Spektakulärer als der VfL Bochum hat sich in der Relegation noch kein Verein gerettet. Doch in der kommenden Saison wird alles anders.
Die Rettung des VfL Bochum als kleines Fußball-Wunder zu beschreiben, ist keineswegs übertrieben. Mit 0:3 verloren die Westfalen als Drittletzter der Fußball-Bundesliga das Heimspiel der Relegation gegen den Zweitliga-Dritten Fortuna Düsseldorf. Im eigenen Stadion. Nachdem sie die beiden letzten Saisonspielen mit insgesamt 1:9 Toren verloren hatten. Und dieses vermeintlich leblose und hochgradig verunsicherte Team musste nun bei einer Fortuna mit mindestens drei Toren Unterschied gewinnen, die in den 14 Ligaspielen bis zum Saisonende ungeschlagen geblieben war und dabei die letzten sechs Heimspiele alle gewann.
Das Ende ist bekannt: Die Bochumer gewannen mit 3:0 nach 90 und 120 Minuten und schafften im Elfmeterschießen tatsächlich noch den Klassenerhalt. Eine spektakulärere Relegation hatte es bis dahin noch nicht gegeben. Absurd. Aber auch irgendwie typisch Bochum. „Beim VfL geht ohne Drama anscheinend gar nichts“, sagte Verteidiger Noah Loosli. Und die „FAZ“ schrieb, Bochum verkörpere „den Irrsinn des Fußballs wie kein anderer Club der Bundesliga“. Oberbürgermeister Thomas Eiskirch von der SPD sagte: „Dieser Verein macht einen fertig.“
Viele Unstimmigkeiten belasten den Club
Denn bevor sie in diese ausweglose Situation geraten waren, schienen die Bochumer schon zweimal quasi gerettet. Nach dem 22. Spieltag und einem 3:2 gegen den FC Bayern hatte der VfL neun Punkte Vorsprung auf den Relegationsplatz. Weil es in den kommenden sechs Spielen aber nur einen Punkt gab und den bei einem verspielten 2:0 daheim gegen das abgeschlagene Schlusslicht Darmstadt, musste der lange bejubelte Trainer Thomas Letsch gehen. Interimstrainer Heiko Butscher rutschte von der U19 hoch. Und nach zwei spektakulären Siegen, einem 3:2 gegen Hoffenheim am viertletzten und einem 4:3 bei Union Berlin am drittletzten Spieltag, schien Bochum schon wieder gesichert. Gingen sie doch mit vier Zählern Vorsprung auf den Relegationsplatz und neuem Schwung in die letzten beiden Spiele. Die wurden gnadenlos vermurkst und mit der Suspendierung des jahrelangen Stammtorhüters Manuel Riemann wegen interner Unstimmigkeiten negativ gekrönt.
Die letzte Volte dieser Saison war aber eine zum Guten. Und die Bochumer feierten diese auch ausgiebig im „Bermuda3eck“, einem der lebhaftesten Kneipenviertel Deutschlands. Sie hatten den dritten Klassenerhalt in Folge geschafft und den einstigen Mythos von den „Unabsteigbaren“ doch noch mal ein bisschen wiederbelebt. Doch nach dem Jubel folgte schnell die Erkenntnis, dass in Bochum trotzdem ein riesiger Umbruch anstehen wird. Butscher kehrte zurück zur U21, mit Peter Zeidler wurde schnell ein neuer Trainer verpflichtet. Sportchef Patrick Fabian einigte sich mit dem Verein auf eine Trennung. Dabei war der gerade mal 36-Jährige seit 24 Jahren im Verein. Und hatte immer eine Stehaufmännchen-Mentalität gezeigt. Laut seines Vereins ist er der einzige deutsche Profi, der nach vier Kreuzbandrissen ein Comeback schaffte. Ein Nachfolger für ihn steht noch nicht fest, Sportdirektor Marc Lettau blieb im Amt.
Und dann folgte die Mannschaft. Gleich zehn Spieler wurden schon vier Tage nach dem Relegationsrückspiel verabschiedet. Darunter in Kevin Stöger, Keven Schlotterbeck und Takuma Asano die drei besten Saison-Torschützen nach Auslauf der Verträge. Und diese Abgänge schmerzen. Asano, Siegtorschütze beim 2:1 Japans bei der WM 2022 gegen Deutschland, war eine wichtige Offensivstütze. Schlotterbeck, Bruder von Nationalspieler Nico, war in der Schlussphase zu einer Art emotionalem Anführer geworden. Und was für eine geniale Saison der in Düsseldorf überragende Stöger bei einem Fast-Absteiger spielte, verdeutlichen die Daten. Denn der 30 Jahre alte Österreicher, der künftig für Mönchengladbach spielt, bereitete 127 Torchancen vor. Das sind die meisten in den Top-Fünf-Ligen Europas – also England, Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland – und ist der absolute Top-Wert seit Erfassung dieser Daten in der Bundesliga. Seine neun direkten Torvorbereitungen waren die fünftmeisten der Liga, seine fünf Assists durch Standards übertraf nur Hoffenheims Jan-Niklas Beste. Auch schlug Stöger die meisten Flanken in den Strafraum und die meisten Pässe in die gefährliche Zone.
