Die Europäische Union ist dabei, sich nach den Wahlen neu zu sortieren. Überlagert wird das durch die überraschende Neuwahl in Frankreich. Der Politikwissenschaftler Georg Wenzelburger über französische Verhältnisse, „moderate“ Rechtspopulisten und europäische Mechanismen.
Herr Wenzelburger, das französische Wahlsystem ist mit einer Bundestagswahl nicht vergleichbar. Was bedeutet das System mit zwei Wahlgängen für die Strategien der Parteien?
Die zwei Wahlgänge erzeugen erst mal die Notwendigkeit für kleinere Parteien, sich zusammenzuschließen, um eine Chance zu haben. Am Ende geht es ja darum, einen Wahlkreis mit einem Kandidaten zu gewinnen. Die Hürde, um in den zweiten Wahlgang zu kommen, liegt bei 12.5 Prozent der Stimmen derjenigen, die auf den Listen als abstimmungsberechtigt eingetragen sind in den jeweiligen Wahlkreisen. Das bedeutet, dass es auch schon mal möglich sein kann, dass noch drei Parteien im zweiten Wahlgang dabei sind. Aber die Hürde ist natürlich relativ hoch. Bei 12,5 Prozent bedeutet das: Wenn nur die Hälfte der Berechtigten zur Wahl geht, brauche ich – etwas vereinfacht gerechnet – von den abgegebenen Stimmen 25 Prozent. Das führt dazu, dass Parteien schon vor dem ersten Wahlgang versuchen, sich hinsichtlich der Kandidaturen abzusprechen, um sich nicht im eigenen Lager Konkurrenz zu machen.
Bei diesen Absprachen gab es schon einige Überraschungen. Wieso haben es linke Parteien gegen alle Erwartungen so schnell geschafft?
Auf der linken Seite gibt es mit La France insoumise eine linkspopulistische Partei, die traditionelle Partei der Sozialisten, die Grünen und die Kommunisten. Diese hatten sich schon bei der letzten Wahl vor zwei Jahren abgesprochen, das hat aber damals sehr lange gedauert. Dass es nun so schnell ging und sich die Parteien in wenigen Tagen darauf geeinigt haben, welcher Kandidat von welcher Partei wo antritt, um sich nicht gegenseitig die Wählerstimmen abzunehmen, ist schon überraschend. Denn man muss ja schauen, wer in welchem Wahlkreis einen Kandidaten mit relativ guten Chancen hat und wie die Verteilung untereinander ist. Außerdem hatten die Sozialisten bei den Europawahlen ja ein besseres Ergebnis als bei den Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren, konnten also mehr Wahlkreise für sich beanspruchen als damals. Es ging also darum, inwiefern die France insoumise bereit ist, einzelne Wahlkreise abzugeben. Das ist kein einfacher Aushandlungsprozess, deshalb war es schon überraschend, wie reibungslos und schnell sich die Parteien im linken Spektrum geeinigt haben.
Auf der rechten politischen Seite gab es das konträre Bild. Warum hat es dort diese fast schon chaotischen Entwicklungen gegeben?
Auf der rechten Seite war der Rassemblement National (RN) wohl relativ gut vorbereitet auf die Möglichkeit einer schnellen Neuwahl. Der RN ist mittlerweile eine sehr gut organisierte Partei, die sich professionalisiert hat und inzwischen auch einen guten Fundus an Kandidaten vor Ort in den Wahlkreisen hat. Wo es wirklich ganz schwierig geworden ist, das war bei der traditionellen Mitte-Rechts-Partei, den Gaullisten, die sich zwar mehrfach unbenannt hat (heute: Les Républicains, LR), aber letztlich in der Tradition von de Gaulle, Sarkozy und Chirac steht. Dort ist es zum großen Konflikt gekommen zwischen den traditionellen Gaullisten und dem Parteichef Eric Ciotti, weil dieser ein Bündnis mit dem RN auf Wahlkreisebene eingehen wollte, dass also der RN in manchen Wahlkreisen nicht antritt wo dann ein Republikaner kandiert. Ein Teil der Parteiführung hat sich dagegen gestellt und war nicht bereit, eine solche Allianz zu schließen. Es stehen sich also jetzt zwei Flügel gegenüber mit dem Ergebnis, dass es Wahlkreise gibt, in denen ein Kandidat des RN antritt und trotzdem auch ein Vertreter der Konservativen, und in manchen Wahlkreisen aufgrund des Chaos innerhalb der Partei gar kein Vertreter der Konservativen nominiert ist. Um es kurz zu machen: Die Republikaner haben sich intern so zerstritten, dass wir jetzt erwarten können, dass sie relativ schlecht bei der Wahl zur Nationalversammlung abschneiden.
