Die 28-jährige Paolina Russo hat mit ihrem nachhaltigen Londoner Label die traditionelle Strickkunst revolutioniert. Sie kombiniert moderne, futuristische Elemente mit unkonventionellen Athleisure-Designs. Dadurch setzt sie neue Maßstäbe in der Modewelt.

Obwohl sie Fashion Weeks im Vergleich zu den weitaus effektiveren Sozialen Medien als „überholtes Konzept“ für die Präsentation von Mode bezeichnet hatte, da sie aus ihrer Sicht sehr teuer, zeitaufwendig und zudem auch langweilig sind, entschloss sich Paolina Russo letztendlich doch, die Sommerkollektion 2024 ihres Labels erstmals auf einer internationalen Modewoche zu präsentieren. Allerdings fernab vom Glamour der vier Fashion-Metropolen New York, London, Mailand und Paris. Stattdessen fiel die Wahl auf die Copenhagen Fashion Week, die inzwischen als nachhaltigste Modewoche der Welt gilt und seit August 2023 von allen teilnehmenden Marken die Erfüllung klar definierter Nachhaltigkeitsanforderungen verlangt.
Der Nachhaltigkeitsansatz wird bei Paolina Russo ebenso rigoros und sozial bewusst verfolgt wie der Design-Prozess, wobei das anfänglich im Mittelpunkt stehende Upcycling inzwischen zugunsten der Verwendung von hochwertig-natürlichen Materialien in den Hintergrund gedrängt wurde. „Es ist wirklich wichtig für uns“, so Paolina Russo, „bei der Entwicklung von Dingen die Post-Consumer-Journey zu berücksichtigen. Zu wissen, dass die Stücke, wenn sie auf der Mülldeponie landen, biologisch abgebaut werden können.“ Dies wird am besten gewährleistet, wenn die Teile aus nur einer einzigen Faser und nicht aus Mischgewebe hergestellt werden.
„Traditionelle Technik neu denken“

Da das Kopenhagener Event vom Versandhändler Zalando gesponsert wird, war es kein Zufall, dass Anfang August 2023 in der dänischen Metropole die Newcomer-Brand Paolina Russo, die im gleichen Jahr auch zu den Finalisten des LVMH-Preises und des International Woolmark Preises gezählt hatte, mit dem ersten, mit 50.000 Euro dotierten Zalando Visionary Award ausgezeichnet wurde. 15.000 Euro des Preisgeldes wurden vorab für die Produktion einer Modenschau auf der Copenhagen Fashion Week verwendet, was Paolina Russo und ihre Mitstreiterin Lucile Guilmard nutzten, um ihre aus 23 Looks bestehende Sommerkollektion 2024 mit dem Titel „Monolithics“ zu präsentieren. „Die hohen Ansprüche eines solchen Awards zu erfüllen“, so Paolina Russo, „bringt uns unserem Ziel näher, die Handwerkskunst zu modernisieren und traditionelle Techniken durch Innovation und verantwortlich hergestellte Mode neu zu denken.“
Jeder Insider konnte bei der Betrachtung der Sommerkollektion 2024 erkennen, wie sehr sich Paolina Russo stilistisch seit ihrer Bachelor-Abschlusskollektion des Central Saint Martins College of Art and Design 2018 weiterentwickelt hatte. Dass sie mit ihrer lauten, femininen und vom Athleisure-Look inspirierten Kollektion den begehrten L’Oréal Professional Young Talent Award gewinnen würde, hätte sich Paolina Russo bei ihrer Ankunft in London 2013 kaum vorstellen können. Zu Beginn hatte sie nämlich ein Kunststudium geplant.

In ihrer kanadischen Heimatstadt Markham, Ontario, zählten Luxusmode und Design nicht zu den gängigen Freizeitinteressen. Paolina Russo spielte Fußball und betrieb Taekwondo. Nebenbei führte sie einen Mode-Blog und arbeitete DIY-Kreationen aus Secondhand-Kleidung nach Vorlagen aus Modemagazinen um. „Ich habe meine Kleider immer selbst genäht. Früher habe ich im Value Village eingekauft und versucht, Dinge nachzumachen, die ich in der ‚Vogue‘ gesehen habe.“
An der Londoner Hochschule konzentrierte sich Paolina Russo auf Strickwaren und entwickelte eine spezielle Technik namens „Illusionsstrickerei“. „Wenn sich das Material bewegt, kommt ein anderes Bild zum Vorschein“, so Russo. „Ich begann später mit computergesteuerten Strickmaschinen zu arbeiten, um den gleichen Effekt zu erzielen, aber viel schneller. Illusionsstricken ist definitiv zu einem festen Bestandteil meiner Marke geworden.“

