Mit der Auflösung des Parlaments hat Präsident Emmanuel Macron viele französische Abgeordnete auf dem falschen Fuß erwischt. Am rechten Rand brach Chaos aus, während sich die Linke straff organisiert zeigt. Macron steht vor einer komplizierten Aufgabe.
Die ersten 72 Stunden nach den Europawahlen waren politisch wahrscheinlich die wildesten der vergangenen Jahre in Frankreich. Nach Medienangaben saßen Staatspräsident Emmanuel Macron und seine engsten Berater und Regierungsmitglieder zusammen, um die Konsequenzen der Europawahl zu besprechen. Die Zahlen waren ein Desaster für Macrons liberales Bündnis: Es erhielt 15 Prozent, die Konkurrenz des rechtsextremen Rassemblement National 32 Prozent, mehr als das Doppelte. Eine Niederlage, die dem amtierenden Präsidenten nun schon zum zweiten Mal nach 2019 auf europäischer Ebene zugefügt wurde. Damals lag das Ergebnis mit 23 zu 22 Prozent deutlich näher beisammen.
Freude aufseiten des RN ist riesengroß
Dass der Präsident daraufhin Neuwahlen der Legislative, der Nationalversammlung, ausrief, kam für die meisten außerhalb dieses Kreises überraschend. Und wenn man die entsprechenden Berichte verfolgt, war auch kaum jemand begeistert. Denn die Vorbereitungszeit auf die kommende Wahl ist extrem kurz, Kandidaten müssen aufgestellt, eine Strategie beraten, Bündnisse geschlossen, die Werbemaschinerie angeworfen werden. Zudem können sich viele Abgeordnete sicher sein, dass sie ihren Sitz verlieren werden – zugunsten der Rechtsextremisten, dies besagen jedenfalls Umfragen.
Der linke Flügel des Parlamentes hatte nach der geplatzten Bombe seine Richtung erstaunlich schnell gefunden. Trotz einiger Querschüsse des aufstrebenden linken Sterns Raphael Glucksmann von den Sozialisten verkündete Jean-Luc Mélenchon von der linkspopulistischen La France Insoumise (deutsch: „Das unbeugsame Frankreich“) eine „neue Volksfront“. Ein gemeinsames Programm sei in Vorbereitung, twitterte Mélenchon auf dem Kurznachrichtendienst X – zusammen mit den Sozialisten.
Der RN freut sich nach eigenem Bekunden riesig über seinen Erfolg und die Neuwahlen. Die Gelegenheit, einen rechtsextremistischen Regierungschef in einer sogenannten Kohabitation mit einem liberalen Präsidenten zu installieren, ist noch nie so greifbar gewesen wie heute. Der charismatische Parteichef Jordan Bardella, 28 Jahre jung, hat bereits sein Interesse angemeldet. Nun, im Vorfeld der Wahl, wollen die Parteien rechts der Mitte und ganz rechtsaußen ebenfalls auf den Gewinnerzug aufspringen. Allen vorweg der Chef der Républicains, Eric Ciotti. Er verkündete prompt im französischen Fernsehen, dass die Konservativen mit dem RN gemeinsame Sache machen und gemeinsam Kandidaten aufstellen müssten, ohne Konkurrenz zueinander. Begann die französische „Brandmauer“ der etablierten Parteien gegenüber Rechtsaußen zu bröckeln?
Ciotti aber hatte offenbar nicht mit dem heftigen Widerstand gerechnet: Was folgte, war ein Aufschrei in der Partei von Jacques Chirac und Charles de Gaulle. Er spreche nur für sich selbst, hieß es seitens des übrigen Parteivorstandes, der bereits unterwegs in die Pariser Parteizentrale war, um Ciotti abzusetzen. Der jedoch sperrte sich kurzerhand in dem Gebäude ein. Nachdem die Generalsekretärin einen zweiten Schlüssel organisiert hatte, konnte der Vorstand wie geplant zusammentreten, um Ciotti seines Amtes zu entheben und ihn sogar aus der Partei zu entfernen. Der denkt jedoch gar nicht daran, seinen Sessel zu räumen – ein Gericht hat nun die Absetzung vorläufig aufgehoben (Stand bei Redaktionsschluss, Anm. d. Red.), der Parteichef will dennoch weiter gemeinsame Sache mit den Rechtsextremen machen.
