Rotterdam liegt zu 85 Prozent unter dem steigenden Meeresspiegel. Die Stadt verstärkt Deiche, sammelt Regenwasser von den zahlreichen Flachdächern, baut Wasserspeicher unter Plätzen, neue Parks, schwimmende Büros, Dachgärten und setzt auf Kreislaufwirtschaft.
Aufs Klo der Zukunft geht es in den Keller. Im labyrinthischen Untergrund der Blue City in Rotterdam baut Peter Scheer eine Anlage, die Urin in Trinkwasser und Kot in Kompost verwandelt.
Scheer, Typ Ingenieur, ist gelernter Gärtner. Er hat sich auf „vertical farming“, also den Gemüseanbau an Wänden spezialisiert. Menschliche Exkremente sieht er als Rohstoff, nicht als Abfall. Es könne doch nicht sein, dass wir für jeden Toilettengang sechs Liter Trinkwasser in den Abfluss spülen, während weltweit das Süßwasser immer knapper wird.
Scheer weiß auch, dass die weltweiten Phosphor-Reserven in etwa 90 Jahren aufgebraucht sein werden. Phosphor benötigt die Industrie unter anderem zur Herstellung von Kunstdünger für Landwirtschaft und Gemüseanbau. Die Vorräte der Welt liegen in wenigen Ländern – vor allem Marokko und China. Da sei es doch sinnvoller, menschliche Exkremente als Dünger zu nutzen – und dabei sauberes Wasser zu gewinnen.
Dazu hat er mit seinem Team eine trockene Unisex-Toilette gebaut, die Kot und Urin getrennt sammelt. Der Urin wird gefiltert, von Medikamenten- und anderen Rückständen gesäubert. Dann löst seine Anlage das Wasser heraus. Eine weitere reinigt den Kot, damit er kompostiert werden kann. Entwickelt hat Scheer das Konzept für eine Marsmission der Europäischen Weltraumagentur ESA. Was im All funktioniert, lässt sich auch auf der Erde umsetzen.
Scheer hat den Prozess nach eigenem Bekunden inzwischen so weit gebracht, dass seine Wasser-Reinigungsanlagen zumindest in Neubauten ab 40 Wohneinheiten konkurrenzfähig sind. „Wir schaffen es, 1.000 Liter Trinkwasser für 1,60 Euro herzustellen. Das ist der hiesige Preis für Leitungswasser.“ Dieses sei bisher zu billig, weil die Wasserwerke viele Kosten der Allgemeinheit aufbürdeten.
Ehemaliges Spaßbad wird zur „Blue City“
Für sein Unternehmen Nijhuis Industries hat Scheer den richtigen Platz gefunden: die „Blue City“ in einem ehemaligen Spaßbad direkt an der Maas. Als das pleite gegangen war, finanzierte ein Investor vor rund 20 Jahren den Umbau des leerstehenden tropischen Schwimmbads zum Start-up-Hub für Unternehmen der Kreislaufwirtschaft. Die Idee: Die Abfälle des einen dienen als Rohstoff des anderen. So züchtete ein Gründer im feuchten Keller der Blue City Pilze auf Kaffeesatz, den er in den umliegenden Restaurants und Cafés einsammelte. Die Abwärme nutzt ein anderer zur Herstellung von Spirulina, einer nährstoffreichen essbaren Algenart.
Das Material für den Umbau des Schwimmbads lieferte das inzwischen etablierte Unternehmen Super Use. Deren Mitarbeiter sammeln landesweit auf Baustellen Abbruchmaterial, um es wiederzuverwenden. Die gläsernen Trennwände in der Blue City haben sie zum Beispiel aus Fenstern abgerissener Häuser gebaut. Auch die meisten Möbel und Mauern haben so ihren Weg in die Blue City gefunden.
Eines der Blue City Start-ups verwendet Obstabfälle aus dem nahen Hafen zur Herstellung von veganem Leder. Eine Brauerei braut Bier aus Brot-Abfällen. Marjanne Cuypers entwickelt mit ihrer Firma Blue Blocks neue Anwendungen für das an den Nordseestränden reichlich angeschwemmte Seegras. Sie nutzt es etwa als Dämmmaterial oder für die Herstellung von Lebensmitteln.
