losgehen könnte.
Paukenschlag am Wahlabend: Kurz nach Verkündung der ersten Ergebnisse der Europawahlen zieht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen Schlussstrich und kündigt überraschend die Auflösung der Nationalversammlung an. Am 30. Juni und 7. Juli sind unsere französischen Nachbarn erneut zu den Wahlurnen gerufen. Taktisches Kalkül eines bitter enttäuschten Präsidenten oder das Eingestehen einer krachenden Niederlage seiner Politik?
Der Sieg des rechtsextremen Rassemblement National RN bei den Europawahlen mit 31,36 Prozent der abgegebenen Stimmen war absehbar. Bereits lange zuvor lag der RN mit Spitzenkandidat Jordan Bardella in den Umfragen weit vor Macrons Parteienbündnis Besoin d’Europe mit der schwachen und unbekannten Kandidatin Valérie Hayer, die gerade mal 14,60 Prozent erhielt, nur knapp vor der sozialistischen Liste um Raphaël Glucksmann mit 13,83 Prozent. Die Grünen um Spitzenkandidatin Marie Toussaint erhielten nur 5,5 Prozent und die konservativen Les Républicains 7,24 Prozent. Und noch schlimmer: Die Linkspopulisten La France Insoumise des alten Haudegen Jean-Luc Mélenchon mit Spitzenkandidatin Manon Aubry verbesserte sich auf 9,89 Prozent und die ultrarechte Requenquête von Eric Zemmour mit Marion Maréchal an der Spitze holte 5,47 Prozent. Damit erhalten nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis von den 81 Sitzen Frankreichs im Europaparlament 44 Sitze die antieuropäischen Parteien. Die Wahlbeteiligung lag bei 52,5 Prozent und damit so hoch wie seit 1994 nicht mehr.
Riskante Entscheidung
Emmanuel Macron sah am Wahlabend wohl keine andere Möglichkeit mehr, als die Reißleine zu ziehen und die Auflösung der Nationalversammlung anzukündigen. Damit kam er dem Rassemblement National zuvor, der bereits im Vorfeld der Europawahlen Neuwahlen verlangt hatte. „Ich kann nicht so tun, als wäre nichts geschehen“, betonte Macron in seiner Fernsehansprache, „und lege nun das Schicksal Frankreichs und Europas in die Hände der französischen Wählerinnen und Wähler, denen ich zutiefst vertraue.“
Es sei eine mutige und riskante Entscheidung des Präsidenten, ist von Parteienvertretern aus der Nationalversammlung zu hören und nicht alle finden das gut, müssen sie doch um den Einzug in das künftige Parlament bangen. Außerdem könne der Schuss auch nach hinten losgehen. Umfragen der letzten Wochen sehen den RN bereits als klaren Sieger bei Neuwahlen.
Doch was bedeutet das nun für die politische Landschaft in Frankreich und was bezweckt der überzeugte Europäer Macron damit? Schließlich ist seine Position als Präsident nicht gefährdet und es bleiben ihm noch knapp drei Jahre, seine Landsleute von der Richtigkeit seines Kurses für ein starkes Europas zu überzeugen. Es kommt hinzu, dass Macrons Parteienbündnis Renaissance seit der Wahl im Frühjahr 2022 in der Nationalversammlung über keine Mehrheit verfügt. Die Suche nach Kompromissen und wechselnden Mehrheiten machten das Regieren in den letzten beiden Jahren schwerfällig und mühsam. Dass Macron jetzt Klarheit wünsche, wie er in seiner Rede am Wahlabend betonte, ist verständlich. Zu groß die Gefahr eines politischen Stillstands in einer brisanten geopolitischen Gemengelage.
Die Wahlmaschinerie ist in Frankreich bereits angelaufen, denn bis zum 30. Juni bleibt nicht viel Zeit, die Reihen zu schließen und sich zu positionieren. Schon am Tag nach der Wahl kündigte Sébastien Chenu vom RN an, Bardella sei zwar für Europa gewählt, würde aber im Falle eines Wahlsiegs auch den Posten des Premierministers annehmen. Kaum vorstellbar, dass der Pro-Europäer Macron Jordan Bardella mit der Regierungsbildung beauftragt. Sogenannte Kohabitationen zwischen Präsidenten und Regierungen unterschiedlicher politischer Lager gab es in der 5. Republik Frankreich zwar des Öfteren, aber nie in dieser extremen Konstellation zwischen Liberalen und Rechtsextremisten.