Zeidler schreckt Umbruch nicht ab
Weitere Abgänge: Der verheißungsvolle Patrick Osterhage wechselt zum SC Freiburg, der Vertrag von Philipp Förster wird nicht verlängert, gleiches gilt für Moritz Römling. Der ausgeliehene Goncalo Paciencia kehrt zu Celta Vigo zurück. Danilo Soares wechselt nach sechs Jahren zum Zweitligisten 1. FC Nürnberg. Dazu beenden die beiden Torhüter Andreas Luthe (37) und Michael Esser (36) ihre Karrieren, was dafür sorgt, dass der VfL bei einer endgültigen Trennung von Riemann ein komplett neues Torhüter-Trio bräuchte. Und dann ging auch Christopher Antwi-Adjei, den der Verein zunächst bewusst nicht verabschiedete, bevor die Trainer-Entscheidung gefallen war.
Zeidler schreckte dieser Umbruch nicht ab. Er sah ihn wohl im Gegenteil als Chance. Und im Gegenzug erscheint die Entscheidung des VfL als ungewöhnlich, aber kreativ und vielversprechend. „Er ist ein Fußball-Liebhaber mit viel Energie und Emotionalität“, erklärte Geschäftsführer Ilja Kaenzig, der mit dem Schwaben bereits beim FC Sochaux in Frankreich zusammenarbeitete: „Er ist ein spannender Trainer, eine spannende Persönlichkeit, jemand mit einer klaren Idee.“ Zeidler ist, was viele gar nicht wissen, sogar ein Macher des sensationellsten Herbstmeisters der Bundesliga-Geschichte. 2008 war er nämlich kongenialer Assistent von Ralf Rangnick, als dieser die TSG Hoffenheim nach dem Aufstieg in die Bundesliga gleich zum Tabellenführer nach der ersten Halbserie machte. Danach wurde Zeidler Cheftrainer, bekam trotz hier und da verbürgten Interesses wie aus Bremen, Köln oder schon einmal Bochum aber nie eine Chance in der Bundesliga. So trainierte er seit 2011 Sochaux und Tours in Frankreich, den FC Liefering in Österreich und zuletzt sechs Jahre lang den FC St. Gallen in der Schweiz, mit dem er zweimal Vizemeister wurde.
Ein bisschen Fußball-Romantik
Nun kriegt er, mit schon 61, doch noch die Chance in der Bundesliga. Diese habe ihn natürlich immer fasziniert, gab er zu: „Auch als Trainer im Ausland schaut man am Samstag um 15.30 Uhr zu, wenn es die Zeit zulässt. Es gab immer wieder Anfragen. Aber diese konkrete Anfrage von diesem besonderen Club kam zum richtigen Zeitpunkt.“ Und es ist eine mit Potenzial und Risiken. Wichtig beim personellen Umbau ist nämlich in Bochum mehr als bei den meisten anderen Vereinen, dass das Team zum Verein passt. In Bochum machen sie eben tendenziell weniger, wie in der legendären Hymne von Herbert Grönemeyer besungen, „mit nem Doppelpass jeden Gegner nass“. Sie arbeiten Fußball. Leidenschaftlich, volksnah, authentisch, das meiste davon befeuert von der wunderbaren altehrwürdigen Arena an der Castroper Straße. Das macht den VfL für viele zu einer der letzten Oasen im Profifußball. Doch eine Chance auf den dauerhaften Verbleib haben sie eben auch nur dann, wenn sie sich auf ihre Tugenden besinnen und sie verkörpern. Und so ist momentan der Spagat der wichtigste, sich mit jedem Jahr in der Bundesliga zu entwickeln und dabei immer mehr an den heutigen Profifußball anzupassen – ohne die eigene Identität zu verleugnen oder zu verlieren. Es ist sicher kein Zufall, dass der VfL nach dem Bayern-Spiel noch abstürzte, als er im Gefühl des sicheren Klassenerhalts wohl einerseits manchmal zu schön spielen wollte und andererseits für kurze Zeit ein wenig vom Zusammenhalt im Team verlor.
Es war ein harter Aufprall, aber auch eine wichtige Lehre. Und Zeidler sprach gleich bei seiner Vorstellung ein wichtiges Commitment aus, als er erklärte, er habe sich auch vorstellen können, im Falle des Abstiegs zu kommen. „Aber ich bin natürlich froh, dass der VfL weiter im Konzert der Großen mitspielen darf.“ Und die Beschreibung seiner Philosophie klang wie für Bochum gemacht. „Der Zusammenhalt und das Wir-Gefühl spielen eine große Rolle“, sagte er: „Ich habe klare Vorstellungen und Prinzipien, wie ich spielen lassen möchte. Der Teamgedanke steht aber über allem.“
Damit der VfL Bochum auch nach einer Saison mit unerwarteten Höhen und Tiefen, einem unvergesslichen Happy End sowie einer kompletten Runderneuerung immer noch der VfL Bochum ist.