Die thüringische Kreisstadt hat eine beeindruckende Theater-Vergangenheit – und etwas davon in die Gegenwart gerettet. Im Juli und August lädt die Stadt zum Festival „Grasgrün“.
Dieser ganz besondere Klang erfüllt am Sonntagvormittag die ganze Stadt. Er ist mächtig, würdevoll und macht Gänsehaut. Es sind immerhin fünf von sechs Glocken der Stadtkirche Meiningen St. Marien, deren Vollgeläut über den Marktplatz zieht. An den alten Fachwerkhäusern prallen die Töne zurück und ziehen dann fast zehn Minuten Glockenschlag für Glockenschlag weiter durch die kleinen Gassen. Der Hall durchdringt die Thüringer Residenzstadt mit ihren prächtigen Renaissancefassaden und Fachwerkbauten.
„Die über 1.000 Jahre alte Stadtkirche gehört zu den ältesten Gebäuden der Stadt. Sie präsentiert unsere Stadtgeschichte und ihre Orgel die Meininger Musikgeschichte“, berichtet Stadtbotschafterin Susanne Klapka. „Auch Johannes Brahms und Max Reger spielten auf der Orgel. Heute heißt unsere Orgel Reger-Orgel. Nicht, dass Max Reger sie gebaut hätte, aber er trug zur wesentlichen Entwicklung der Orgel bei und komponierte in seiner Meininger Zeit (1911 – 1914) darauf bedeutende Orgelwerke.“ Jedes Jahr wird im Sommer die Orgel zu einem Magneten internationaler Organisten.
Vom 3. Juli bis zum 28. August erklingen klassische Orgelwerke auch schon mal mit anderen Begleitinstrumenten wie dem Saxofon. Moderne Klassiker aus Pop, Rock und Filmmusiken interpretiert Michael Schütz in seinem Programm „Beatles, Stones und Stars Wars“ auf der Orgel und das in der besonderen Atmosphäre der dreischiffigen Hallenkirche. „Dieser Orgelsommer ist bei weitem nicht der einzige Programmpunkt unseres Meininger Sommerkultur-Festivals ‚Grasgrün‘“, betont Frank Heinecke, Projektleiter des Kultursommers der Stadt Meiningen. Wenn andere Städte in den Sommermonaten regelrechten Kultururlaub machen, bleibt Meiningen weiterhin kulturell aktiv.
Beatles und Stones auf der Orgel
Seit 14 Jahren gestaltet die Stadt das Festival mit Theater, Konzerten, Filmen und Ausstellungen. Seitdem entwickelten sich die Festwochen immer mehr zu einem thüringischen Highlight für Bewohner und Gäste. Der frische, illustrative Festivalname assoziiert Open-Air-Veranstaltungen. Und tatsächlich wird der bildhaft schöne Innenhof des Schlosses Elisabethenburg zum Hauptspielort mit Bühne und Leinwand. Das Schloss, einstmals Regierungssitz des Herzogtums Sachsen-Meiningen und Sitz des „Theaterherzog“ Georg II., hatte bis ins 19. Jahrhundert für die kulturelle Entwicklung der Residenzstadt eine wesentliche Bedeutung.
„So passt der Rahmen hervorragend zu unseren besonderen Programminhalten, die nicht unbedingt immer den Mainstream bedienen, aber das Publikum immer wieder hoch begeistern“, so Frank Heinecke. Ein musikalisches Highlight verspricht das Konzert „ Characters 24“ mit der Weimarer Sängerin Constanze Friend und Thomas Fellow (Gitarrist). Ihre Musik ist ein Mix, mal Jazz oder Country, aber immer Blues. Auch deshalb bringen Kenner ihren Stil mit Ray Charles und Luther Allison in Verbindung. Friend‘n Fellow gastiert weltweit in Europa, Asien und den USA. Und auf die Frage nach Meiningen antwortet Thomas Fellow: „Auch wenn wir in den letzten Jahren diese schöne Stadt eher selten musikalisch besucht haben, so erinnern wir uns gern an viele Konzerte Ende der 90er-Jahre und in den Jahren danach und dann unser letztes Konzert vor einigen Jahren open air vor der Elisabethenburg im Rahmen des MDR-Musiksommer. Insofern ist es ein sehr willkommenes Zurückkommen.“
Jeanine Thürbeck, Geschäftsführerin der Meiningen GmbH, weist auf das erste Weinfest in Meiningen während des Festivals hin. Natürlich mit Weinen aus vielen Anbaugebieten Deutschlands und dem Saale-Unstrut-Gebiet. Wenn der Sommer sich dann dem Ende zuneigt, Konzerte und Kino, Oldtimerrennen und Weinfest vorüber sind, neigt sich auch der Kultursommer dem Ende entgegen. Nicht ganz, denn was wäre ein Festival ohne Veranstaltung im Meininger Staatstheater, der Wiege der Kulturgeschichte Meiningens? Im Großen Haus des historischen Theaters findet zum Ende des Festivals eine Jazz-Session mit Trompeter Rüdiger Baldauf & Friends statt. Dann hat längst die neue Spielzeit des Meininger Staatstheaters begonnen und das Meininger Kultur-Karussell geht weiter.
