Die EM in Rom verläuft für Gina Lückenkemper ganz anders als die vorherige. Doch ein Rückschlag für Olympia sei das nicht, findet die Sprinterin des SCC Berlin. An einer Schwäche muss sie aber weiter arbeiten.

Die Goldmedaille für ihren 100-Meter-Sieg bei den Europameisterschaften 2022 in München braucht Gina Lückenkemper gar nicht herauszukramen und anzuschauen, um sich an den größten Triumph ihrer Karriere zu erinnern. Ein kurzer Blick auf ihr linkes Knie genügt. Dort ist die Narbe der Verletzung noch immer gut zu erkennen, die sie sich beim Zielsturz im höchst spektakulären Final-Finish zugezogen hatte. Mit ihrem beherzten Einsatz hatte Deutschlands beste Sprinterin damals gegen die Schweizerin Mujinga Kambundji und die Britin Daryll Neita den entscheidenden Mini-Vorsprung ins Ziel gebracht und in 10,99 Sekunden das ersehnte Gold gewonnen. „Ich fühle mich nicht schlecht, wenn ich mir die Narbe ansehe“, sagte Lückenkemper, „aber das brauche ich nicht zwingend noch mal“. Den Erfolg von damals hätte sie in Rom aber gern wiederholt: „Die EM hat einen hohen Stellenwert für mich und ich möchte hier ein neues Erfolgskapitel schreiben.“
„Das Niveau hat noch mal angezogen“
Das ist der Leichtathletin des SCC Berlin nicht ganz geglückt, sie reiste ohne Medaille wieder ab. Die 27-Jährige, die in München auch mit der 4x100-Meter-Staffel den Titel gewonnen hatte und damit zur Königin der Heim-EM aufgestiegen war, musste sich diesmal mit den Plätzen vier und fünf zufrieden geben. „Das Niveau im europäischen Frauensprint hat noch einmal angezogen. Es ist alles extrem eng“, sagte Lückenkemper wenig überrascht. Sie war aber nicht unzufrieden mit ihren Leistungen, auch wenn die Leichtathletin des SCC Berlin diesmal leer ausging. Nur wenige Hundertstelsekunden hatten in beiden Rennen zu den Podesträngen gefehlt, die minimalen Rückstände waren hinterher mit diversen Gründen zu erklären. Die wichtigste Botschaft aber ist: Lückenkemper ist auf einem guten Weg zu den Olympischen Spielen im August in Paris. Noch nicht in Topform, aber nahe dran. „Das große, übergeordnete Ziel sind die Olympischen Spiele, dort möchte ich mein erstes wirklich großes Finale erreichen“, betonte sie.
Für ihr großes Ziel muss sich Lückenkemper noch ein wenig steigern. Das ist aber keine Überraschung, sondern sogar trainingsmethodisch eingeplant. Es ist so etwas wie die Lehre aus der Vergangenheit, denn nicht selten war Lückenkemper im Vorfeld eines Großereignisses schneller unterwegs als genau dann, wenn es darauf ankam. Gerade bei Weltmeisterschaften und Olympia wenn die schnellen Frauen aus den USA und Jamaika sich zum europäischen Spitzenfeld dazugesellen, hat Lückenkemper bisher nicht wirklich überzeugt. Das soll in Paris anders werden. Deshalb hat sie die EM in Rom auch tatsächlich nur als eine Zwischenetappe angesehen. Auch wenn sie die Vorbereitung nicht in den USA, sondern in der Heimat absolviert hat und in Rom „voll angreifen“ wollte. Denn: „Olympiastadien liegen mir.“ Doch nach Silber 2018 in Berlin und Doppel-Gold 2022 in München verließ Lückenkemper das Olympiastadion der italienischen Hauptstadt ohne weiteres Edelmetall.
