Durch den bisherigen Saisonverlauf geht Tadej Pogacar als Favorit in die diesjährige Tour de France. Gelingt dem Giro-Gewinner das historische Double? Drei Topfahrer haben etwas dagegen.

Im Publikum wird gekichert, und auch Jan Ullrich lächelt süffisant. „Sind heute alle sauber?“, will Sportstudio-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein vom einstigen Radstar wissen. Ullrich, der einen in Deutschland beispiellosen Absturz durch Doping und Drogen hinter sich hat, zögert mit der Antwort. Die Wahrheit kennt natürlich auch er nicht. Doch er hofft zumindest auf einen Wandel in der Szene. „Ich glaube, dass es heute nicht mehr flächendeckend möglich ist, zu dopen“, sagt der heute 50-Jährige, „weil ich glaube, dass die neue Generation aus unseren Fehlern gelernt hat. Und ich glaube, dass der Radsport – es sind ja viele schlaue Leute am Werk – weiß, dass er so etwas nicht nochmal verkraften würde, was wir damals hatten.“ Keine Frage: Seit den dunklen Radsport-Zeiten um Ullrich, Lance Armstrong und Co. fährt der Verdacht im Radrennsport immer mit. Auch bei der Tour de France. Vor allem bei der Tour de France.
Die enormen Leistungen und Rekord-Werte vor allem der heutigen Topfahrer um die zweimaligen Tour-Gewinner Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar während des dreiwöchigen Spektakels rufen zweifelsohne Skepsis hervor. Doch Ullrich bittet um einen Vertrauensvorschuss. „Es ist wichtig, mit Adleraugen auf diesen Radsport zu schauen. Allerdings sollten wir ihn uns auch nicht kaputt machen lassen. Es ist ein wunderbarer Sport und die jungen Sportler sollten eine Chance bekommen“, sagt der Tour-Gewinner von 1997: „Ich gebe den Jungs eine Chance.“ Die höhere Professionalität und bessere Technik könnten die Leistungssprünge erklären, meint Ullrich. Und wenn auch die heutige Generation lügt und betrügt? „Wenn etwas wäre“, sagt er aus eigener Erfahrung, „kommt es raus“.
Doping oder neue Stärke?

Bei der am 29. Juni in Florenz startenden 111. Ausgabe der Tour de France ist Jan Ullrich wieder dichter dran am Geschehen. Nach seiner Doping-Beichte, den bewegenden Dokumentationen bei Amazon Prime („Der Gejagte“) und ARD („Held auf Zeit“) wird der einst tief gefallene Star wieder ein Stück weit in die Radfamilie aufgenommen. Bei den zwei Etappen am 2. und 3. Juli wird er als Studiogast des TV-Senders Eurosport in der Sendung „Velo Club“ das Renngeschehen einordnen. „Die Tour de France hat mein Leben geprägt und dominiert– mit allen Höhen und Tiefen – und wird mich mein ganzes Leben begleiten“, sagt Ullrich: „Der Radsport ist nach wie vor meine große Liebe. Hier bin ich in meinem Metier. Gerne möchte ich etwas zurückgeben und meine Erfahrungen weitertragen.“

