Der US-Präsident hat nicht mehr viel Zeit, die Wahlkampf-Dynamik zu drehen
Das Bild ging um die Welt. US-Präsident Joe Biden steht beim G7-Gipfel Mitte Juni im süditalienischen Borgo Egnazia in der Gruppe der westlichen Staats- und Regierungschefs, die den Flug von Fallschirmspringern verfolgen. Alle blicken in die gleiche Richtung. Plötzlich schert Biden aus und entfernt sich von seinen Kolleginnen und Kollegen. Er sieht gedankenverloren aus und irgendwie nicht präsent.
Wieder einmal taucht die Frage auf: Ist der 81-jährige Biden mental und körperlich ausreichend fit, um den Job im Weißen Haus weitere vier Jahre zu bewältigen? Immer wieder gehen Videos in den sozialen Medien viral, in denen der US-Präsident geistesabwesend wirkt. In einer reizüberfluteten Gesellschaft, die sehr stark von der Optik lebt, ist die dahintersteckende Botschaft fatal. Bidens Herausforderer Donald Trump ist zwar nur gut drei Jahre jünger. Doch er kommt dynamischer rüber.
Noch beunruhigender ist, dass der Amtsinhaber seit Monaten in den Umfragen hinter seinem Konkurrenten liegt. An dem Trend hat auch die Verurteilung Trumps nicht viel geändert– ihm wird vorgeworfen, der Porno-Darstellerin Stormy Daniels Schweigegeld gezahlt und den Betrag nicht gesetzeskonform verbucht zu haben.
Die Lage ist noch bedenklicher, als Biden eine Reihe von schwerwiegenden Handicaps hat, die seine Flaute in den Umfragen zum Teil erklären. Zwar sind die Konjunkturdaten gut. Die Wirtschaft wächst in diesem Jahr vermutlich um knapp drei Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist so gering wie seit Jahrzehnten nicht. Und die Inflationsrate ging von mehr als neun Prozent auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie auf zuletzt 3,3 Prozent zurück.
Das Problem: Die gute Makro-Situation übersetzt sich nicht in die Lebenswirklichkeit vieler Amerikaner. Brot und Benzin sind deutlich teurer als vor Corona. Die Bauzinsen bleiben auf hohem Niveau, was den Traum vom Immobilienkauf – für US-Bürger eine wichtige Quelle des Vermögenszuwachses – oft platzen lässt. Trump macht für all dies Biden verantwortlich, ohne selbst Konzepte vorzulegen.
Hinzu kommt, dass der Präsident eine Herausforderung sträflich unterschätzt hat: In seiner Amtszeit ist die illegale Migration auf Rekordhöhen angewachsen. Viele Amerikaner sehen das mit großer Sorge. Für Trump ist dies willkommene Wahlkampfmunition. Seine Rezepte sind der Weiterbau der Mauer an der Grenze zu Mexiko sowie Deportationen im großen Stil. Bidens Konkurrent operiert mit hochfliegenden Versprechungen. Genauso wie beim Ukraine-Krieg, den er durch einen Blitz-Deal („innerhalb von 24 Stunden“) mit seinem autokratischen Bruder im Geiste Wladimir Putin beilegen will. In einer immer komplexeren Welt ist die Sehnsucht nach einfachen Lösungen groß: Trump bedient sie.
Doch damit nicht genug. Biden hat das zusätzliche Hindernis, dass ihm traditionell demokratische Wählersegmente wegbröckeln. Trump hat es geschafft, dass er bei Schwarzen und Latinos zunehmend auf Zustimmung stößt. Dies hat mit der allgemeinen Unzufriedenheit zu tun, die sich wie Mehltau über das Land gelegt hat. Viele werden von dem Gefühl geleitet, dass sich etwas Grundlegendes ändern müsse. Trump steht für eine derartige Disruption. Zudem hat Biden viele Jugendliche verärgert, da er ihrer Meinung nach im Gaza-Krieg nicht deutlich genug Position für die Palästinenser bezogen hat.
All diese Punkte sind bislang Leerstellen in Bidens Wahlkampf. Die Berater des Präsidenten gehen von der trügerischen Hoffnung aus, Trump mit zwei Kritikpunkten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zum einen mit dem Vorwurf, durch eine aufwiegelnde Rede habe der scheidende Präsident den Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 ausgelöst. Zum anderen, indem sie Trump als verurteilten Straftäter brandmarken.
Beides wird nicht ausreichen. Der Präsident muss seine politische Bilanz, die insgesamt recht ordentlich ist, mehr erklären und auf die Lebenssituation seiner Wähler übertragen. Und er muss eine Vision für die nächsten vier Jahre entwerfen. Chancen hierzu bieten die zwei Fernseh-Duelle gegen Trump am 27. Juni und am 10. September und der Nominierungs-Parteitag der Demokraten vom 19. bis zum 22. August. Noch hat Biden die Möglichkeit, die für ihn ungünstige Dynamik des Wahlkampfes zu drehen. Aber viel Zeit bleibt ihm nicht mehr.