Inzwischen beherbergt die Blue City 55 Start-up-Unternehmen der Kreislaufwirtschaft. Wer sich – wie die Pilz-Züchter von Rotterdam – am Markt etabliert hat und mehr Platz braucht, zieht aus und schafft so Platz für neue Gründerinnen und Gründer.
Wasser ist nicht alles, aber ohne Wasser ist alles nichts. Das gilt besonders für Rotterdam, eine Stadt am und im Wasser. Wenn die Nordsee die Maas ins Land drückt, drohen Überschwemmungen, ebenso bei den immer häufiger auftretenden Starkregen. Zu anderen Zeiten vertrocknen Parks und Gärten.
Um die Stadt im Sommer zu kühlen und die Kanalisation bei Sturzregen zu entlasten, begrünen immer mehr Hausbesitzer ihre Dächer. Auf einem Bürohaus hat eine Initiative den Dachacker angelegt. Dort baut sie für das Restaurant im Haus und für Kunden in der Nachbarschaft Gemüse an. Ein Imker produziert mit seinen Bienen auf dem Dachacker Honig.
Regenwasser aktiv sammeln
Wasser, das die Zisternen auf den Dächern nicht mehr aufnehmen können oder das auf Straßen und Plätzen herunterkommt, will die Stadt sammeln, bevor es die Kanalisation überlastet. Unter dem Benthemplatz hat das Stadtplaner-Büro De Urbanisten dazu große Wasserspeicher angelegt. Das dort gesammelte Regenwasser versickert langsam in den Untergrund. Wenn es die Speicher nicht mehr schaffen, nehmen Mulden auf dem Platz weiteres Wasser auf, das so keinen Schaden anrichtet.
Europas größter Hafen hat Rotterdam verlassen. Er ist die Maas hinunter Richtung Nordsee gezogen. Der Stadt hat er zahlreiche Lagerhallen und Hafenbecken hinterlassen, zum Beispiel den Rijnhaven in bester Innenstadtlage. Dort schwimmt auf einem 90 mal 24 Meter großen Floß ein mehrstöckiges Holz- und Glashaus, das Floating Office Rotterdam – nach Angaben der Architekten das größte schwimmende Bürohaus der Welt. Den Strom für das dreistöckige Gebäude liefern Solarzellen auf der Südseite des Daches. Das Wasser unter dem Bürohaus kühlt die Räume im Sommer. Die Nordseite des Daches haben die Bauherren begrünt. Das Holzhaus selbst ist nach Angaben der Architekten „klimaneutral“, solange das CO2 im Baumaterial gespeichert bleibt.
Den Rijnhaven selbst baut die Stadt zum 18 Hektar großen Wohn-, Büro- und Landschaftspark um. Die Kaimauern weichen begrünten Sandstränden. Eingebettet in Grünanlagen entstehen an den Ufern Wohn- und Bürohäuser mit zusammen etwa 350.000 Quadratmetern Nutzfläche.
Am Stadtrand geht der Umbau der ehemaligen Hafenbecken weiter. In den Lagerhallen am einstigen Keilehaven haben sich innovative Unternehmen angesiedelt. Auch sie wollen die Wirtschaft mit ihren Produkten und Dienstleistungen nachhaltiger gestalten. Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Anwohner bauen im neu angelegten Gemeinschaftsgarten Gemüse an.
Im Hafenbecken produziert eine schwimmende Farm Milch und Joghurt. Die Kühe leben auf einem überdachten Floß im Hafenbecken. Ein weiteres Floß haben die Betreiber mit Solarzellen bestückt. Sie liefern den Strom für den „Bauernhof auf dem Wasser“. Mit steigendem Meeresspiegel und wachsender Erdbevölkerung wird Land immer knapper. So lag es für die Gründer nahe, Landwirtschaft auf dem Wasser auszuprobieren. Die Ufer des Keilehavens will die Stadt ähnlich wie den Rijnhaven begrünen und Strände anlegen.