Als guter Freund von Tadej Pogacar kann Ullrich vielleicht auch Insiderwissen vermitteln. Der Slowene geht als großer Favorit an den Start, er sei „ein Ausnahmefahrer“ wie einst der fünfmalige Tour-Sieger Eddy Merckx, meint Ullrich. In den vergangenen zwei Ausgaben musste sich Pogacar aber seinem großen Widersacher Vingegaard geschlagen geben, im Vorjahr wurde er mit einem Rückstand von siebeneinhalb Minuten vom Dänen fast schon gedemütigt. Doch in diesem Jahr stehen die Vorzeichen anders – wenn es denn überhaupt zum großen Showdown der beiden Ausnahmekönner auf dem Rad kommt. Vingegaards Start war bis Redaktionsschluss noch offen. Nach seinem schweren Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt, wo er sich das Schlüsselbein, mehrere Rippen und einen Finger brach sowie eine Lungenquetschung und einen Pneumothorax davontrug, hatte der 27-Jährige zwar das Training wieder aufgenommen. Doch sein Team Visma-Lease a bike ließ zunächst offen, ob der Titelverteidiger in Florenz an den Start gehen kann. Seine Teilnahme an den olympischen Radrennen in Paris hatte Vingegaard Anfang Juni abgesagt.
„Das möchte natürlich jeder wissen, wir auch“, sagte Cheftrainer Mathieu Heijboer. Immerhin konnte Vingegaard im Höhentrainingslager in Tignes in die Pedale treten, „es fängt langsam an, wie normales Training auszusehen“, urteilte sein persönlicher Trainer Tim Heemskerk. Das seien Anzeichen dafür, dass Visma mit dem Zögern nur bluffen wolle, meinte Sportdirektor Joxean Matxin von Pogacars Team UAE Emirates. „Überall lese ich, dass er seit Wochen hart arbeitet. Nein, ich bin sicher, dass Jonas bei der Tour am Start stehen wird. Und zwar in Top-Form“, sagte Matxin: „Und selbst wenn er zum Start nur bei 95 Prozent sein wird, heißt das nichts. Jonas ist ein Fahrer, der während der Tour stärker wird. Vor allem bei so einer Tour mit so einer harten letzten Woche wäre das kein unüberwindbares Problem.“
„Mehr oder weniger der perfekte Giro“

Es ist zumindest davon auszugehen, das Vingegaard, der nach seinem Horror-Sturz fast zwei Wochen im Krankenhaus verbringen musste, alles für einen Tour-Start und die Chancen auf den Titel-Hattrick gibt. Doch das werde so oder so nicht reichen, sagte Matxin mit Blick auf seinen Topfahrer selbstbewusst: „Das ist der beste Pogacar, den ich je gesehen habe.“ Die Ergebnisse bestätigen das. Pogacar ist der Dominator der bisherigen Saison, sein famoser Sieg beim Giro d’Italia war eine Machtdemonstration der allerersten Güte. „Es war mehr oder weniger der perfekte Giro“, sagte Pogacar, der von Tag zwei an bis zum Ende im Rosa Trikot des Gesamtbesten fuhr. Insgesamt sechs Tagessiege und ein Rekord-Vorsprung von 9:56 Minuten auf den Zweiten Daniel Martinez vom deutschen Team Bora-hansgrohe unterstrichen Pogacars Topform. Aber konnte er diese auch konservieren? Das ist die große Frage. Pogacars größter Gegner bei der Frankreich-Rundfahrt scheint aktuell er selbst zu sein.
Seit Marco Pantani 1998 ist es keinem Menschen mehr gelungen, die Tour und den Giro in einer Saison zu gewinnen. „Ich bin für diese neue Herausforderung bereit“, sagte der 25 Jahre alte Slowene: „Ich bin jetzt älter und ich denke, dass ich zwei große Touren bewältigen kann.“ Sein Selbstvertrauen ist so groß, dass er in Italien nicht einmal auf die Idee kam, an der ein oder anderen Stelle nachzugeben und Kräfte zu sparen. Er fuhr alles in Grund und Boden. „In diesem Giro geschah es eben einfach so“, sagte Pogacar lapidar. Sich selbst auszubremsen kommt für ihn überhaupt nicht infrage. „Es sollte ein guter Test für den Sommer werden. Das ist mir gelungen, deshalb bin ich glücklich.“ Auch deswegen ließ er das Critérium du Dauphiné und die Tour de Suisse als weitere Vorbereitungsrennen aus.

