Großbritannien ist mitten in einem politischen Umbruch. Schon im Wahlkampf hat sich gezeigt: Mit dem Niedergang der Torys taucht wieder ein alter Bekannter auf: Brexit-Agitator Nigel Farage ist zurück.
Erst flog am Pier des englischen Badeortes Clacton ein Bananen-Milchshake auf den feinen Nadelstreifen-Maßanzug. Dann versuchte jemand in einem Londoner Doppeldeckerbus, denselben Mann mit frisch angerührtem Flüssigzement zu übergießen. Beide Male erlitt der Angegriffene keinen Schaden – außer Flecken und Spritzern auf dem feinen Gewand.
Die Attacken galten dem Kandidaten Nigel Farage. Sie sprechen Bände über die Stimmung im Lande Ihrer Majestät König Charles III. Der Wahlkampf in Großbritannien ist ein großes Hauen und Stechen. Schon am 4. Juli können 47 Millionen Wahlberechtigte entscheiden, welcher von 4.515 Kandidaten einen von 650 Sitzen im Unterhaus bekommen soll. Dabei geht es für eine Menge Leute ums Ganze. Umfragen und Wettbüros sagen den regierenden Konservativen von Premierminister Rishi Sunak eine historische Wahlniederlage voraus. Die sozialdemokratische Labour Party mit Oppositionsführer Keir Starmer hingegen könnten einen Kantersieg einfahren. Eine Folge der desaströsen wirtschaftlichen und sozialen Lage.
Aber – da ist ja noch der dritte Mann: Farage, der rhetorisch geniale Populist. Er ist bekannt wie ein bunter Hund, trägt den Beinamen „Mr. Brexit“ und gilt als Enfant terrible der Politik.
Farage war mal Europaabgeordneter mit dem Ziel, die EU von innen zu zerstören. Schon 1992 war er wegen des Maastricht-Vertrages aus der konservativen Partei ausgetreten. Bei der Brexit-Volksabstimmungskampagne, die am 23. Juni 2016 mit der Zustimmung zur Scheidung zwischen Kontinentaleuropa und UK endete, war er der lauteste Lautsprecher.
Zu oft hat Sunak Ziele verfehlt
Inzwischen als Radiomoderator abgetaucht, will Farage nun als Chef der rechtsnationalen Partei Reform UK wieder eine „politische Revolte“ anführen. Ein „Vertrag mit dem Volk“ soll ihm ermöglichen, ganz, ganz große Brötchen zu backen – in drei Schritten. Erstens will Farage einen Parlamentssitz gewinnen. Zweitens soll seine Partei die Konservativen überflügeln, womit er Oppositionsführer wäre. Und drittens will er bald Premierminister werden.
Sunaks heftig angeschlagenen Konservativen fällt es im Trommelfeuer von Rechts und Links schwer, sich siegesgewiss zu präsentieren. Tapfer versuchen sie, ihr Ziel einer „Eigentumsgesellschaft“ zu verkünden. Das Versprechen, innerhalb von fünf Jahren 1,6 Millionen Wohnungen zu bauen, glaubt kaum noch jemand. Zu oft hat Sunak politische Ziele verfehlt, zu teuer sind Lebenshaltungskosten und Mieten geworden.
Labour mit dem früheren Staatsanwalt Starmer an der Spitze will laut Wahlmanifest auch die „Schaffung von Wohlstand“. Das soll durch schuldenfinanzierte Staatsausgaben gelingen, um den Reformstau bei der Infrastruktur abzubauen. Dazu gehören „grüne“ Investitionen zur klimagerechten Modernisierung von Häusern und für Wasserstoff.
Das Thema mit dem größten Erregungsfaktor ist die Migration. Das ist besonders deutlich an der britischen Südküste, wo man eher konservativ denn links denkt. Dort haben im ersten Halbjahr mindestens 12.000 Menschen illegal den Ärmelkanal überquert. Und das ist ein Problem für Sunak. Denn sein Plan, „irreguläre Migranten, die mit kleinen Booten ankommen“, umgehend nach Afrika abzuschieben, steht nur auf dem Papier.
Meinungsforschern zufolge fühlen sich in Südengland Millionen Menschen im Stich gelassen. „Unsere Gemeinde fühlt sich nicht mehr wie unsere Gemeinde an“, räumt Stephen James ein, der örtliche Kandidat der Konservativen. Viele Ankömmlinge hängen in den kleinen Küstenorten herum und irritieren die Bevölkerung, die sehr weit von Wohlstand entfernt ist. Hauptstraßen sind oft gähnend leer, ganze Schaufensterreihen verfallen oder stillgelegt.