Es ist viel über die Beweggründe spekuliert worden, warum Macron nach der Europawahl dieses politische „Erdbeben“, wie es einige genannt haben, ausgelöst hat. Haben Sie eine Erklärung?
Es ist von außen natürlich schwer, das zu erklären, weil niemand Zugang zum ganz engen Beraterkreis Macrons hat, der das gemeinsam mit ihm entschieden hat. Aber ich habe versucht, zwei rationale Begründungen in diese Entscheidung zu interpretieren. Die eine ist, dass Macron darauf gehofft haben könnte, dass sich die Parteien im Linksbündnis nicht so schnell einigen würden, also unterschiedliche linke Parteien antreten, und er dadurch mit seinem Mitte-Bündnis im zweiten Wahlgang in vielen Wahlkreisen in der Stichwahl vertreten sein würde. Dann wäre das passiert, was wir in den letzten Jahren schon hatten, dass nämlich im zweiten Wahlgang ein Kandidat von RN einem Kandidaten von Macrons Mitte-Bündnis gegenübersteht und dann – im Sinne einer gemeinsamen Verhinderung des RN-Kandidaten – die Macron-Kandidaten gewinnen. Diese Hoffnung hat sich dann ja aber aufgrund der Einigung der Linken relativ schnell zerschlagen. Die zweite rationale Überlegung, über die man spekulieren kann, könnte gewesen sein: Lieber haben wir jetzt für drei Jahre, für den Rest der Amtszeit (des Präsidenten), eine Regierung des RN, in der Hoffnung, dass sich der RN in der Regierung durch Fehler selbst entzaubert, und Marine Le Pen dann bei der Präsidentschaftswahl 2027 keine Chance hat. Das wären zwei rationale Szenarien, die eine Rolle gespielt haben könnten, über die man also zumindest spekulieren kann. In jedem Fall war die Situation für Macron am Ende aber auch so, dass er zwischen zwei schlechten Möglichkeiten wählen musste: Entweder weiter ohne Mehrheit in der Nationalversammlung zu regieren, wobei es noch schwieriger hätte werden können, oder den risikoreichen Weg zu gehen und Neuwahlen zu ermöglichen – dann aber mit dem Risiko, dass es richtig schiefgehen kann. Er hat sich für zweiteres entschieden.
Was bedeutet diese französische Entwicklung für Europa?
Für die EU muss man im Prinzip erst einmal feststellen, dass im Europäischen Parlament die Mitte-Parteien weiter dominieren, dass sich also die EVP, die Liberalen und die Sozialdemokraten ihrer Mehrheit relativ sicher sein können, und das sie die Politik einer EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer zweiten Amtszeit wohl unterstützen werden. Es gibt also weiter eine Mehrheit in der Mitte, und ich gehe davon aus, dass diese Koalition aus EVP, Liberalen und Sozialdemokraten weiterhin das Gravitationszentrum im Europaparlament sein wird. Was die Wahl der Kommissionspräsidentin betrifft, kann man sich da aber nie so ganz sicher sein, weil die Fraktionen im Europäischen Parlament nicht so homogen sind wie etwa Fraktionen in nationalen Parlamenten. Beim letzten Mal war es schon knapp, insofern ist nicht ausgeschlossen, dass es vor der Wahl noch weitere Absprachen geben wird. Gleichzeitig hat sich die Statik aber schon ein wenig verschoben, weil die Zahl der Abgeordneten aus rechtspopulistischen Parteien deutlich angewachsen ist. Wenn es eine neue Fraktion von selbsternannten „moderaten“ Rechtspopulisten um Meloni und Le Pen geben sollte, kann man sich zum Beispiel bei Abstimmungen in bestimmten Politikbereichen – etwa bei Migrations- oder Sicherheitsfragen – schon vorstellen, dass sich diese Fraktion als eine Alternative für eine Mehrheitsbildung darstellt, die dann von der EVP in einer Rechtskoalition genutzt werden könnte.
Was bedeutet es nun für Frankreich selbst und seine Europapolitik?