Ein Praktikum bei John Galliano und dem Maison Margiela in Paris war ebenfalls enorm hilfreich. Galliano war so begeistert von ihr, dass er sie zur Muse für seine Sommerkollektion 2017 machte. „Es war großartig, mit John Galliano zusammenzuarbeiten, einem meiner Modehelden“, so Paolina Russo, „ich hatte die Gelegenheit, ein Häkelkleid für die Show zu entwerfen. Es war eine großartige Gelegenheit zum Lernen, in einem vollwertigen Betriebssystem zu sein, umgeben von diesen erstaunlichen Ressourcen, Designern, Produktentwicklern und Menschen.“
Superstar Rihanna wird auf Russo aufmerksam
Für ihre Bachelor-Abschlusskollektion erinnerte sich Russo an die heimatliche Sportkultur und verarbeitete alte Trikots, Turnschuhe und Socken. „Ich habe viel mit wiederverwertbaren Materialien gearbeitet. Ich habe Schuhe und Turnschuhe zu Korsetts und Kleidern recycelt“, so Russo. Die Kollektion mit dem Motto „I Forgot Home“ bestand aus sechs Looks, die auf nostalgischen Neon- und innovativen Illusionsstrickstoffen basiert hatten. Darunter gab es ein schulterfreies Kleid aus recycelten Neon-Sneakern, kombiniert mit lachsfarben-grünen Illusionsstrick-Leggins. Noch bekannter sollten die leuchtenden Sneaker-Korsetts werden. Ein Ballkleid oder ein Overall aus Illusionsstrick nicht zu vergessen. Superstar Rihanna wurde schnell auf diese spektakulären Entwürfe aufmerksam. Solange Knowles sollte für ein Shooting gleich ins Athleisure-Sneaker-Korsett von Paolina Russo schlüpfen. Dem Beispiel sollten bald Rita Ora und Bella Hadid folgen.

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Ein Jahr nach ihrer BA-Abschlusskollektion fragte Adidas wegen einer Kooperation an, was Russo die Möglichkeit gab, ihre Capsule Collection auf der Pariser Mens Fashion Week auszustellen. 2020 folgte eine zweite Zusammenarbeit mit Adidas, wobei vor allem Hybrid-Stiefel und Heels aus Superstar-Sneakern entstanden.
Ihre Master-Abschlusskollektion 2020 am Central Saint Martins College war von der neonfarbenen Skiausrüstung des kanadischen Winter-Olympia-Teams der 1990er-Jahre inspiriert. „Ich liebte die neonfarbene Skiausrüstung und die wattierten Pullover“, so Russo. Auch eine Kooperation mit der Shopping-Plattform Klarna brachte kreative Highlights hervor, wie einen Bolero-Handschuh-Hybrid mit integrierten Taschen.
Sport als Inspirationsquelle
Die Corona-Pandemie verzögerte die Gründung ihres eigenen Labels, aber Ende September 2021 konnte Russo ihre erste Kollektion für den Sommer 2022 im Concept-Store 10 Corso Como in Mailand zeigen. Ihre zweite Kollektion Herbst/Winter 2022/2023 mit dem Titel „Relics“ setzte verstärkt auf Naturfasern.

„Für diese Kollektion haben wir das Erbe der Strickwaren erforscht. Wir haben uns die Techniken, Muster und Maschinen der alten Schule des manuellen Strickens angesehen. Selbst wenn wir eine Maschine für die Produktion verwendet haben, wollten wir, dass jedes Kleidungsstück dieses hausgemachte Gefühl vermittelt. Außerdem haben wir zum ersten Mal nur natürliche Materialien verwendet. Es ging uns allerdings nicht darum, Vintage-Kleidungsstücke neu zu interpretieren, sondern darum, alte Stiche und Techniken neu zu erfinden und sie dann in moderne Designs zu übersetzen. Meine Designs sind immer sehr schlank und von der Sportbekleidung inspiriert, und das haben wir auch nicht verändert. Meine Spezialität sind technische und Sportbekleidungsmaterialien. Daher mussten wir nach Lösungen suchen, um die Naturfasern so eng anliegend zu machen, wie wir es uns für unsere Designs wünschen. Es gibt neue Techniken, um Naturfasern dehnbarer zu machen. So konnten wir unseren körpernahen Stil beibehalten. Alles hat immer noch diese sportliche Note, wir machen immer noch Illusionsstrick, aber ich bin gewachsen und habe mich sehr verändert, als Person und als Designerin.“ Das sportlich Farbenfrohe und das Hauptaugenmerk auf Strick blieben erhalten. Zopfstrick wurde in Korsettstäbchen verwandelt oder für einen Midirock mit offenherzigen Hüftknochenausschnitten verwendet. Russos persönliche Vergangenheit als Snowboarderin schlug sich in Jacken mit gepolsterten Ärmeln nieder.

