Seit einem Vierteljahrhundert betreut die Theaterinitiative „aufBruch“ Aufführungen in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Aktuell führt das Gefangenen-Ensemble dort „Die Dreigroschenoper“ im Freistundenhof des Gefängnisses auf.
Kurz vor Schluss gibt Macheath, der Mann, den alle Mackie Messer nennen, dann doch auf. Eine letzte Rede noch vor der Endstation, dem Galgen: „Wir wollen die Leute nicht warten lassen. Meine Damen und Herren. Sie sehen den untergehenden Vertreter eines untergehenden Standes. Wir kleinen bürgerlichen Handwerker, die wir mit dem biederen Brecheisen an den Nickelkassen der kleinen Ladenbesitzer arbeiten, werden von den Großunternehmern verschlungen, hinter denen die Banken stehen. Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes? Mitbürger, hiermit verabschiede ich mich von euch.“
Gefangene spielen Schwerverbrecher
Wer „Die Dreigroschenoper“ kennt, weiß, dass Macheath da etwas voreilig ist mit seinem letzten Gruß. In wie vielen Aufführungen seit der ersten im Theater am Schiffbauer Damm am 31. August 1928 Mackie Messer bereits im letzten Moment gerettet worden ist, vermag wohl niemand zu sagen. Aber es scheint, als wäre diese Rede nie authentischer vorgetragen worden als an diesem kühlen Juniabend im Freistundenhof der Justizvollzuganstalt Tegel. Paul E., einer von denen, die hier inhaftiert sind, ist in die Rolle eines Inhaftierten geschlüpft. Ein Verbrecher wird zum Schauspieler, um einen Verbrecher zu spielen. Für einige Augenblicke wirkt es, als hätten Bertolt Brecht und Kurt Weill dieses Stück nur für diesen Ort und nur für diese Menschen hier geschrieben.
Gut zwei Stunden zuvor: Das Theaterpublikum schließt alle persönlichen Wertgegenstände in Schließfächer an Tor zwei ein. Keine Mobiltelefone, kein Geld, keine Kreditkarten, keine Kameras, keine Medikamente und – wie die Dame in Uniform vorm Betreten der JVA in schneidigem Ton mitteilt – „pro Nase nur ein Taschentuch“. Und einen Ausweis. Der wird kontrolliert und mit den Daten auf einer Liste verglichen. Statt des Ausweises gibt es für den weiteren Weg ins Innere des Gefängnisses eine Besucherkarte. Der Weg beginnt mit einer Leibesvisitation gegen die das Abtasten auf Flughäfen wie Kindergarten wirkt.
In kleinen Gruppen werden die Besucherinnen durch viele Türen, vorbei an vielen Käfigen und Gebäuden mit vergitterten Fenstern in den Freistundenhof geführt. Auf dem zertrampelten Rasen ist eine mehrstöckiges Bühnenbild aufgebaut, davor eine kleine Tribüne fürs Publikum. Die eigentliche Kulisse ist aber nicht die bemalte Stahl- und Bretterkonstruktion, sondern das Backsteingebäude, das man aus Gefängnisfilmen zu kennen glaubt und die Wand gegenüber, von der die Farbe bröckelt.
Und dann erklärt Muhammet, womit es beginnt: „Die Bettler betteln, die Diebe stehlen, die Huren huren. Ein Moritatensänger singt eine Moritat.“ Muhammet, ein Bär von einem Mann, hat die Rolle des Erzählers übernommen. Er wird sich immer wieder zu Wort melden in dieser Geschichte, in der ein dubioser Geschäftsmann und seine Frau versuchen, einen Schwerverbrecher an den Galgen zu bringen – nicht weil dieser Mann ein Einbrecherkönig, skrupelloser Gewalttäter und mehrfacher Mörder ist, sondern weil er das Herz ihrer Tochter gestohlen hat.