23 Premieren offeriert der Spielplan 2024/25. In den unterschiedlichen Sparten darf man auf besondere Highlights in der kommenden Spielzeit gespannt sein, etwa im September im Musiktheater auf „Don Carlos“, im Schauspiel auf „Der große Gatsby“ im November. Das Ballett zeigt „Cinderella“ von Sergei Prokofjew im März 2025. Das Junge Theater spielt „Woyzeck“.
Das Meininger Theater blickt auf eine spektakuläre Theatergeschichte zurück. Ab 1874 ging man mit den Schauspielern, Kulissen und Requisiten auf Reisen. 2.877 Vorstellungen auf 81 Touren – und das erfolgreich in 38 Ländern. „Die „Meininger“, so wurde das Ensemble damals genannt, schrieben internationale Theatergeschichte“, unterstreicht Clara Fischer, Leiterin Kommunikation des Theaters. Es wurden in Deutschland unzählige Stätten bespielt, aber auch in Basel, Budapest, Wien, Königsberg, Sankt Petersburg, Stockholm, Kopenhagen, Amsterdam, London, Brüssel und Straßburg.
Aus dem 19. Jahrhundert befindet sich ein großer Fundus an historischen Bühnenbildern, Requisiten und Kostümen im Meininger Theatermuseum, in der früheren herzoglichen Reithalle. Aktuell zeigt das Museum erstmals das gerade restaurierte historische Bühnenbild einer Inszenierung von Schillers „Die Räuber“. Das Bühnenbild, eine Gartenszene gemalt um 1876, ging danach mit dem Stück zwei Jahre auf Tournee. Bedenkt man die logistischen Herausforderungen in der Zeit, sind die Tournee-Leistungen bis 1890 doppelt zu würdigen.
Von Thüringen aus in die Welt des Theaters
Herzog von Sachsen-Meiningen Georg II. (1826 – 1914) war der Macher und Visionär in dieser Zeit. Ihm sind Theater-Reformen zu verdanken, die letztendlich die europäische Theaterlandschaft prägten. Er schuf eine neue Form des Regietheaters, hielt sich an die Autorenvorlagen, erarbeitete die Stücke zusammen mit den Schauspielern und skizziert selbst Bühnenbilder und Kostüme. Er brachte Stücke von Shakespeare, Schiller oder Kleist auf die Bühne und förderte mit den Aufführungen ihrer Dramen unter anderem Ibsen und Strindberg. Zwar hatte der „Theaterherzog“ das Musiktheater an seinem Hof aus Kostengründen abgeschafft. Aber da war noch die bekannte Meininger Hofkapelle.
1690 in der Residenzstadt Meiningen gegründet, avancierte diese im 19. Jahrhundert, als separater Klangkörper, zu internationaler Größe. Richard Wagner selbst rekrutierte 1876 sogar Meininger Musiker für das Bayreuther Festspielorchester. Als 1880 Hans von Bülow die Hofkapelle übernahm, entwickelte dieser ihre hohe Qualität weiter und spielte ein modernes Repertoire – unter anderem der damals jungen Komponisten List und Wagner. Auf von Bülow folgte 1885 Richard Strauss und führte die 4. Sinfonie von Johannes Brahms in Meiningen auf. Auch der nachfolgende Hofkapellmeister Max Reger entwickelte die Meininger Kapelle entscheidend weiter und machte sie weiterhin über die Grenzen Meiningens hinaus bekannt.
Diese Kunst- und Kulturhistorie gehört zur DNA der Stadt. Nur so kann man das anspruchsvolle und ehrgeizige Kultur- und Kunstengagement der Stadt verstehen. Und das über das ganze Jahr. Allein das Theater mit seinen über 500 Aufführungen besuchten im letzten Jahr etwa 160.000 Zuschauer. In die Stadt reisten insgesamt über 23.000 Personen, um die Vielzahl der Veranstaltungen der Stadt wie das Festival, die Architektur und die Landschaft zu genießen. Mit dem kulturellen, erstaunlich vielfältigen und qualitativ hochwertigen Portfolio muss sich die Stadt zwischen Weimar und Bayreuth nicht verstecken. Vielleicht sollte die sechste Glocke von St. Marien in das Vollgeläut miteinstimmen, um noch mehr über die Stadtgrenzen und Thüringen hinaus laut und nachhaltig auf Meiningen aufmerksam zu machen. Es lohnt.