Im 100-Meter-Finale war sie in 11,07 Sekunden auf Rang fünf gesprintet. Dabei war sie gewohnt verhalten aus dem Startblock gekommen, holte ab Mitte des Rennens aber immer stärker auf. Für ein Happy End reichte es diesmal dennoch nicht, Silber und Bronze waren nur vier Hundertstelsekunden entfernt. Ein Fehlstart im Feld hatte ihre Nervosität vor Rennbeginn nicht gerade gemindert, im Gegenteil. „Mein zweiter Start war nicht so gut, ich bin meinem Körperschwerpunkt das ganze Rennen hinterhergelaufen“, meinte Lückenkemper: „Das wird im Sprint dann teuer.“ An ihrer großen Schwäche hat sie in den vergangenen Jahren hart gearbeitet, und ihr Start sei auch „schon besser geworden“, erklärte die gebürtige Westfälin, aber: „Dafür braucht es einfach Tausende Wiederholungen, um die Technik zu automatisieren.“ Mit einem besseren Start wäre Silber auf jeden Fall drin gewesen. Einzig die britische Favoritin Dina Asher-Smith, die im Halbfinale in 10,96 Sekunden europäische Jahresbestzeit gelaufen war und im Finale ebenfalls unter der magischen 11-Sekunden-Marke (10,99) blieb, schien an diesem Abend in Rom außer Reichweite für Lückenkemper. „Auf der anderen Seite freut es mich, dass ich auch mit einem schlechten Rennen 11,07 Sekunden laufen kann. Das lässt für Paris hoffen“, sagte sie. Die verpasste Medaille sei zwar „der Wermutstropfen“. Aber sie habe gewusst, „dass es ein ganz enges Finale wird“ und dass Kleinigkeiten entscheiden werden.
So auch beim späteren Staffelrennen. Nach der Disqualifikation des Schweizer Quartetts landeten Lückenkemper, Sophia Junk, Nele Jaworski und Rebekka Haase in 42,61 Sekunden auf dem undankbaren vierten Platz. Zum Bronzerang, den die Niederländerinnen belegten, fehlten den Deutschen 15 Hundertstelsekunden. Eine Zeit, die sie bei besseren Wechseln allemal hätten rausholen können. Vor allem der zweite Wechsel von Jaworski auf Lückenkemper war alles andere als optimal. „Die Mädels haben vorn einen sehr, sehr guten Job gemacht. Ich bin leider etwas zu spät losgelaufen. Denn Nele hat richtig einen gezündet und kam superschnell angeflogen“, erklärte Lückenkemper: „Meine Kurve war dann auch echt gut, aber beim Wechsel haben wir halt etwas liegengelassen.“
Für Olympia verzichtete sie auf die Halle

Insgesamt sei es aber „kein schlechtes Rennen“ gewesen, meinte Lückenkemper. Vor allem angesichts der Tatsache, dass nicht alle in der Staffel fit waren. Sie selbst und Rebekka Hase hätten „ein paar Probleme gehabt“, verriet Lückenkemper, „das macht die Aufgabe nicht einfacher“. Zudem hatte sich der Start von Jaworski erst beim Warm-up entschieden, da die gesetzte Lisa Mayer genau wie Jennifer Montag aufgrund muskulärer Probleme nicht zur Verfügung stand. Bei Olympia sollen möglichst die vier besten und vier fittesten Sprinterinnen an den Start gehen, dann ist vielleicht mit ein wenig Glück auch eine Überraschung möglich.
Das gilt speziell auch für Lückenkemper. Für ihren Olympiatraum hat sie nicht nur auf die Hallensaison in diesem Jahr komplett verzichtet, sie zog zudem die Zügel im Training in Florida unter Star-Coach Lance Brauman noch mal an. In Europa wird sie aktuell von Co-Trainer Keston Bledman begleitet. Die Unterstützung des Staffel-Olympiasiegers von 2008 in den wichtigen Wochen vor dem Höhepunkt in Paris wertet Lückenkemper als enorm hoch. „Es ist genial für mich, dass Keston diese Reise auf sich genommen hat. Er kennt das Geschäft und auch mich extrem gut und weiß, worauf es ankommt“, sagte sie: „Von daher ist er für mich die optimale Unterstützung.“
Jetzt muss sich das nur noch in Spitzenzeiten äußern. Lückenkemper war nur als Siebte der europäischen Jahres-Rangliste nach Rom angereist, die 11-Sekunden-Marke konnte sie nicht einmal knacken. Ihre Jahresbestzeit von 11,01 Sekunden war sie Mitte Mai bei ihrem dritten Einzelmeeting in Atlanta/Georgia gelaufen. Beim Meeting in Dessau-Roßlau hatte sie aufs Finale wegen leichter muskulärer Probleme sicherheitshalber verzichtet und danach kein Rennen mehr bestritten. Vielleicht war auch das ein Grund, warum es bei den Abläufen in Rom gerade beim Start nicht hundertprozentig passte.