Ein internationales Forschungsteam machte kürzlich eine spektakuläre Entdeckung bei Chichén Itzá. Bevorzugt wurden in der Maya-Metropole eng verwandte Kinder männlichen Geschlechts, idealerweise Zwillinge und Brüder, den Göttern geopfert.
Von den drei frühen Hochkulturen des amerikanischen Kontinents reicht die Geschichte der Maya vor den Inka und Azteken am weitesten zurück. Früheste archäologische Funde konnten auf die Zeit um 2000 v. Chr. datiert werden, also eine Epoche, in der sich auch in Ägypten am Mittelmeer eine vergleichbar hochzivilisierte Gesellschaft entwickelt hatte. Die Erforschung der Maya-Kultur, die sich um die Halbinsel Yucatán im Golf von Mexiko konzentriert hatte, setzte erst ziemlich spät im 18. und 19. Jahrhundert ein, als erstmals Relikte ihrer monumentalen Bauten im Dschungel Mittelamerikas entdeckt wurden. Lange Zeit schenkte man in wissenschaftlichen Kreisen vor allem den großen Bauwerken und den mit einem ausgeklügelten, für die straff organisierte und fortschrittlich entwickelte Landwirtschaft absolut notwendigem Bewässerungssystem ausgestatteten und dicht besiedelten Städteanlagen die größte Aufmerksamkeit.
Die Maya waren kein friedfertiges Volk
Erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden in der Forschung auch die Menschen selbst immer mehr in den Mittelpunkt gerückt. Und dabei konnte nach und nach so mancher Mythos oder wissenschaftlicher Irrglaube rund um die Maya-Kultur, in deren Blütezeit, ähnlich wie im antiken Griechenland, sich die politische Organisationsstruktur von (rund 50) selbstständigen Stadtstaaten herausgebildet hatte, korrigiert werden. Obwohl schon im frühen 20. Jahrhundert reißerische Berichte über die rituelle Opferung von jungen Mädchen und Frauen ohne ausreichende wissenschaftlichen Belege kolportiert worden waren, hielt sich weiterhin die Legende von einer rundum friedliebenden Zivilisation. Diese verfügte vor allem auf den Gebieten der Mathematik und Astronomie über ein verblüffendes Wissen, was sich nicht zuletzt im berühmten Maya-Kalender namens „Haab“ niedergeschlagen hatte, mit dessen Hilfe das Jahr in 365 Tage unterteilt werden konnte.
Neben beeindruckenden künstlerischen Schöpfungen darf auch die Maya-Schrift nicht vergessen werden, schließlich war sie bis zum Eintreffen der spanischen Konquistadoren das einzige voll entwickelte Schriftmedium in ganz Amerika. Erste Zweifel an der vermeintlichen Friedfertigkeit des Maya-Volkes wurden durch die Freilegung bildlich-künstlerischer Darstellungen brutaler Gewaltanwendungen und blutiger Rituale geweckt. Doch erst die ab den 1950er-Jahren einsetzende Entschlüsselung des „Haab“, dessen Inschriften von zahlreichen Schlachten berichteten, sollte der Forschung endgültige Gewissheit darüber verschaffen, dass die Maya keineswegs eine friedliebende Zivilisation gewesen waren.
Bislang ist völlig ungeklärt, warum die sogenannte klassische Zeit der Maya-Kultur, die sich über den Zeitraum von 400 bis 900 n. Chr. erstreckte und in der die Bevölkerungszahl auf geschätzte zehn Millionen angewachsen war, plötzlich flächendeckend zu Ende gegangen war. Es wurden dafür diverse Erklärungstheorien entwickelt, von denen vor allem anhaltende Dürreperioden am meisten einleuchten.
Zwischen 800 und 1000 n. Chr. stieg allerdings, im Gegensatz zum allgemeinen Niedergang der Maya-Blütezeit, ein neues Machtzentrum inmitten des nördlichen Maya-Tieflandes auf: das im Herzen der mexikanischen Halbinsel Yucatán gelegen Chichén Itzá.
In Chichén Itzá lebten damals 50.000 Maya
Diese Stadt blieb bis zum Eintreffen der spanischen Eroberer eines der bevölkerungsreichsten und mächtigsten Städte der Maya-Gesellschaft. Seit 1988 werden ihre architektonische Relikte zum Unesco-Weltkulturerbe gezählt und locken seitdem massenweise Touristen an.