Jonathan Jeremiah Peachum und seine Frau Celia verdienen ihr Geld damit, Bettlerbanden auf die Straßen Londons zu schicken. Macheath räumt mit seiner Gang Wohnungen und Geschäfte leer und geht dabei über Leichen. Dass ihm nicht längst das Handwerk gelegt wurde liegt nicht an seinem Charme. Dem erliegen nur die Frauen. Es ist eine alte Freundschaft aus Armeezeiten, die ihn immer wieder davonkommen lässt: Mackie Messer ist befreundet mit Tiger Brown, dem Polizeichef von London.
„Da kann die Polizei nichts machen“
„Da kann die Polizei nichts machen“, wird Atak, der im Gewand des obersten Beamten steckt, deklarieren. Und irgendjemand auf der Tribüne lacht. Dort sitzen am Abend der Premiere auch einige Angehörige der Schauspieler und einige Männer, die bis vor Kurzem selbst noch hier eingesessen haben. Auch wenn Männer in Frauenkleidern Sätze sagen wie „Die Männer sind es nicht wert“, entbehrt das nicht einer gewissen Komik.
Wobei der Umstand, dass in einem Männergefängnis gestandene Kerle auch Huren, Ehefrauen und Töchter spielen müssen, nicht nur komisch, sondern vor allem mutig ist. Wenn er als Profi in so eine Rolle schlüpfen würde und die so engagiert verkörpern würde wie die Männer vom Gefangenenensemble der JVA Tegel, dann würde man ihm auf die Schulter klopfen und ihm zu einer grandiosen Leistung gratulieren, erklärt der Schauspieler Erdal Yildiz später auf der kleinen Premierenfeier hinter der Tribüne. Aber das hier ist nicht draußen, das ist drinnen. Und drinnen müsse ein Mann, der in Frauenkleidern Bein zeigt und sich auf der Bühne aufreizend bewegt, durchaus mit dummen Sprüchen oder bösartigen Bemerkungen rechnen.
Auch deshalb habe er „einen riesigen Respekt“ diesen Männern gegenüber, die für diese Aufführung über persönliche Grenzen gegangen sind, sagt der Mann, der gerade in der Netflix-Serie „Crooks“, das spielt, wofür er meistens besetzt wird: einen Verbrecher. Respekt hat er aber auch vor der schauspielerischen und gesanglichen Leistung der Männer. Bei einigen sei er sich sicher gewesen, dass die „von draußen“ kommen, also Profis sind, die für diese Inszenierung gebucht worden sind. Es sind aber nur die fünf Musiker der Band „17 Hippies“, die vom Gefängnistheater „aufBruch“ für die zwölf Aufführungen der Dreigroschenoper in der JVA engagiert worden sind.
Seit mehr als 25 Jahren arbeitet „aufBruch“ regelmäßig in der JVA Tegel, seit 18 Jahren auch in der Jugendstrafanstalt Berlin, seit elf Jahren in der JVA Plötzensee und vereinzelt bereits auch in der 2013 errichteten JVA Heidering – beides ebenfalls Berliner Justizvollzugsanstalten des geschlossenen Männervollzugs. Es gehe um die „künstlerische Vermittlung zwischen der Welt innerhalb der Gefängnismauern und derjenigen außerhalb“, sagt Produktionsleiterin Sibylle Arndt. Das Theater soll als „Denkanstoß und als Ausgangspunkt für eine respektvolle Begegnung zwischen Straftätern und der übrigen Bevölkerung“ dienen.
Der Denkanstoß Dreigroschenoper ist eine Mischung aus Dorfgasthof-Amateurtheater und großer Bühne. Eine faszinierende Spielfreude erkennt man bei allen, die auf dem Hof die Geschichte von Mackie Messer erzählen. Einige kämpfen mit dem wenigen Text, den sie haben, andere sind die, von denen Erdal Yildiz hofft, dass sie mit der Schauspielerei nicht aufhören, wenn sie wieder draußen sind. Paul E. zum Beispiel, der Mackie Messer spielt, etwas mehr noch Norman Jusef, der den gerissenen Geschäftsmann Peachum gibt – und vor allem der Mann, der Frau Peachum nicht nur spielt, sondern zwei Stunden lang zu sein scheint und im Programmheft als H. Peter Maier C. d. F. verzeichnet ist.