Wer kann Pogacar auf seinem Weg zum dritten Triumph nach 2020 und 2021 überhaupt stoppen? Vingegaard wäre mit Sicherheit ein ebenbürtiger Gegner, sollte der Däne sich zu einem Start entscheiden. Doch selbst wenn: Es würden Zweifel an seiner absoluten Rennfitness bleiben. Seit dem Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt im April hat er kein Rennen mehr bestritten, nur im Training allein lassen sich die dynamischen Wechsel einer schweren Etappe nicht üben. Und wirklich Zeit zum Einrollen gibt es für Vingegaard auch keine, die Tour startet in Florenz gleich mit einer Länge von 206 Kilometern und einem Höhenunterschied von 3.600 Metern durch die hügelige Toskana. Im anspruchsvollen Profil haben die Organisatoren unter anderem sieben Bergetappen, zwei Einzelzeitfahren und eine Schotter-Etappe rund um Troyes eingebaut. Ein fitter Vingegaard würde sich darauf freuen – aber wie fit ist der Tour-Sieger der vergangenen zwei Jahre?
Evenepoel scheitert in den Bergen
Sollten die beiden Topfavoriten schwächeln, lauert Primoz Roglic auf seine Chance. Der 34 Jahre alte Slowene ist seit dieser Saison Kapitän des deutschen Teams Bora-hansgrohe, das bei der Tour voll auf die Gesamtwertung setzt. Roglic soll aufs Podium fahren – mindestens. Doch auch der Olympiasieger von 2020 war in den Massensturz bei der Baskenland-Rundfahrt involviert, wenn auch nicht so schlimm wie Vingegaard. Roglic verlor zwar wertvolle Zeit in der Tour-Vorbereitung, zeigte sich beim Critérium du Dauphiné aber in guter Form. Zum zweiten Mal gewann er die Generalprobe für die Frankreich-Rundfahrt– wenn auch nur mit einem knappen Vorsprung von acht Sekunden auf Matteo Jorgensen aus den USA. „Für mich ist es etwas verrückt, die Dauphiné zu gewinnen, bei allem, was zuvor passiert war“, sagte der Routinier. Er habe „definitiv gelitten. Da liegt noch Arbeit vor uns. Die Dauphiné ist die eine Sache, die Tour eine andere.“ Immerhin war Roglics Form deutlich besser als die von Remco Evenepoel, dem vierten Mitfavoriten für die Tour. Der 24 Jahre alte Belgier, von fast allen Experten als Tour-Sieger der Zukunft gehandelt, konnte in den Bergen nicht mithalten und landete im Gesamtklassement nur auf Rang sieben – noch hinter Roglics Edelhelfer Aleksandr Vlasov.

Evenepoel war am fünften Tag zudem in einen Massensturz verwickelt, es war nicht das erste Sturzpech für ihn in dieser Saison. Außerdem deutete sein Teamchef leichte Gewichtsprobleme an, der zweimalige Gewinner von Lüttich-Bastogne-Lüttich sei erst bei „85 Prozent“ seiner Topform. Das wird sicher nicht reichen, um bei seiner Tour-de-France-Premiere am Ende im Gelben Trikot zu landen. Doch die letzten Wochen dürfte auch Evenepoel genutzt haben, um den Rückstand vor allem zu Pogacar aufzuholen. Der hat sich aber für den zu erwartenden Angriff von gleich drei großen Rivalen gerüstet: Das UAE-Team ist im Vergleich zu den Vorjahren, als Pogacar in den Bergetappen schon früh auf sich alleine gestellt war, qualitativ besser besetzt. Die Kletterer Adam Yates und Joao Almeida haben bei der Tour de Suisse einen herausragenden Eindruck hinterlassen. Nils Politt, Tim Wellens, Marc Soler waren beim Critérium du Dauphiné ebenfalls gut unterwegs.
So oder so: Der Mann im Gelben Trikot wird auf der Schlussetappe anders als sonst keine Spazierfahrt haben. Denn diesmal endet die Tour aufgrund der Olympischen Spiele nicht auf der Avenue des Champs Élysées in Paris, sondern in Nizza. Der offiziell nicht im Regelwerk festgeschriebene Nichtangriffspakt ist aber auch deshalb außer Kraft gesetzt, weil zum Schluss ein Einzelzeitfahren über 33,7 Kilometer angesetzt ist.