Ihre Herbst/Winter-Kollektion 2023/2024 machte eine weitere innovative Wendung. Drei ihrer Looks konnten in Kooperation mit der digitalen Gaming-Agentur SKNUPS auf das Spiel „Roblox“ übertragen werden. Das Label präsentierte die Kollektion auch in der Boutique des Schmuckdesigners Colombe d’Humières während der Pariser Fashion Week. Klassischer Zopfstrick wurde gedehnt und verdreht, um panzerartige Muster zu bilden. Die Garne für den Illusionsstrick wurden in Schottland von Hand gefärbt und in Leeds gesponnen.
Ihre Sommer-Kollektion 2024, die auf der Copenhagen Fashion Week gezeigt wurde, war laut Co-Designerin Lucile Guilmard „eine Pilgerreise in eine folkloristische Landschaft“, von prähistorischer Höhlenkunst ebenso geprägt wie von kindlichen Kreidezeichnungen. Alle Stücke waren aus dem gleichen Material, Baumwolle, gestaltet worden. Dabei war erstmals Denim (mit Farbverlauf) im Sortiment aufgetaucht, wofür das Label mit der für seine nachhaltige Spitzenqualität renommierten portugiesischen Manufaktur Pizarro zusammengearbeitet hatte. Dabei entstand lasergraviertes Denim für das Schneidern von Baggy Jeans mit niedrigem Bund, kastigen Röcken, Bermudashorts und einer Bolerojacke. „Ein großer Vorteil ist, dass die Lasermaschine keine zusätzliche Farbe oder Wasser benötigt, um die Grafiken herzustellen, und der Prozess bedeutet auch, dass es keine Verschnitte oder Stoffverschwendung gibt“, so Russo. „Es war gewissermaßen unsere Version des Schnitzens in Stein“, so Lucile Guilmard. Natürlich gab es wieder gewickelte, konvexe Strickwaren, Jersey-Oberteile mit Talisman-Holzverschlüssen, schräg geschnittene Kleider aus bedrucktem Chiffon, Jersey-Bermudas, halbtransparente Patchwork-Säulenkleider, regenbogenfarbene Illusionsstrickpullover, Jogginghosen, Kapuzenpullis oder Gürtel mit Perlen aus Nussschalen.

Für die beiden Designerinnen ist die direkte Zusammenarbeit mit ihren Material-Lieferanten besonders wichtig, was sie transparent über die Sozialen Medien dokumentierten. Bei der Verleihung des Zalando Visionary Awards wurde dies besonders gewürdigt: „Wie die Marke um sich ein kollaboratives Netzwerk aufgebaut hat, fanden wir außergewöhnlich. Alle Beteiligten in der Herstellungs- und Lieferkette sind auch kreative Partner, die besucht werden und mit denen persönlich und auf Augenhöhe zusammengearbeitet wird.“

Seine Herbst/Winter-Kollektion 2024/2025 mit dem Titel „Cul-de-Sac“ (Sackgasse) konnte das Label dank der Pariser Fédération de la Haute Couture et de la Mode indessen im prestigeträchtigen Palais de Tokyo eingerichteten SPHERE-Showroom im Februar 2024 vorführen. Zuvor war das Designer-Duo zum zweiten Mal auf der Kopenhagener Modewoche offiziell zu Gast gewesen und hatte in seinen Entwürfen diverse Bezüge zu den prähistorischen Denkmälern von Stonehenge hergestellt, beispielsweise mit holografischen Runen. Laut dem Magazin „Grazia“ waren die Models „als sprichwörtliche New-Age-Reisende in Boheme-Erbstücken gekleidet“ gewesen. Die Verschmelzung von folkloristischen Prints und handgefertigten Strickwaren mit avantgardistischer Athleisure zeigte sich dabei besonders gelungen in strukturierten Tunikakleidern, die über bestickten Hemden getragen wurden. Dunkles Stonewash-Denim war unter plissierte Miniröcke getaucht. Es gab mythologische Röhrenoberteile, himmelblaue Musselinkittel, Regenbogentücher, moosgrün-gerippte Hemden oder auch Jersey-Trainingshosen. „Wir wollten unsere eigene neolithische Sackgasse schaffen, unseren eigenen Vorort Paolina Russo“, so die Designerinnen.