Es ist so, dass sich in der Europapolitik sowie in der Außen- und Verteidigungspolitik Premierminister und Präsident arrangieren müssen. Der Staatspräsident hat hier ein gehöriges Wort mitzureden. Wenn die Staats- und Regierungschefs in Europa am Tisch sitzen, wird Macron weiter dabeisitzen. Er hat also in diesen Politikbereichen durchaus weiter Einfluss, auch wenn es einen Regierungschef vom RN geben sollte. Gleichzeitig sitzen in den Ministerräten dann natürlich Minister vom RN als Vertreter Frankreichs. Insofern kommt es – wie auch früher im Fall einer Cohabitation (Wenn Präsident und Regierungschef gegensätzlichen Parteien angehören; Anm. d. Red.) darauf an, wie sich in diesen Fragen das Verhältnis zwischen Regierungsmehrheit mit Premierminister auf der einen und Staatspräsident auf der anderen Seite austariert. Wenn also der RN eine absolute Mehrheit erringt und die Regierung stellt, ist schon zu erwarten, dass die Politik aus Frankreich nicht immer so proeuropäisch ausfallen wird wie in der Vergangenheit.
Im Wahlkampf hat die SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley darauf hingewiesen, dass ohnehin schon Rechtspopulisten in etlichen Regierungen in den EU-Mitgliedstaaten beteiligt sind oder sogar anführen. Also gibt es schon diese Entwicklung?
Rechtsnationale Parteien, die an Regierungen beteiligt sind, wie die Fratelli d’Italia von Georgia Meloni haben natürlich ein strategisches Interesse, nicht bei allen Fragen immer außen vor zu sein. Dadurch, dass Meloni als Regierungschefin immer mit am Tisch sitzt, ist sie als Vertreterin eines großen Landes in der EU immer jemand, mit dem man reden muss. Inhaltlich kann man in den Programmen dieser Parteien schon auch sehen, dass einige große Symbole abgebaut wurden, Ansagen wie „Frexit“ (Austritt Frankreichs aus der EU; Anm. d. Red.) werden so nicht mehr getätigt. Aber der Kern bleibt ein rechtspopulistischer: gegen die Eliten, mit einer harten Haltung in der Migrationspolitik und in vielen gesellschaftspolitischen Themen, zum Beispiel bei Abtreibung, oder in einigen Ländern auch in der Familienpolitik. Das sind schon inhaltliche Positionen, die relativ klar sind – bei aller Heterogenität des rechten Blocks.
Was bedeutet also diese neue Stärke der Rechtspopulisten für die Politik in der EU?
Zur Europäischen Union muss man grundsätzlich sagen: Das ist ein politisches System, in dem sich unterschiedliche Akteure die Macht teilen, also Kommission, Parlament und Rat. Daher gilt: Niemand kann ohne den anderen. Ein Beispiel: Wenn auf europäischer Ebene Richtlinien oder Verordnungen, also Gesetze verabschiedet werden sollen, dann braucht es erst einmal die Kommission, die ein Gesetz vorschlagen muss, sonst passiert nichts. Jetzt ist nicht abzusehen, dass die Kommission rechtspopulistisch dominiert wird. Aber wir können uns natürlich vorstellen, dass ein Vorschlag der Kommission im Parlament sehr stark verändert werden könnte, etwa Verschärfungen in der Migrationspolitik. Doch auch hier gibt es wieder einen Mitspieler, denn das Parlament alleine macht nicht die Gesetze, sondern ein Gesetz muss immer auch noch im Ministerrat mit einer qualifizierten Mehrheit verabschiedet werden. Und da haben im Moment die rechtspopulistischen Parteien keine Mehrheit, sodass massive Veränderungen oder Verschärfungen nicht ohne deren Zustimmung durchkommen würden. Kurzum: Die Europäische Union ist ein Konstrukt, das ohne Verhandlungen und Konsens nicht funktioniert. Und da wird sich zeigen, ob die sich nun teilweise selbst zahm gebenden Rechtspopulisten wirklich bereit sind, ernsthaft über Gesetzesvorlagen und Inhalte zu diskutieren. Denn das war in der Vergangenheit häufig nicht der Fall und die rechtspopulistischen Parteien haben nur gesagt: Wir sind sowieso dagegen. Das haben sie dann gegenüber Medien und in Reden im Europäischen Parlament deutlich gemacht, aber bei der Kärrnerarbeit, etwa in den Ausschüssen, haben sie sich zurückgehalten. Und da ist die spannende Frage, ob sich die rechtspopulistischen Parteien auf Verhandlungsmarathons zu einzelnen Gesetzen in Straßburg und Brüssel einlassen. Da wird spannend sein zu beobachten, wie sich das sortiert.