Er müsse ein Sänger sein, der im Gefängnis gelandet ist und nun dort eine neue Bühne gefunden hat, wird ihm auf der Premierenfeier gesagt. Nein, versichert er, er habe keine Gesangsausbildung. Aber vielleicht sei es bei ihm ja „wie bei einer alten Freundin“. Die sei Mezzosopranistin und habe ihm gesagt: „Mir hat ein Engel in die Kehle gepinkelt.“ Er lacht. Kurze Pause. Dann schiebt er nach: „Ich habe viele große Konzerte gegeben – unter der Dusche.“
„Die Dreigroschenoper“ ist das sechste Stück des Gefangenenensembles, in dem er mitspielt. Er habe also schon etwas Routine. Das einzige, was ihn immer wieder überrasche, sei die wundervolle Art, mit der es dem Team um Regisseur Peter Atanassow gelinge, die Rollen zu besetzen. Als man ihn für die Rolle der Frau Peachum ausgewählt hat, sei er sehr erstaunt gewesen. Aber er liebe diese Rolle. Man habe ihn auch nicht dazu überreden müssen, in ein Frauenkleid zu steigen. Alles an dem Mann mit der Glatze strahlt aus: Ich habe gerade einen Wahnsinns-Spaß.
Der Mann, der abwechselnd in die Rolle des Pastors und der Spelunken-Jenny schlüpft, hat auch eine Glatze, ist aber deutlich zurückhaltender als H. Peter Maier C. d. F. Ja, es habe ihn Überwindung gekostet, diese Frauenrolle zu spielen, aber nun sei er „erstaunlich entspannt“. Schließlich habe man lange geprobt: neun Wochen lang von montags bis freitags, manchmal auch samstags. Die größte Herausforderung seien die Lieder von Kurt Weill gewesen. Mit der Band habe man nämlich nur eine Woche proben können. Eine Band mit allem, was die so braucht, zu den Proben zu bringen, sei eben nicht so einfach, denn: „Das ist hier immer noch ein Gefängnis.“
Auf dem Freistundenhof haben sie eine Art Gefängniscontainer aufgebaut. In dem landet Mackie Messer gleich zweimal. Nachdem Peachum dem Polizeichef klargemacht hat, dass seine Karriere schnell beendet sein könnte, wenn er sich mit dem Bettlerimperium, das die Krönung der neuen Königin stören könnte, anlegt, ist sich Tiger Brown selbst der Nächste und lässt seinen alten Freund verhaften.
Die Huren liefern den Schwerverbrecher aus
Die Huren, zu denen er geht, anstatt aus der Stadt zu fliehen, wie er seiner Frau Polly Peachum versprochen hat, sind es, die ihn der Polizei ausliefern. Mackie Messer entkommt aus dem Knast und macht den Fehler ein zweites Mal: Er landet bei einer Hure im Bett, wird wieder verraten und hat bald den Strick um den Hals.
„Und der Haifisch, der hat Zähne. Und die trägt er im Gesicht. Und Macheath, der hat ein Messer. Doch das Messer sieht man nicht“, singen die Männer. Und: „Denn die einen sind im Dunkeln. Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Das Gefangenenensemble der JVA Tegel steht die letzten Minuten im Licht. Ein Bote des Königs verkündet, dass Mackie Messer nicht nur begnadigt ist, sondern in den Adelsstand erhoben und reich beschenkt wird.
Anders als im wirklichen Leben, erklärt Muhammet, der Erzähler, sei es hier in dieser Oper so, dass „Gnade vor Recht ergeht“. Einen Adeligen mit Geld akzeptiert das Ehepaar Peachum als Schwiegersohn. Alles ist gut. Mackie Messer ist frei. Paul E., der zwei Stunden lang dieser Mackie Messer war und es noch elf weitere Male sein wird, ist es nicht.