Chichén Itzá ist heute vor allem berühmt wegen seiner monumentale (Kalkstein-) Architektur mit dem gewaltigen Tempel „El Castillo“ an der Spitze, aber auch wegen seiner überraschend großen Anzahl von einem Dutzend Ballspielplätzen. Diese spielten eine bedeutende Rolle im Alltagsleben der Maya. Die Maya waren geradezu vernarrt in ein Ballspiel namens Pok-ta-Pok, bei dem Mannschaften einen bis zu vier Kilogramm schweren Kautschukball möglichst ins Feld des Gegners treiben mussten. „Wenn die Maya eine neue Stadt gründeten“, so der Sporthistoriker Prof. Andreas Luh von der Ruhr-Universität Bochum im Magazin „GEO“, „bauten sie als Erstes nicht etwa einen Tempel oder Adelspaläste, sondern Ballspielplätze, die den Eingang zur Unterwelt symbolisierten und für die Aufrechterhaltung des irdischen Lebens standen. Dieses Ballspiel ist praktisch der Ursprung der Maya-Völker.“
In der breiten Öffentlichkeit dürfte hingegen weniger bekannt sein, dass das im Nordosten der Halbinsel Yucatán zu findende Chichén Itzá, das auf einer Fläche von rund 15 Quadratkilometern schätzungsweise bis zu 50.000 Einwohner gezählt hatte, in der Forschung besonders wegen seiner zahlreich vorhandenen Belege für rituelle Tötungen berühmt ist. Diese konnten anhand physischer menschlicher Überreste und durch bildliche Relief-Darstellungen in der lokalen Monumentalkunst nachgewiesen werden.
Die Funde lassen den Schluss zu, dass Menschenopfer im rituellen Leben der Stadt von zentraler Bedeutung gewesen sein mussten. Auch wenn bislang die Rolle und der Kontext der Opferungen für die Wissenschaft ein Rätsel geblieben sind. Womöglich sollten die Götter gnädig gestimmt werden, weil man höhere Ernteerträge oder Niederschlagsmengen erzielen wollte.
Chichén Itzá wurde um eine sogenannte Heilige Cenote, ein mit lebenswichtigem Nass gefülltes Karst-Wasserreservoir, gebaut. Schon im frühen 20. Jahrhundert konnten infolge von damals heftig umstrittenen Ausbaggerungsarbeiten der Heiligen Cenote die Überreste von Hunderten Individuen freigelegt werden. Wobei es sich vornehmlich um die Skelette von Kindern und Jugendlichen handelte. Die damals erfolgte Zuweisung der meisten Opfer zum weiblichen Geschlecht war aus heutiger Sicht vorschnell erfolgt, weil bei Nicht-Erwachsenen eine solche Zuordnung anhand der physischen Untersuchung von Skelett-Bestandteilen unzuverlässig ist. Dennoch wurde selbst in Archäologen-Kreisen daraus die Mär geboren, dass die Maya jungfräuliche Mädchen opferten, um die Götter womöglich um Fruchtbarkeit zu bitten. Inzwischen weisen neuere anatomische Analysen allerdings darauf hin, dass viele der älteren Jugendlichen aus der Heiligen Cenote männlichen Geschlechts waren.
100 Skelette von Kinderopfern untersucht
Im Jahr 1967 wurde von Bauarbeitern in der Nähe der Heiligen Cenote eine unterirdische Kammer entdeckt, die wahrscheinlich als Wasserzisterne namens „Chultún“ genutzt worden war. Darin befanden sich die Skelette von mehr als 100 Kindern. Diese natürliche Kammer war offensichtlich von Menschenhand erweitert worden, um eine Verbindung zu einer kleinen Höhle herzustellen. Bei den Maya galten unterirdische Strukturen wie Höhlen, Cenoten oder auch Chultúns als Zugänge zur mystischen Unterwelt. Sie werden schon länger von der Wissenschaft mit Kinderopfern in Zusammenhang gebracht. Genau diese Überreste wurden jüngst im Rahmen eines großen internationalen Forschungsprojektes genauer unter die Lupe genommen. Daran beteiligt waren Forschende der Max-Planck-Institute für evolutionäre Anthropologie (Leipzig) und Geoanthropologie (Jena), der National School of Anthropology and History (Mexiko City), dem National Institute of Anthropology and History (Mérida/Mexiko) und der Harvard University (Cambridge). Das Ergebnis ihrer Studien wurde im Fachmagazin „Nature“ publiziert.
