Bei den deutschen Geräteturnerinnen ist der Kampf um den dritten und letzten Platz im Olympia-Aufgebot zu einem Kampf der Altersgruppen geraten. Elisabeth Seitz macht sich nach ihrem ausgeheilten Achillessehnenriss als selbsternannte „Turn-Oma“ ebenso Hoffnungen für Paris wie die fast nur halb so alte Teenagerin Helen Kevric.
Es kann nur eine geben: Der Kampf der deutschen Geräteturnerinnen um das dritte und letzte Ticket zu den Olympischen Spielen findet nach dem Highlander-Prinzip statt. Alleine zwischen der lange verletzt gewesenen Rekordmeisterin Elisabeth Seitz und Nachwuchshoffnung Helen Kevric fällt am vorletzten Juni-Wochenende bei der zweiten und letzten Olympiaqualifikation in Rüsselsheim (22. Juni) die Entscheidung, wer die die frühere Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz und Sarah Voss nach Paris begleiten darf.
Kevric geht mit Vorteilen ins Rennen
Der Zweikampf, der bei den Deutschen Meisterschaften zu Monatsbeginn in Frankfurt begonnen hat, ist auch ein Duell der Generationen: Seitz wäre nach drei Olympiateilnahmen, einem EM-Titel sowie mehreren Medaillen bei WM- und weitere EM-Wettkämpfen und 25 DM-Erfolgen geradezu als Fixpunkt im deutschen Team gegolten, hätte die 30 Jahre alte Stufenbarren-Spezialistin im vergangenen September nicht einem Achillessehnenriss erlitten. Zwar kämpfte sich die selbsternannte „Turn-Oma“ wieder heran, doch in der Zwischenzeit ist ihr das mit 16 Jahren beinahe nur halb so alte „Küken“ Kevric als EM-Vierte ebenfalls an den Holmen zu einer Herausforderin mit ernsthaften Ambitionen erwachsen.
Die Sympathien der Szene gehören zu einem ganz überwiegenden Teil Seitz. „Eli“, wie Teamkolleginnen und Fans die Dauerbrennerin oft liebevoll rufen, ist nicht zuletzt wegen ihrer neuen Konkurrentin bereits seit Monaten auf die zweigeteilte Olympiaqualifikation fokussiert. „Ich habe mir schon lange Gedanken zu meinen Übungen gemacht und natürlich einen Plan im Kopf. Ganz sicher ist aber nur: Rüsselsheim meine letzte Chance. Da geht es um alles“, ist sich die Stuttgarterin des Drucks sehr wohl bewusst.
Auf dem Weg zum Showdown stützte sich die Sportsoldatin auf das in vielen Jahren erworbene Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten: „Wenn mein Glaube daran, mich wieder für Olympia qualifizieren zu können, nicht so groß wäre, würde ich mich nicht jeden Tag in die Halle stellen.“ Scheitern ist somit auch keine Option. „Ich weiß, dass diese Möglichkeit bestehen könnte. Dieses Szenario lasse ich in meinem Kopf aber gar nicht erst zu. Deswegen versuche ich, solche Gedanken ganz schnell wieder beiseite zu schieben“, stellte Seitz nach monatelanger Schinderei in Krafträumen schon im Vorfeld der beiden Wettbewerbe klar: „Das würde nur Kräfte kosten, die ich fürs Training, fürs Besserwerden brauche.“
Erste Überprüfungen ihrer Fortschritte wagte die deutsche Vorturnerin, deren Karriere durch ihr Malheur vor mehr als sieben Monaten in der Vorbereitung auf die WM in Antwerpen kurzzeitig auf dem Spiel stand, im vergangenen April. In einem Bundesliga-Wettkampf für ihren Verein MTV Stuttgart kehrte Seitz an ihrem Paradegerät auf die Wettkampfbühne zurück und war trotz noch sichtbarer Unsicherheiten zufrieden: „Auch wenn meine Übung nicht optimal lief, bin ich happy. Ich hatte ein tolles Gefühl und jede Menge Spaß.“ Nur eine Woche später erreichte Seitz beim renommierten „Trofeo Citta di Jesolo“ in Italien bei ihrem internationalen Comeback nach einem überzeugenden Vortrag mit bereits weniger Schwächen als Dritte sogar das Podest. Ein echter Mutmacher, wie Seitz hinterher meinte: „Das ist ein Meilenstein Richtung Olympia gewesen.“
Solch erfreuliche Zwischenschritte des Publikumslieblings sind allerdings für die Paris-Ausscheidung ohne jede Bedeutung. Zur Bewältigung der beanspruchenden Stresssituationen in den beiden Wettkämpfen hat Seitz nicht zuletzt aufgrund ihrer enormen Erfahrung eine zweigeteilte Strategie entwickelt.