Den ewigen Streit um Parkplätze beenden
Auch die Ufer der Maas bekommen ein neues Gesicht. „70 Prozent der 360 Kilometer Flussufer in der Region sind verbaut“, berichtet das Architektur- und Planungsbüro De Urbanisten. In der Stadt sind es 98 Prozent. Das wird sich ändern: Auch zum Schutz vor Hochwasser soll die Maas in einem Gezeitenpark ihr natürliches Bett zurückbekommen: begrünte Ufer, Platz, an dem sich das Wasser ausbreiten kann, Wander- und Radwege für die Menschen.
Zur Rotterdamer Anpassung an die Erderwärmung gehören auch die sieben neu geplanten Stadtparks. Nach New Yorker Vorbild entsteht einer davon auf dem 1,9 Kilometer langen Hofbogen, einer stillgelegten Bahntrasse. Für einen weiteren neuen Park reduzieren die Rotterdamer den Autoverkehr.
Der fünfspurige Hofplein wird auf je eine Spur zurückgebaut. Auf der so gewonnenen Freifläche entstehen Radwege und ein 1,5 Quadratkilometer großer Stadtpark. Eingeplant ist auch hier ein 20.000-Liter-Wasserspeicher unter dem neu gestalteten Platz.
Auch für den ewigen Streit um Parkplätze und den innerstädtischen Autoverkehr hat sich die Stadt etwas einfallen lassen: Den Händlern bietet sie für die Parkplätze vor der Ladentür versuchsweise Parklets an. Auf diesen vorgefertigten Paletten in Parkplatz-Größe sind Sitzgelegenheiten, Pflanzbeete oder Fahrradbügel vormontiert. Händler, die damit einverstanden sind, bekommen diese kostenlos vor ihre Geschäfte gestellt. Wenn sie die Parklets nach vier oder sechs Wochen nicht mehr haben wollen, holt die Stadt sie kostenfrei wieder ab. Dann können die alten Parkplätze wieder genutzt werden.
„Bisher hat noch keiner angerufen“, erzählt Stadtplaner Emiel Arends. Fast alle wollten die Parklets nicht mehr missen. Ihre Kunden freuten sich über mehr Grün, Sitzgelegenheiten und Platz für Fahrräder. Von sinkenden Umsätzen, wie sie viele Händler befürchteten, habe er noch nichts gehört.
Vorbilder aus London und Adelaide
Die Stadt wird grüner, ruhiger, kühler und schützt sich vor Hochwasser. Noch einen Schritt weiter geht die Initiative Rebel Flora&Fauna von Mark Bode. Der Direktor des Rotterdamer Naturkundemuseums und seine Mitstreiter wollen nach Vorbildern in London und im australischen Adelaide einen Nationalpark in der Stadt schaffen. Die Idee: Artenvielfalt schützen und Bauvorschriften, die den Lebensraum für Pflanzen und Tiere bewahren. In Neubaugebieten soll es zum Beispiel Nistkästen für Fledermäuse und Vögel geben, zwischen den Häusern und auf den Dächern wasserspeichernde, kühlende Blühwiesen für Insekten. Die Beleuchtung soll so aufgestellt werden, dass sie nachtaktive Tiere möglichst wenig stört und Lichtverschmutzung minimiert.
Natürlich wissen die „Rebels“, dass all diese Projekte viel Geld kosten. Deshalb haben sie ausgerechnet, was Klima-, Arten- und Naturschutz in Euro und Cent bringen. „Die Klimaanpassung aller Gebäude in den Niederlanden würde etwa 100 Milliarden Euro kosten“, berichtet Mark Bode. Den wirtschaftlichen Nutzen – zum Beispiel durch vermiedene Hitze- und Überschwemmungsschäden – beziffert er dagegen auf 140 Milliarden. Am effektivsten sei die Begrünung von Flächen. Die Kosten seien hier im Verhältnis zum Nutzen am geringsten – vor allem in Gewerbegebieten.