Aber vielleicht ist es das machiavellistische Kalkül eines gewieften Präsidenten, den erst 28-Jährigen Bardella in die politische Verantwortung zu nehmen, um ihn vorzuführen, oder ein demokratisches Bündnis gegen die Rechtsradikalen zu bilden. Die Parteien des linken Spektrums wollen es erst gar nicht so weit kommen lassen und rufen schon zur Bildung einer „Front populaire“ auf, zumindest der Vorsitzende der Sozialisten, Olivier Faure und der Kommunist Fabien Roussel. Das hänge allerdings auch vom Verhalten der Linkspopulisten von La France Insoumise ab. Ein neues Linksbündnis wie NUPES bei den letzten Wahlen solle es aber nicht sein, während die Konservativen Les Républicains die Präsidentenpartei auch künftig nicht unterstützen wollen. Eine Zusammenarbeit zwischen der demokratischen Mitte gegen die Rechtsextremen sieht anders aus, so als hätten diese Parteien das Wahlergebnis nicht verstanden. Es war ein Warnschuss der französischen Wählerinnen und Wähler, den Macron jetzt korrigieren möchte.
Die Europawahlen für das ferne Brüssel dienen schließlich in schöner Regelmäßigkeit in Frankreich dazu, die jeweils amtierenden Präsidenten im nahen Paris abzustrafen. Die Unzufriedenheit und Wut seiner Landsleute mit der neoliberalen und arrogant-höfisch anmutenden Politik hat Macron schon des Öfteren deutlich zu spüren bekommen. Es sind die innenpolitischen Themen wie Wirtschaft, Inflation und Deindustrialisierung, Soziales, die umstrittene und durchgeprügelte Rentenreform und das leidige Thema Migration, die die Gemüter in unserem Nachbarland erhitzen.
Wirtschaftlich gestärkt
Dabei sieht die wirtschaftliche Bilanz in Frankreich gar nicht so schlecht aus: Das Land hat sich in Europa durch den 50 Milliarden Euro schweren Investitionsplan „France 2030“ mit an die Spitze der Auslandsinvestitionen gesetzt, allerdings zu Lasten einer hohen Staatsverschuldung mit nahezu 112 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Macron setzte die Arbeitsrechts- und Rentenreform um, senkte die Unternehmenssteuern; die Inflation ging auf unter drei Prozent zurück, das BIP beträgt 1,5 Prozent und die Arbeitslosenquote fiel auf 7 Prozent. Wirtschaftlich steht unser Nachbarland besser da als Deutschland. Frankreich als einzig verbliebene Atommacht in der EU meint es zudem ernst mit seiner Strategie einer höheren Unabhängigkeit von China, Indien und den USA.
Doch das alles hat beim französischen Wahlvolk nicht gefruchtet und es besteht zu befürchten, dass die dringend benötigten Reformen der europäischen Institutionen, die im Wahlkampf überhaupt keine Rolle spielten, mit einer ÂantiÂ-europäischen Stimmung im Parlament weiter auf die lange Bank geschoben werden. Ganz zu schweigen von einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa. Außerdem machen der rechtsextreme RN und die linksextreme La France Insoumise keinen Hehl daraus, Deutschland künftig nicht als privilegierten Partner in Europa zu betrachten. Um ihre eigene Präsidentschaft nicht in Gefahr zu bringen, hat Marine Le Pen die Zusammenarbeit mit der AfD in Deutschland schon lange vor den Europawahlen auf Eis gelegt. Und der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon benutzt immer wieder gerne das Bild vom „hässlichen Deutschen“, der Europa und damit Frankreich nur beherrschen möchte.
Die Stärkung Europas, die angestrebte deutsch-französische Kapitalmarkt-Union zur Finanzierung zukunftsträchtiger Branchen und der grünen Transformation, eine europäische Allianz für Künstliche Intelligenz, mehr Rüstungsprodukte aus Europa, stärkere Unabhängigkeit von Asien durch eine konsequente Industriepolitik: Macron bleiben genug Themen in seiner verbleibenden Amtszeit.
Eine Frage, die sich außerdem stellt, wer das „Erbe“ Macrons 2027 antreten könnte, denn er selbst darf es nach zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten nicht mehr tun, theoretisch erst wieder 2032. Lediglich Marine Le Pen gilt beim RN als sicher gesetzt. In der demokratischen Mitte tauchen viele Namen auf. Dem ehemaligen Premier und Bürgermeister von Le Havre, Edouard Philippe, 53 Jahre, von Horizons werden Chancen eingeräumt. Der erst 35-jährige Premier Gabriel Attal von Renaissance gilt als kompromissfähig, muss aber aus dem Schatten von Ziehvater Macron heraustreten. Namen wie Jean Castex, 59 Jahre, ehemaliger Premier und Spitzenbeamter der UMP, und der noch amtierende Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire, 53 Jahre, von Renaissance, tauchen immer wieder mal auf. Gleiches gilt für den Sozialistenchef Oliver Faure, 55 Jahre, und Eric Ciotti, 58 Jahre, Vorsitzender von Les Républicains, der Partei der ehemaligen Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy. Noch ist es zu früh und Frankreich ist immer wieder für eine Überraschung gut.