Wobei die sensationellen Erkenntnisse die eigentliche Zielsetzung der Forschungsarbeiten weit übertroffen hatten. „Ursprünglich wollten wir mit dieser Untersuchung vor allem etwas über die Populationsdynamik der Maya erfahren“, so Dr. Kathrin Nägele, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Dazu sollte die aus den Ohrknöchelchen von 64 der gut 100 Skelette gewonnene DNA mit dem aus freiwilligen Blutproben erhaltenen Erbgut von 68 ausgewählten, heute in der Region lebenden Nachkommen der Maya verglichen werden (insgesamt wird die heutige Zahl der Maya-Nachkommen auf sechs Millionen geschätzt). Das Resultat des Abgleichs sollte die Wissenschaftler voll zufrieden stellen: „Demnach sind die heute in der Region lebenden Menschen tatsächlich die Nachfahren der alten Maya“, so Dr. Nägele.
Aber umso spektakulärer war, dass die genetischen Analysen der Funde ergaben, dass sämtliche der 64 untersuchten DNA-Proben eindeutig dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden konnten. Weiterhin konnte aus den ersten entschlüsselten Genomen der alten Maya-Zeit nachgewiesen werden, dass die Kinder aus der lokalen Maya-Bevölkerung stammen mussten und dass wenigstens ein Viertel von ihnen mit wenigstens einem anderen Kind eng verwandt gewesen sein musste. „Das waren kleine Jungs, im Alter zwischen vier und acht Jahren“, so Prof. Johannes Krause, Direktor der Abteilung für Archäogenetik am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Viele der Kinder sind eng miteinander verwandt, einige waren Zwillingsbrüder, Cousins oder vielleicht Neffe und Onkel. Das unterstützt die Idee einer rituellen Opferung. Denn dass sie zufällig zur selben Zeit gestorben sind, ist unwahrscheinlich.“
Offenbar wurden verwandte männliche Kinder paarweise für tödliche Rituale im Zusammenhang mit dem Chultún ausgewählt. „Überraschenderweise haben wir auch zwei eineiige Zwillingspaare identifiziert“, so Dr. Nägele. Womöglich war die Zahl der verwandten Opfer noch weitaus größer, weil ja nur von gut zwei Dritteln der Skelettfunde eine DNA-Probe erstellt worden war. Fehlende nahe Verwandte könnten sich daher noch unter den nicht analysierten Skeletten befinden. Und es könnte auch noch einige zweieiige Zwillings-Pärchen gegeben haben, weil sich allein am Erbgut nicht ablesen lässt, ob zwei Brüder eventuell gleichzeitig auf die Welt gekommen waren. Die Datierung der Überreste ergab, dass das Chultún zwar mehr als 500 Jahre lang, vom 7. bis zum 12. Jahrhundert, für Bestattungszwecke genutzt worden war, dass aber die meisten Kinder während der politischen Blütezeit von Chichén Itzá, in den Jahren zwischen 800 und 1000 n. Chr., bestattet wurden. Tödliche Verletzungen konnten an den Skeletten nicht entdeckt werden, was angesichts des Opferritus auch nicht weiter verwunderlich ist: „Dafür wurde den Opfern mit einer Obsidianklinge das Herz aus dem Leib geschnitten. Das hinterlässt nicht unbedingt Spuren an den Knochen“, so Prof. Johannes Krause.
Mit Obsidianklinge das Herz entfernt
Als Erklärung für die Bevorzugung von eng verwandten männlichen Kindern bei den in Chichén Itzá praktizierten Menschenopfern verwiesen die Forscher auf einen eng im spirituellen Leben der Maya verankerten Schöpfungsmythos rund um die sogenannten Heldenzwillinge, die so etwas wie Maya-Halbgötter gewesen waren. Das erste Zwillingsbrüder-Paar, Hun Hunahpú und Vucub Hunahpú, war demnach von den Unterwelt-Göttern zu einem Ballspiel überredet worden, wobei sie nicht nur besiegt, sondern danach auch noch geopfert worden waren. Dank des Blutes, das aus dem auf einem Kürbisbaum aufgespießten Kopf von Hun Hunahpú herausgetropft war, wurde eine zufällig vorbeikommende Unterweltgöttin schwanger und gebar die beiden Heldenzwillinge Hunahpú und Ixbalanqué. Diese stiegen als Rächer ebenfalls in die Unterwelt hinab, konnten die dortigen Götter mit mithilfe von Tricks und wiederholter Zyklen von Opferung und Wiedergeburt überlisten und ihren Vater und Onkel schließlich wiederbeleben. Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, wurden die Heldenzwillinge in Sonne und Mond verwandelt.
„Die Heldenbrüder und ihre Abenteuer sind in der klassischen Maya-Kunst allgegenwärtig. Und da unterirdische Strukturen als Eingänge zur Unterwelt angesehen werden, könnte die Beisetzung von Zwillingen und Paaren naher Verwandter im Chultún von Chichén Itzá an Rituale im Zusammenhang mit dem Mythos der Heldenbrüder erinnern“, so die Wissenschaftler.