Ähnliches spielt sich am rechten Rand ab. Eric Zemmours Partei Reconquête („Rückeroberung“), der vor allem wegen seiner menschenverachtenden und rassistischen Hassreden rechts des RN steht, wirkte in einer Pressekonferenz reichlich überrascht, als Vize-Parteichefin Marion Maréchal ein Bündnis mit dem Rassemblement ankündigte. Maréchal, eine Nichte Marine Le Pens, und Bardella, der mit einer anderen Nichte Le Pens liiert ist, trafen sich, sprachen wohl „konstruktiv“ miteinander, wie es heißt. Dabei ging es offenbar auch um Zemmour, dessen zynische Hetztiraden nicht zu dem eher bürgerlich-gemäßigten Anstrich des programmatisch weiterhin rechtsextrem ausgerichteten RN passen. Doch der Parteigründer kam Maréchal zuvor: Der Parteiausschluss gegen sie und drei ihrer Parteifreunde ist schon vollzogen. Trotzdem möchte sie nach eigenem Bekunden weiter dafür kämpfen, eine gemeinsame rechtsextreme Wahlalternative mit gemeinsamen Kandidatenlisten auf die Beine zu stellen.
Ein formelles Bündnis kam also erst einmal nicht zustande. Das Chaos rechts der Mitte ist perfekt. Der Rassemblement National kann bequem all jene einsammeln, die, nachdem der Rauch sich verzogen hat, am Ende Mitglied im Gewinnerteam sein möchten. Denn diese braucht der RN letztlich doch noch, um in der Nationalversammlung mehrheitsfähig zu sein. Ohne die Abgeordneten der Républicains und von Reconquête wird Marine Le Pens Partei keine Mehrheit zustandebringen, auch nicht nach den letzten Umfragen. Diese sehen laut dem französischen Meinungsforschungsinstitut Ifop noch immer die Rechtsextremisten vorne, wie eingemeißelt bei 33 bis 35 Prozent. Damit wären sie zwar stärkste Kraft, würden aber nicht die Mehrheit an Abgeordnetensitzen im Parlament erhalten. Diese liegt bei 289, Projektionen sehen die Sitzanzahl für RN bei bis zu 265.
Ein Koalitionspartner wird für den RN also, Stand jetzt, mindestens nötig sein, natürlicher Partner wäre Réconquête, die jedoch derzeit Stimmanteile an RN verlieren; außerdem erinnern Parteichef Zemmour und seine Tiraden stark an Jean-Marie Le Pen, einen der Gründer des RN, Marine Le Pens Vater. Und genau den versuchen Partei und Parteichefin gerade vergessen zu machen.
Die linke Volksfront, das Bündnis aus La France Insoumise, Sozialisten und Grünen, kommt als zweitstärkste Kraft auf 30 Prozent, Macrons liberales Bündnis Ensemble auf nur 19 Prozent, die Republikaner auf neun Prozent, Reconquête auf 4 Prozent. Eine Prozenthürde wie im deutschen Wahlsystem existiert nicht; vielmehr müsste ein Kandidat mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten und die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang gewinnen, um sicher ins Parlament einzuziehen, ansonsten ist eine Stichwahl (7. Juni) vonnöten.
Bündnis der Mitte rund um den Präsidenten
Was Emmanuel Macron mit der Neuwahl bezweckt, ist nun zweierlei: Einerseits versucht er, den Höhenflug des RN und die Dynamik bis zur Präsidentschaftswahl 2027 zu stoppen. Das politische Gerangel am rechten Rand rund um die Kandidaten kommt ihm gelegen. National wird in Frankreich anders gewählt als bei EU-Parlamentswahlen; zwar ist auch diesmal keine Mehrheit für die Liberalen rund um Macron in Sicht, allerdings, und das ist das Entscheidende, auch nicht für den RN. Offensichtlich gelingt es diesem nicht, Mehrheiten zu organisieren, Macron dagegen schon. Das hat er trotz einer Minderheitsregierung bereits mehrfach bewiesen, auch wenn er in der Migrationspolitik sogar auf den RN zugehen musste.
Macrons zweites Kalkül: die Linke spalten. Das linke Wahlbündnis der vergangenen Wahl zur Nationalversammlung, NUPES, hielt bis kurz nach der Wahl. Schon jetzt versucht Macron, wegen einiger Äußerungen aus dem linken Lager zum Krieg in Gaza das Bündnis als antisemitisch zu brandmarken. Er versuche daher eine moderate Allianz gegen politische Extreme zu schmieden, auch, um eine rechtsgerichtete Präsidentin 2027 zu verhindern, so Macron auf einer Pressekonferenz. Also ein Bündnis aus moderaten Rechten und Linken, die er aus Flügelkämpfen und sicher gewähnten Wahlplattformen jedoch erst einmal herausbrechen müsste. Ein schwieriges Szenario, das jedoch laut „Le Monde“ lange insgeheim im Elysée-Palast vorbereitet worden war. Dieser Vorsprung muss Emmanuel Macron genügen, um seine Macht zu sichern und auszubauen. Sonst droht der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU, die nach wie vor höchst widerwillig auf Reformen reagiert, drei Jahre innenpolitisches Koma und außenpolitisch ein angeschlagener Staatschef.