Davon, dass der Hafen von Dover über 70 Prozent des britischen Überseehandels abwickelt, merken die Stadt und die umliegenden Gemeinden wenig. Stattdessen klagen sie über mangelnde Ausstattung von Schulen, ungenügende Gesundheitsversorgung und Finanznot der Kommunen. Das schafft Vorurteile und Unmut angesichts Fremder, die die keinem Job nachgehen und alimentiert werden.
Auch die Labour Party verspricht Abhilfe gegen die Migration. Starmer will eine leicht aufgestockte Grenztruppe auf den Ärmelkanal schicken, um Geflüchtete aus afrikanischen und arabischen Ländern mit Schnellbooten aufzuhalten. Ob das das richtige Rezept ist, bezweifeln viele – allen voran Farage.
Clacton, der Wahlkreis Farages, ist ein etwas abgelegener Nordsee-Badeort, in dem überwiegend ältere Menschen leben. Hier entwickelte das erzkonservative Farage-Vorbild Enoch Powell 1969 erste Gedanken gegen eine Annäherung Großbritanniens an den europäischen Kontinent. Und er wetterte gegen die damalige Masseneinwanderung aus britischen Ex-Kolonien.
Johnson liebäugelt mit Comeback
Heute sind Briten mit überseeischen Wurzeln ein mitentscheidender Faktor der Politik. Sunak ist ein lebendes Beispiel dafür. Geboren in Southampton als Sohn gebildeter Inder, die aus Südafrika kamen. Heute ist der einstige Hedgefonds-Manager einer der reichsten Briten. Seine Frau Akshata ist Erbin des milliardenschweren Vermögens einer indischen Unternehmer-Familie. Als erster Premier bekennt sich Sunak zum Hinduismus. „Mein Glaube gibt mir Kraft, weiterzumachen“, plauderte er kürzlich aus.
In letzter Zeit ist Sunak arg in Fettnäpfchen getreten. An einem der wichtigsten Gedenktage Großbritanniens, dem 80. Jahrestag der Alliierteninvasion am Ärmelkanal (D-Day), verließ er vorzeitig die Feier in Nordfrankreich mit Gastgeber Emmanuel Macron, US-Präsident Joe Biden und Olaf Scholz. Grund: Ein Interviewtermin. Farage nutzte das D-Day-Desaster zum Großangriff: Der „britisch-indische“ Premier habe bewiesen, dass er „kein patriotischer Führer“ und „völlig abgehoben“ sei. Sunak kroch tatsächlich zu Kreuze: „Im Rückblick war es ein Fehler, und ich entschuldige mich.“
Eines ist klar: Farages Kandidatur wirbelt die politische Agenda zwischen Shetlandinseln und Kreidefelsen durcheinander. Doch der Stockkonservative könnte sich auch verrechnen und als bester Wahlhelfer der Sozialdemokraten enden. Dann nämlich, wenn er den Torys zwar massenhaft Stimmen wegnimmt, damit aber das Traditionalistenlager so spaltet, dass vielerorts Labour-Kandidaten ins Ziel kommen. Im britischen Mehrheitswahlsystem bedeutet der Gewinn von Millionen Stimmen nicht zwangsläufig den Sieg.
Beim Premierminister in der Downing Street Nummer 10 klingeln indessen Alarmglocken. Jede Stimme für Farages Partei Reform UK sei ein „Blankoscheck“ für Labour, malt er als Schreckensbild an die Wand. Dem Vereinigten Königreich drohe eine Labour-„Supermajorität“.
In der Tat dürfte Starmer neuer Premierminister werden. Der 61-Jährige ist seit 2020 Labour-Vorsitzender. Seine Partei führte er von einem hart linken Kurs zur gemäßigten Mitte und akzeptiert die Einstufung als „rotgrün“. Als Oppositionschef trägt der Sohn einer Krankenschwester und eines Werkzeugmachers den Titel „Leader of His Majesty’s Most Loyal Opposition“. Beobachter erwarten, dass der Gegner des Brexits ein gutes Verhältnis zur EU anstrebt.
Starmers Gegenpol, der vor Ehrgeiz platzende Farage, muss seit Kurzem die Aufmerksamkeit mit einem Schattenmann teilen, der auch als Aufrührer gilt: Der in Ungnade gefallene Ex-Premierminister Boris Johnson. Nach Angaben seines Biografen Andrew Gimson will „Greased Piglet“ – „geschmiertes Ferkel“, wie ihn Londoner Medien titulieren – zurück an die Macht. Das soll geschehen, indem er sich zu Hause im Lehnstuhl zunächst das Chaos nach einer monumentalen konservativen Niederlage anschaut, um dann im richtigen Moment als Tory-Retter zuzuschnappen. Johnson hat den Torys schon einmal die größte Mehrheit seit Jahrzehnten geholt. Der gerade erst 60 Jahre alt gewordene Vollblutpolitiker fühlt sich jedenfalls unterbeschäftigt und hat Gelüste, als Kai aus der Kiste wiederzukommen.