Mental will die Teilzeitstudentin „versuchen, mich nur auf mich selbst zu konzentrieren, auf mich zu vertrauen und mich nicht verrückt zu machen. Ich muss niemandem mehr beweisen, dass ich Barrenturnen kann, doch es ist alles offen, aber mir ist eigentlich nur wichtig, sagen zu können, dass ich alles gegeben haben und mir nichts vorwerfen kann“.
Im sportlichen Olympia-Rennen selbst setzt Seitz trotz der Möglichkeit von Starts in anderen Disziplinen alles auf eine Karte – Stufenbarren: „An diesem Gerät sind meine Chancen am besten, mich für Olympia zu qualifizieren. Die anderen Geräte sind Sprunggeräte und stellen ein höheres Risiko für meinen Fuß dar. Am Barren bin ich international konkurrenzfähig, ich habe WM- und EM-Medaillen an diesem Gerät gewonnen und war in drei Olympia-Finals. Ich weiß, wenn ich mich darauf konzentriere, ist alles möglich.“
Die nervenaufreibende Olympia-Ausscheidung ist nur teilweise auf den Trainingsunfall von Seitz zurückzuführen. Ohne ihre Riegenführerin verpasste die deutsche Mannschaft im Herbst bei der WM in Belgien die Paris-Qualifikation für den olympischen Mannschafts-Wettbewerb außerhalb der besten zwölf Teams, sodass für die deutschen Frauen statt der erwarteten fünf Olympia-Plätze nur drei heraussprangen. Nach den persönlichen Qualifikationen von Schäfer-Betz und Voss blieb für den Deutschen Turner-Bund (DTB) lediglich noch ein Quotenplatz – um den Seitz und Kevric sich nun duellieren müssen.
Für die Vergabe des dritten Paris-Fahrscheines haben Bundestrainer Gerben Wiersma und DTB-Sportdirektor Thomas Gutekunst „die Kriterien nachgeschärft“. Das Prinzip ist nach ihrer übereinstimmenden Ansicht „sehr klar“ und macht die finale Selektion hinsichtlich immer diskussionswürdiger „weicher Faktoren“ nahezu unangreifbar. Maßgeblich wird alleine die erturnte Gesamtpunktzahl sein, mit der eben Seitz oder Kevric nächstmöglich an einem theoretisch errechneten Prognosewert liegen, der in einem Einzelwettbewerb bei der WM im vorigen Jahr in Belgien jeweils zum Einzug in den Endkampf gereicht hätte. Nur im Falle von Gleichständen hätte Wiersma das letzte – allerdings vorgeschriebene – Wort durch Anwendung eines subjektiven Kriteriums: „Die Leistungsperspektive in Vorbereitung auf den nächsten Olympia-Zyklus“.
Karriere-Ende noch kein Thema
Übersetzt also muss Seitz, die den berechneten Prognosewert 2023 vor ihrer schweren Verletzung mehrfach erzielen konnte, ihre jugendliche Herausforderin Kevric für das Ticket nach Paris besiegen. Ihre weiteren nur schwer messbaren Pluspunkte wie Bekanntheitsgrad, Erfahrung und Stabilität in Wettkämpfen oder auch ihre unvergleichliche Erfahrung kann Seitz bei diesem Ausleseprozess nicht in die Waagschale werfen.
Paris würden für Seitz die letzten Sommerspiele sein. Eine weitere Olympiateilnahme ist für die Grande Dame des deutschen Kunstturnens laut eigener Aussagen trotz weiterer Ziele kein Thema: „Was ich sagen kann, ist, dass die Spiele 2028 in Los Angeles nicht mehr auf meiner Agenda stehen.“
Ein Aus in der Olympia-Ausscheidung oder spätestens die Spiele in Frankreich sollen aber noch keinesfalls der Schlusspunkt hinter ihrer beeindruckenden Karriere sein, wie Seitz auf Fragen nach Olympia als letztem großen Traum bereits erkennen lassen hat. „Mir war und ist am wichtigsten, dass ich selbst entscheide, wann ich einmal nicht mehr turnen werde und zurücktrete. Deswegen war für mich auch nach der Verletzung schon klar, dass es nicht mein Karriereende sein würde – ich hätte es nämlich nicht selbst bestimmt. Deswegen kann ich nicht sagen, ob Olympia in Paris mein letzter großer Traum ist. Ich möchte auf jeden Fall einen tollen Abschluss haben – wann und wie der sein wird, werde ich selbst entscheiden.“
Als erfolgreichste Teilnehmerin an deutschen Meisterschaften aller Zeiten wäre für Seitz womöglich 2025 mit dann 31 Jahren im Rahmen von nationalen Titelkämpfen der richtige Zeitpunkt für den endgültigen Abschied gekommen: „Jede Meisterschaft hat – ob mit Gold, einer anderen Medaille oder ohne Podiumsplatz – etwas ganz Besonderes für mich mit sich gebracht. Ich bin mir auch sicher, dass für mich weiterhin jede deutsche Meisterschaft ihre eigene Geschichte schreiben wird.“